Karl Kraus: Der Meister des Jüngsten Tages

Zum 150. Geburtstag am 28. April scheint Karl Kraus ein Fremdling geworden zu sein. Sein bedingungsloser Pazifismus nimmt sich wie eine weltferne Utopie aus, die Sprache, die er zur Instanz des Handelns erhoben hatte, ist unter dem Diktat der sozialen Medien ins Bodenlose verkommen, seine Irrtümer und Ungerechtigkeiten werden von der #Metoo-Germanistik nicht toleriert. Dennoch war er der Größte

von Karl Kraus: Der Meister des Jüngsten Tages © Bild: IMAGO/Heritage Images

Dass ihm auf der letzten Etappe zur Gottwerdung die Verhältnisse noch derart um die Ohren fliegen könnten: Wer hätte sich das vorstellen können im Umgang mit Karl Kraus (1874–1936), der im intellektuellen Gesamtbefund Österreichs tiefere Spuren hinterlassen hat als irgendein Schriftsteller, irgendein Journalist vor oder nach ihm? Klar, man konnte, musste ihm in Details widersprechen. Aber selbst seine Ungerechtigkeiten, selbst die Maßlosigkeit seiner Verurteilungen hatten etwas Göttliches. Und wer hätte ihm bis vor kurzer Zeit im Kern nicht Recht geben wollen?

Krieg ist die Pest und Friede die Erfordernis allen politischen Handelns. So lautet die Prämisse des bedeutendsten pazifistischen Textes der jüngeren Literaturgeschichte. Die tragische Groteske „Die letzten Tage der Menschheit“ (1915 bis 1922), vom Verfasser aufgrund ihrer Dimensionen einem Marstheater zugeordnet, dokumentiert mehrheitlich die Bestialisierung des Hinterlands im Ersten Weltkrieg. Nicht etwa die Hölle der Front, die Erich Maria Remarque mit glühenden Pinselschlägen und Ernst Jünger mit verstörender Sachlichkeit ausmalten. Sondern den Niedergang aller zivilisatorischen Gewissheiten unter dem Einfluss der Propaganda.

Krieg ist die Pest

Kraus, der wegen seiner schwächlichen Konstitution glaubhaft untauglich geschrieben war, sammelte mit methodischer Besessenheit: 220 Szenen unterschiedlicher Länge, mehrheitlich erlauscht und aus Zeitungen ausgeschnitten, verbunden durch die kommentierenden Dialoge des Optimisten und des Nörglers, in dem sich Kraus selbst porträtierte. Wenn Dichter und Schieber, Pülcher und Erzherzöge, Journalisten und ihre Abonnenten gemeinsam das Menschsein aufgeben: so bleibt Gott am Ende des Epilogs nur ein letztes Wort der Resignation. „Der Sturm gelang. Die Nacht war wild. Zerstört ist Gottes Ebenbild“, erstattet die „Stimme von oben“ die Vollzugsmeldung. Und nach einem großen Schweigen spricht die Stimme des Herrn: „Ich habe es nicht gewollt.“

Das letzte Wort hat Gott, das erste ein Zeitungsausrufer auf dem Ring: „Extraausgabee –! Ermordung des Thronfolgers! Da Täta verhaftet!“ Und ein Passant raunt seiner Frau zu: „Gottlob kein Jud.“

Und heute? Ist die kesse Kriegsdiplomatie der deutschen Außenministerin die einzig zugelassene Position, wenn man mit dem Ansinnen, Verhandlungen auf beiden Seiten des Ukraine-Kriegs zu erzwingen, nicht in kriminelle Nachbarschaft gerückt werden will.

Die Sprache als Instanz

Der Zustand einer Gesellschaft lässt sich vom Zustand ihrer Sprache hochrechnen. An dieser zweiten fundamentalen Forderung der Instanz Karl Kraus haben sich hoffnungslos ganze Journalistengenerationen abgearbeitet. Und heute? Darf jeder Trottel, dem das Verhängnis Zugang zu einem Endgerät gewährt hat, für ein Millionenpublikum publizieren. Die Sprache war für Karl Kraus alles, Goethe, Shakespeare, Nestroy erließen die Gesetze. Aber deren Kenntnis ist heute nicht einmal mehr Voraussetzung für den Erwerb der Hochschulreife. Die gymnasialen Prioritäten richten sich dafür auf das Verfassen von Bewerbungsschreiben und das Analysieren von Leitartikeln, die Kraus mehr als alles andere gehasst hat: Bevor am Schluss der „Letzten Tage“ die Welt verglüht, wird noch der mitverursachende „Antichrist“ namhaft gemacht, der Teufel in Person. Moriz Benedikt ist das, Chefredakteur und Leitartikler der „Neuen Freien Presse“.

