Wo Buhrow mehr fehlt als Böhmermann

Jan Böhmermann hatte bei Deutschlands unter 50-Jährigen 30 Prozent Rekord-Marktanteil für eine Wutrede zum Zustand des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Ausgelöst vom ARD-Chef. Dem ORF fehlt solch ein Turbo für tabulosen Diskurs

von Medien & Menschen - Wo Buhrow mehr fehlt als Böhmermann © Bild: Gleissfoto

Erinnern Sie sich noch an Tom Buhrow? Er moderierte bis vor zehn Jahren die "Tagesthemen" der ARD. "Das Erste" aus Deutschland hatte im Oktober auch in Österreich den siebtgrößten Marktanteil aller TV-Programme - mehr als das heimische Puls 4. Buhrow, der sich anfangs noch mit Anne Will abgewechselt hatte, ist 2013 schlagartig von der hiesigen Bildfläche verschwunden. Die Ursache dafür war aber kein Rücktritt, sondern ein Karrieresprung. Nach 35 Jahren zuerst als Zeitungs-, dann als TV-Journalist wurde er Intendant des in Köln ansässigen WDR. Dieser stärkste von den neun regionalen Betreibern der Arbeitsgemeinschaft ARD hat 4.200 Mitarbeiter und macht 1,5 Milliarden Euro Umsatz. Das ist gleich hoch wie jener der viersprachig agierenden SRG mit ihren 5.000 Beschäftigten in der Schweiz. Auch Österreich hat zwar nur halb so viel Bevölkerung wie das WDR-Land Nordrhein-Westfalen, der ORF als Gesamtkonzern aber 4.000 Mitarbeiter und eine Milliarde Umsatz.

Diese Unternehmen sind also in mancher Hinsicht vergleichbar. Als Topverdiener der ARD-Chefs kommt Buhrow mit rund 400.000 Euro pro Jahr auf eine ähnliche Gehaltsgröße wie ORF-General Roland Weißmann. Doch der WDR-Intendant und Vorsitzende der ARD geht in Zukunftsüberlegungen viel weiter. Während der Ösi-Kollege schon für die Ankündigung der Online- Texthalbierung geprügelt wird, sagt der Deutsche, öffentlich-rechtlicher Rundfunk (ÖRR) sei, "so wie er jetzt ist, auf Dauer nicht überlebensfähig". Bei Reformüberlegungen dürfe auch die Zusammenlegung von ARD und ZDF kein Tabu sein. Das Echo im Blätterwald war gewaltig. Jan Böhmermann nahm schon zwei Abende später in seinem "ZDF Magazin Royale" den Ball auf: Er "ertrage diese Systemerhaltungsreflexe nicht mehr", der ÖRR sei "Scheiße", "ein verfilzter Selbstbedienungsladen" und brauche "eine Reform, damit er starkes und unabhängiges Instrument für Aufklärung und Machtkritik bleibt." Dabei holte er insbesondere gegen den etwas spät reformwilligen Buhrow aus, der immerhin neun Jahre im Amt ist.

Österreich, höre die Signale: Nach der Ablenkung durch die zurückgetretenen Chefredakteure und untauglichen Gesetzesvorlagen sprach auch hierzulande ein Haussatiriker Klartext: "Wer also von den ORF-Mitarbeitern etwas werden möchte, muss sich einer Partei andienen und hoffen, dass sie in die Regierung kommt oder an der Regierung bleibt", sagte Peter Klien in "Gute Nacht Österreich". Die Systemkritik von Journalisten im Haus und in der Öffentlichkeit ist ähnlich stark wie in Deutschland. Doch anders als der 64-jährige Buhrow hat der zehn Jahre jüngere Weißmann gerade erst die oberste Treppe der Karriereleiter erklommen. Er war auch kein Fernsehstar vor diesem Schritt. Weißmann ist ausschließlich wegen der parteipolitischen Vereinnahmung des ORF sein Generaldirektor geworden. Warum sollte einer jene Struktur bekämpfen, die ihn ermöglicht? Das gilt genauso für Lothar Lockl, den Vorsitzenden des Stiftungsrates. Er enttäuscht bisher die Hoffnung, seine unternehmerische Unabhängigkeit könnte in Paarung mit grünem Moralismus das Machtkalkül überwiegen.

Ohne mutigen Reformschub von der Spitze des Hauses werden beim ORF aber Besitzstandwahrung und Systemerhaltung letztlich die öffentliche Diskussion beherrschen. Das ist zwar nicht so gestrig wie die untauglichen Ansätze zur Rettung der "Wiener Zeitung", aber viel relevanter. Bei ihr heißt es "Rettet das Papier!", bei ihm "Rettet die blaue Seite!" und "Rettet FM4!". Dabei gibt es konsequent De-facto-Denkverbote in Richtung qualitative Verschlankung. Doch die Idee einer Reduktion herkömmlicher Kanäle gilt als existenzgefährdender Angriff statt als möglicher Befreiungsschlag, um endlich Neues zu schaffen. Wie zum Beispiel Funk, das bei jungen Menschen erfolgreiche Online-Content-Netzwerk von ARD und ZDF - die aber für seine Gründung jeweils einen linearen TV-Kanal schließen mussten. Für die 50plus-Führungskräfte des ORF bedeutet Zukunftsverantwortung immer noch mehr, manch sichere Fahrrinne zu verlassen, die sie bisher ans persönliche Ziel gebracht hat - um stattdessen in gefährliche Gewässer vorzudringen. Wenn alle leitenden Babyboomer des Hauses damit bis knapp vor ihrer Pension warten - wie Buhrow in WDR und ARD -, ist es für den ORF zu spät.