Lehrplan: Wie Jugendliche den Unterricht mitgestalten können

An den Berufsbildendenen Höheren Schulen (BHS) werden Schülerinnen und Schüler künftig die Lehrpläne mitgestalten. Bildungsminister Martin Polaschek, Rebekka Dober vom Verein YEP und Bundesschulsprecherin Flora Schmudermayer erklären, wie das genau funktionieren soll.

von Martin Polaschek, Flora Schmudermayer und Rebekka Dober © Bild: News/Ricardo Herrgott

Das Bildungsministerium will Schülerinnen und Schüler an der Gestaltung von Lehrplänen beteiligen. Wer genau soll mitmachen, und in welcher Form?
Martin Polaschek: Wir haben gerade die Lehrpläne für die Volksschulen und für die Sekundarstufen I neu erstellt. Was wir als Nächstes angehen, sind die Lehrpläne für die Berufsbildenden Höheren Schulen, also HAK, HTL und so weiter. Hier wollen wir zum ersten Mal von Anfang an aktiv Schülerinnen und Schüler aus diesen Schultypen miteinbeziehen. Bisher gab es nur die Möglichkeit, zu dem fertig erarbeiteten Lehrplan Stellung zu nehmen. Aber wir wollen das System umdrehen und als erstes die Meinung der Schülerinnen und Schüler hören.

Rebekka Dober
© News/Ricardo Herrgott Rebekka Dober

Frau Dober, Sie repräsentieren das Sozialunternehmen YEP, das für die Umsetzung dieses Prozesses zuständig ist. Wie soll er ablaufen?
Rebekka Dober: Das ganze Projekt heißt #DemokratieMacht-Schule. Dabei geht es darum, dass Schülerinnen und Schüler wieder lernen, wie sich Demokratie anfühlen sollte. Also Beteiligungskompetenz, inklusive Demokratiebildung. Dabei können alle jungen Menschen in Österreich zwischen 14 und 20 Jahren mitmachen. Jetzt geht es los mit den Lehrplänen der Berufsbildenden Höheren Schulen.

Wer darf da mitreden?
Rebekka Dober: Tatsächlich alle, die diesen Schultypus besuchen. Bei Demokratieevents in ganz Österreich können sich junge Menschen am Dialog beteiligen und mitbestimmen, wie die Lehrpläne der Zukunft aussehen sollen. Das ist der qualitative Teil der Studie. Die quantitativen Daten werden bei einer digitalen Umfrage erhoben, die sehr niedrigschwellig angelegt ist. Fragen von jungen Menschen für junge Menschen also.

Flora Schmudermayer
© News/Ricardo Herrgott Flora Schmudermayer

Frau Schmudermayer, wo sehen Sie als Bundesschulsprecherin besonderen Handlungsbedarf bei den Lehrplänen?
Flora Schmudermayer: Schule bildet im Endeffekt immer eine ganze Generation, und jede Generation hat bestimmte Themen, die sie besonders beschäftigen und wahrscheinlich auch in Zukunft noch beschäftigen werden. Bei meiner Generation sind das ganz klar die großen Themen Digitalisierung und Klimawandel. Aber auch Berufsbildung und Wirtschafts- und Finanzbildung sind wichtig. Denn Schule soll fürs Leben bilden. Was man aber auch dazu sagen muss, unsere Generation ist wahnsinnig divers und es gibt viele individuelle Nischeninteressen, die die Schule vielleicht auch anschneiden sollte.

Herr Minister, wie stark sollen die Schülerinnen und Schüler bei der Erstellung der Lehrpläne dann tatsächlich gehört werden?
Martin Polaschek: Das, was an Ergebnissen kommt, wird in die Erarbeitung der Lehrpläne Eingang finden. Wir werden für die jeweiligen Unterrichtsfächer eigene Gruppen einsetzen, die die Lehrpläne ausarbeiten. Die Vorschläge der Schülerinnen und Schüler werden in diese Diskussionen einfließen. Die Vorschläge der Schülerinnen und Schüler werden gleich behandelt wie die Vorschläge der anderen Expertinnen und Experten, die in dieser Gruppe sitzen.

Martin Polaschek
© News/Ricardo Herrgott Martin Polaschek

Es könnte theoretisch auch passieren, dass die Vorschläge der jungen Leute gar keinen Niederschlag finden?
Martin Polaschek: Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin mir sicher, dass sehr gute Vorschläge für Verbesserungen kommen. Wir werden uns seriös und ernsthaft mit diesen Ideen und Rückmeldungen auseinandersetzen.