»Am Ende verbat er sich Inserate, sogar Leserbriefe. Selbst seine Bewunderer hatten vor ihm Angst«

Mit dieser Radikalität erkämpfte sich Kraus das Privileg vollkommener Isolation. Wohlhabender böhmisch-deutsch-jüdischer Fabrikantenfamilie entstammend, wuchs er in Wien auf und gründete 1899, im Alter von 25 Jahren, seine eigene kulturpolitische Zeitschrift, „Die Fackel“. In ihr ist sein Gesamtwerk publiziert, auch die „Letzten Tage“ sind hier erschienen. Finanziell so weit unabhängig, war er Eigentümer, Herausgeber und nach kurzer Zeit Alleinbeiträger. Am Ende verbat er sich Inserate und sogar Leserbriefe. Selbst seine Bewunderer fürchteten sich vor ihm, denn seine Zuwendung konnte aus nichtigem Anlass in Verachtung umschlagen. In den Zwanzigerjahren wuchs sein Einfluss derart, dass er mit Kritiken, Polemiken und Glossen Existenzen vernichten konnte.

Politisch hatte er sich unter dem Einfluss des Krieges zur liberalen Linken gewendet. Aber niemand durfte sich vor ihm sicher fühlen. Er war maßlos auch in seiner Ungerechtigkeit, und es zerriss ihn zeitlebens zwischen den Identitäten. Er war der größte Journalist in der Geschichte Österreichs und hasste nichts so sehr wie den Journalismus. Über seinen wutglühenden Auseinandersetzungen mit der „Neuen Freien Presse“ übersah er beinahe das Aufkommen der Nazis. Als Hitler 1933 in Deutschland die Macht übernahm, veröffentlichte Kraus, der auch ein eminenter Lyriker war, in der dünnsten Ausgabe seit Gründung der „Fackel“ nur ein überwältigendes Gedicht von zehn Zeilen:

Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm;
und sage nicht, warum.
Und Stille gibt es, da die Erde krachte.
Kein Wort, das traf;
man spricht nur aus dem Schlaf.
Und träumt von einer Sonne, welche lachte.
Es geht vorbei;
nachher war’s einerlei.
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.

Zur nämlichen Zeit aber schrieb er den fundamentalen Essay „Dritte Walpurgisnacht“ im Umfang eines schmalen Buches – mit der oft missverstandenen Beginnzeile „Mir fällt zu Hitler nichts ein“. Der Text blieb unter Verschluss und wurde erst 1952 veröffentlicht.

© Imagno/Wiener Stadt- und Landesbibliothek DER ORT DER RUHE. Kraus im Park von Schloss Janowitz, dem Wohnsitz von Sidonie Nadherny, eine Fotografie aus dem Jahr 1933. Hier konnte er sich vom Übermaß seiner Kämpfe erholen. Dem kleinen Hund auf dem Bild schrieb er später einen ans Herz rührenden Nachruf

Der jüdische Antisemit

Da war Kraus seit 16 Jahren tot – er starb 1936 – und hatte nicht mehr erleben müssen, wie sich seine dritte Obsession in mörderische Realität verwandelte: Denn Kraus war, kein Einzelfall, Jude und Antisemit. Er hasste seine Herkunft und verabscheute den Zionismus. Er konvertierte zum Katholizismus (um ihn bald wieder zu verlassen) und attackierte mit irrationaler Abneigung den größten aller jüdischen Dichter, Heinrich Heine. In der Beantwortung eines Leserbriefs erklärte er sich zur leuchtenden Instanz des Antisemitismus, Galaxien über den grölenden Kreaturen, die ihre Häupter schon erhoben hatten. Aber er förderte die jüdische Lyrikerin Else Lasker-Schüler, so wütend er auch über die jüdischen Zeitgenossen Hermann Bahr, Felix Salten, Albert Ehrenstein, Franz Werfel und Hugo von Hofmannsthal herfiel, weil sie den Literaturbetrieb verkörperten.

Diese aus der Zeit erklärbare Position mit der derzeit aktuellen Realität rechter, linker oder immigrierter Dumpfnazis zu verwechseln, wäre grob unstatthaft. Nicht Antisemitismus, sondern Antizionismus sei bei Kraus zu diagnostizieren, will die Sprachsoziologin Ruth Wodak differenziert wissen: Das jüdische Bürgertum hatte sich endlich emanzipiert, hatte, wie Benedikt und Kraus selbst, sogar Meinungshoheit an sich gezogen. Und gerade da sollte man nach dem Konzept des Publizisten Theodor Herzl die Flucht nach Palästina antreten?