»Wir Schülerinnen und Schüler werden aufgrund unseres Alters oft unterschätzt«

Flora Schmudermayer: Wir Schülerinnen und Schüler werden wegen unseres geringen Alters oft unterschätzt. Ich glaube, dass dieser Beteiligungsprozess genau das Gegenteil aufzeigen wird, nämlich, dass wir gute, durchdachte und sinnvolle Ideen haben. Und ich bin mir sicher, dass man unsere Handschrift am Ende deutlich erkennen wird.

Rebekka Dober: Es gibt eine Wirkungsvereinbarung, die unterschrieben wurde. Zum einen gibt es den bereits erwähnten Jugendbericht, der den Lehrplangruppen vorgelegt wird, sie beginnen ihre Arbeit auch erst nach Vorliegen dieses Berichts. Zweiter Schritt ist ein Jugend-Sounding-Board, das diesen Prozess begleitet. Der dritte Schritt ist ein Resonanzbericht, der wieder an die Jugendlichen zurückgespielt wird. Wir wissen also, dass das Projekt eine Wirkung finden wird. Natürlich kann nicht jeder Punkt, der vorgeschlagen wird, berücksichtigt werden. Demokratie bedeutet ja nicht, dass die Jugend ansagt, sondern dass alle gemeinsam eine Stimme finden.

Welche Art von Änderungsvorschlägen erwarten Sie sich von den Jugendlichen? Geht es dabei nur um Themen, die derzeit im Unterricht fehlen, oder auch um Grundsätzlicheres?
Martin Polaschek: Die Lehrpläne sind in erster Linie auf Inhalte ausgerichtet. Wir sind aber natürlich auch darüber hinaus an Vorschlägen und Ideen der Schülerinnen und Schüler interessiert. Wir wollen ja, dass sich Schule laufend verbessert und noch moderner wird. Die Schule des 21. Jahrhunderts muss verstärkt auf die Interessen und Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen Rücksicht nehmen, weil die sich auch immer mehr unterscheiden. Es gibt nicht die eine, klar überschaubare Gruppe von jungen Menschen, die ein Interesse teilt. Entsprechend neugierig sind wir auf die Rückmeldungen.

Rebekka Dober: Man muss vielleicht noch darauf hinweisen, dass es sich um einen historischen Moment handelt. Das hat es weder in Österreich noch in Europa bisher gegeben, dass Schülerinnen und Schüler in die Lehrplangestaltung einbezogen werden.

Es gibt also keine internationalen Vorbilder, ob und wie gut so ein Prozess funktioniert?
Rebekka Dober: Nein. Aber unsere Organisation hat schon 200 solcher Prozesse mit namhaften Partnern umgesetzt. Denn Jugendbeteiligung soll Widerhall finden. Es ist wichtig, dass die nächste Generation bei den Entscheidungen, die sie betrifft, auch mitentscheiden kann. Und zwar nicht nur, weil Demokratiebildung wichtig ist, sondern weil junge Menschen die Expertinnen und Experten ihrer Lebensrealität sind.

Flora Schmudermayer: Ich finde im Bildungssystem ist es immer wichtig, ein bisschen mutig zu sein. Ich als Interessenvertretung kann auch nicht sagen, ich weiß zu 100 Prozent, was bei der Studie herauskommt. Ich bin selber sehr gespannt. Ein Schritt ins Unbekannte ist aber manchmal wichtig. Vor allem im Bildungsbereich.

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Frau Schmudermayer, wie groß ist generell die Lust der jungen Leute, mitzureden?
Flora Schmudermayer: Mir wird oft eine sehr ähnliche Frage gestellt, nämlich ob sich junge Leute für Politik interessieren. Und ich sage immer: Ja, wieso nicht? Denn jeden und jede interessiert das direkte Umfeld, in dem man sich jeden Tag bewegt. Und das ist nun mal die Schule, und das sind auch die Lehrpläne. Das ist immer interessant für Kinder und Jugendliche. Es sind die großen Begriffe -Politik, Demokratie etc. -, an die sich manche nicht herantrauen. Insofern ist es wichtig, niederschwellig zu arbeiten. Die großen Begriffe sind manchmal hemmend.

Im konkreten Fall geht es darum, dass sich Schülerinnen und Schüler in die Lehrplangestaltung einbringen. Gibt es andere Bereiche, wo sie sich mehr Mitsprache in der Schule wünschen?
Flora Schmudermayer: Ich glaube, dass wir unser Schulessen zum Beispiel gut mitgestalten könnten. Das könnte man auch gut in den Unterricht eingliedern. Da wird dir oft einfach etwas vorgesetzt. Aber Schülerinnen und Schüler wünschen sich vielleicht gesünderes Essen, und das gerne mit Projekten verbunden.

Herr Minister, können Sie sich andere Bereiche vorstellen, in denen Schülerinnen und Schüler mehr Mitsprache haben sollen?
Martin Polaschek: Über die Schulgemeinschaftsausschüsse haben wir wesentliche Elemente der repräsentativen Demokratie in den Schulen verankert. Generell ist es wichtig, die Meinung der jungen Menschen ernst zu nehmen. Das geschieht schon in vielen Bereichen und setzt sich jetzt mit der aktiven Mitgestaltung der Lehrpläne fort.

Wie sieht der konkrete Zeitplan für das Projekt aus?
Rebekka Dober: Mit der öffentlichen Verkündung startet das Projekt offiziell. Es ist aber schon eineinhalb Jahre vorgearbeitet worden, damit das wirklich Hand und Fuß hat. Ab jetzt können sich alle Schülerinnen und Schüler sowie alle Lehrerinnen und Lehrer auf www.demokratiemachtschule.at für den Prozess anmelden. Die ersten Ergebnisse erwarten wir im Juni. Der gesamte Prozess geht über zwei Jahre.

Martin Polaschek: Geplant ist, dass die Lehrpläne für den HAK-Bereich 2024/25 in Kraft treten. 2025/26 werden dann die HTL folgen. Die Lehrplan- Kommissionen werden sich von Anfang an mit den Ergebnissen der Jugendbefragung auseinandersetzen.

»Ich glaube, dass sehr viele junge Menschen den Glauben an die Demokratie verloren haben«

Wie bemisst sich für Sie der Erfolg dieses Projekts?
Martin Polaschek: Es wäre schön, wenn sich möglichst viele junge Menschen beteiligen und inhaltlich viele neue Vorschläge kommen, die zu einer Verbesserung beitragen. Aber ich möchte keine Erwartungshaltungen in den Raum stellen, es soll ja kein Druck aufgebaut werden. Wir wollen die jungen Menschen einfach dazu ermutigen, sich einzubringen.

Rebekka Dober: Wie wissen, dass wir erfolgreich sind, wenn möglichst viele Menschen merken, dass ihre Stimme zählt und dass sie etwas verändern können. Ich muss schon sagen, ich glaube, dass sehr viele junge Menschen den Glauben an die Demokratie verloren haben. Wenn sie aber merken, dass sie sich einmischen und mitreden können, entsteht Selbstwirksamkeit. Und diesen Moment wollen wir erzeugen. Dass junge Menschen wieder spüren können, ja, meine Stimme zählt.

Es muss aber auch etwas Sichtbares passieren, damit die Jugendlichen sich erstgenommen fühlen, oder?
Rebekka Dober: Ein ganz wichtiger Punkt ist Wirkungskommunikation. Dass also nicht nur Partizipation passiert, sondern dass diese Wirkung auch wieder zurückgespielt wird Darum gibt es diese Kampagne "Demokratie macht Schule", die nicht nur aktivieren soll, sondern auch zurückspielt, was konkret passiert ist.

Kann man das in Prozent messen? Wie stark müssen sich ihre Vorschläge im Lehrplan niederschlagen, damit Jugendliche das Gefühl haben, sie wurden ernstgenommen?
Rebekka Dober: Ich glaube, wenn man es in Prozent messen will, hätte man das Projekt nicht ganz verstanden. Es geht sehr stark um individuelle Erfahrungen und Selbstwirksamkeitsmomente.

Es geht also gar nicht darum, was am Schluss im Lehrplan steht?
Rebekka Dober: Doch, auf jeden Fall. Aber diese Selbstwirksamkeitsmomente sind weitaus wichtiger als wie viel Prozent der Vorschläge am Ende drinnen steht. Es geht darum, ob junge Menschen ernst genommen werden. Es steht ja auch vieles in den Lehrplänen, was nicht in der Expertise von Jugendlichen liegt. Aber in Fragen ihrer Lebensrealität sind sie sehr kompetent: Wie lerne ich am besten? Was möchte ich lernen? Was begeistert mich? Was brauche ich, damit ich mich vorbereitet fühle auf die Zukunft?

»Wir müssen die Lehrpläne künftig öfter an den Bedarf unserer Zeit«

Herr Minister, können Sie sich vorstellen, dieses Projekt auch auf andere Schultypen auszuweiten?
Martin Polaschek: Wir werden sicherlich aus dem Pilotprojekt lernen und die Erfahrungen daraus in die weiteren Arbeiten an den anderen Lehrplänen einfließen lassen. Für mich ist klar, dass wir die Lehrpläne künftig öfter an den Bedarf unserer Zeit anpassen müssen. Dabei werden wir die Anliegen, Ideen und Vorschläge der Schülerinnen und Schüler selbstverständlich ernst nehmen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 07/2023 erschienen.