Das Phänomen Karl Kraus blieb jedenfalls unergründlich, und das Recht auf Irrtum schöpfte er bis zur Neige aus. Ein Todesurteil heutzutage, da sich die Sprache in den sozialen Medien auf den Austausch primitiver Gut-böse-Befunde reduziert. Elfriede Jelinek beklagt das im untenstehenden Kommentar: Welchen Platz soll Kraus einnehmen, wenn einander das Unvermögen, Doppelsinn zu artikulieren, und das Unvermögen, Doppelsinn zu identifizieren, in der Hilflosigkeitsbekundung „Ironie off“ begegnen?

Elfriede Jelinek:

»Die Sprache kann alles, wie Gott«

Ich bin wirklich keine Karl-Kraus-Expertin, die kultische Verehrung, die er bei vielen, auch großen Journalisten (Gremliza! Hermann L. Gremliza, Herausgeber der Zeitschrift „konkret“, Anm.) genossen hat und genießt, hat mich oft abgestoßen, als ein Akt der Fetischisierung. Aber natürlich war er der große Meister der Sprache, mittels Ironie und Sarkasmus, die viele ja gar nicht verstehen.

Für die hat, was Karl Kraus sagt, buchstäblich keinen Sinn. Es ist ja seltsam: Das ist wie ein Sinnesorgan, das ihnen fehlt, dieser Sinn für diese Beugung der Wirklichkeit, die erst die Klarheit eines Tatbestands herbeiführt. (Eine Tat, die, allein durch sprachliche Schlamperei oder gezielte Gemeinheit, wie manche Beleidigungen es können, bestehen bleibt und einen so ärgert, daß man sie unbedingt zurechtrücken muß und sie damit letztlich auch wieder verewigt. Also eigentlich als Verlogenheit, mit der sich die böse Tat selbst wider Willen entlarven und damit ungeschehen machen will, aber nicht kann, da hilft Karl Kraus dann nach.)

Durch Karl Kraus bleiben die Dinge, die er entlarvt, quasi ewig so stehen, gerade indem er sie entfernen bzw. richtigstellen will. Er konnte nicht anders. Aber die Sprache kann alles, wie Gott, sich durch sich selbst erklären, auch ihre Abgründe der Infamie, die manche produzieren, heute sogar noch schamloser als damals. Die Sprache könnte auch anders, aber sie kann halt oft nicht anders. Und oft kann sie gar nichts, und das ist auch so gewollt. Wer sie schändet, der schändet die Welt, die ja aus Sprache besteht. Und statt etwas zu sagen, hätten die Ziele der Krausschen Spottlust besser nichts gesagt, geschwiegen, was ihm aber auch nicht gefallen hätte, denn dann hätte er auch nichts dazu sagen können. Aber er hat auch sehr viel anderes gesagt, das uns bleibt, wenn uns schon nichts andres übrigbleibt, als Blödsinn zu reden.

Shitstorm-Germanistik

Folgerichtig ist Kraus zuletzt auch in den Einflussbereich der Hashtag- und Shitstorm-Germanistik geraten, exemplarisch im Fall der Wiener Journalistin Alice -Schalek (1874–1956). Sie steht in den „Letzten Tagen der Menschheit“, überlebensgroß in ihrer Scheußlichkeit, für die Emanzipation der Entmenschung. Die einzige vom Kriegspressequartier zugelassene Frontberichterstatterin hat geliefert, und wie: „Wir putzten sie einzeln weg wie auf der Hasenjagd. Auf die Dauer fanden sie die Kopfschüsse recht belästigend.“ Oder lieber das? „Nennt es Vaterlandsliebe, ihr Idealisten; Feindeshaß, ihr Nationalen; nennt es Sport, ihr Modernen; Abenteuer, ihr Romantiker; nennt es Wonne der Kraft, ihr Seelenkenner; ich nenne es frei gewordenes Menschentum.“ Das genügte für einen Ehrenplatz in der Schausammlung des ewigen Abnormitätenkabinetts.

Bis vor einigen Jahren die Schalek-Rehabilitationsbewegung einsetzte: Sich unter den hässlichsten Hetzern behauptet zu haben, müsse schließlich auch als feministische Errungenschaft gewürdigt werden.

Zum Wiegenfest wird der Jubilar nun in einer anderen Causa bedrängt: Im Fokus steht seine um 1905 begonnene sexuelle Beziehung zur 14-jährigen Wiener Hausmeistertochter Irma Karczewska. Maximal in Klammern wird dabei erwähnt, dass Mädchen damals, einer fatalen Gesetzeslage folgend, mit Erreichung des 14. Lebensjahrs heiratsfähig waren. Kraus hatte, ein Ereignis von literaturgeschichtlicher Dimension, die Uraufführung von Frank Wedekinds „Erdgeist“ in privatem Wiener Rahmen ermöglicht und das junge Mädchen in die Rolle des Liftjungen Bob protegiert. Die Beklagenswerte ging dann, wie das damals zynisch benannt wurde, durch mehrere prominente Hände, wurde von Kraus zur Alleinerbin eingesetzt, enterbt und dennoch weiter unterstützt und beging nach zwei gescheiterten Ehen im Alter von 20 Jahren Suizid. Kraus hatte sich also im Rahmen der obwaltenden Verhältnisse noch wie ein Gentleman verhalten.

© Wien Museum / Ullstein Bild / picturedesk.com SIDONIE VON NADHERNY. Die tschechische Aristokratin war der vielleicht einzige Mensch, dem sich Kraus anvertraute. Die eheliche Verbindung hintertrieb Rainer Maria Rilke mit antisemitischen Instrumentarien
© Krziwanek, Rudolf / ÖNB-Bildarchiv / picturedesk.com ANNIE KALMAR. Die Schauspielerin wurde in der Anfangszeit der „Fackel“ Kraus’ Geliebte. Sie starb 1901 mit 24 Jahren an Krebs. Kraus setzte ihr noch 30 Jahre nach ihrem Tod ein literarisches Denkmal

Aber wo bei dieser Geschichte Anfang und Ende finden, wo doch kürzlich das Geniewerk „Erdgeist“ (unter dem geläufigen Titel „Lulu“) in den Wiener Kammerspielen dramaturgisch niederdilettiert wurde, weil das „Frauenbild“ nicht mehr passt?

Insgesamt ist Kraus’ privaten Verhältnissen mit Kuchlsoziologie nicht beizukommen. Er hing als junger Mann dem Frauenhasser Otto Weininger an und kämpfte doch unter Einsatz enormer Mittel bis zur Verzweiflung um das Leben der sterbenden jungen Schauspielerin Annie Kalmar, die er noch Jahre nach ihrem Tod bis zur Ikonisierung idealisierte. Gab es für ihn je einen Lebensmenschen, so war das die tschechische Aristokratin Sidonie von Nadherny, auf deren Schloss Janowitz er von seinen Lebenskämpfen ausruhte. Die sich abzeichnende eheliche Verbindung wurde vom Kollegen Rainer Maria Rilke mit hässlichen antisemitischen Instrumentarien durchkreuzt. Sidonie von Nadhernys Vertreibungsgeschichte, erst durch die Nazis, die das Schloss zum Truppenübungsplatz umwidmeten, und dann durch die Stalinisten ist ein eigenes, hoch emotionales Kapitel.

Köhlmeier: „Ich mag ihn nicht“

Was hat es nun aus der Sicht heutiger Kollegen mit dem nicht zuordenbaren Genius auf sich? „Es genügt nicht, Karl Kraus heute betulich zu loben, ohne die Medienpolitik zu kritisieren, die genau jene Verlottertheit fördert, die Karl Kraus bekämpft hat“, merkt Robert Menasse an. „Ich mag ihn nicht“, übermittelt dagegen lapidar Michael Köhlmeier. „Er war ein Hysteriker, und was soll man von einem Menschen halten, der sich allein eine ganze Zeitung hält, weil er glaubt, im Besitz der Wahrheit zu sein? Seine berühmten Aphorismen sind klug, aber laborieren am Pointenstress.“ Dem Befund will sich Ehefrau Monika Helfer umstandslos anschließen. „Wenn man Heine liebt, kann man Karl Kraus nicht mögen.“

Dann also der Essayist und Philosoph Franz Schuh, der Kraus schätzt? Er könne die Ablehnung durch viele Schriftsteller verstehen: Der Literaturbetrieb, den Kraus pauschal verurteilte, sei schließlich Voraussetzung für die Verbreitung der hergestellten Ware. Und dann das vielgerühmte Gedicht, als Hitler die Macht ergriffen hatte: „Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.“ Nicht nur Resignation sei das, sondern die Beglaubigung des Hegel’schen Wortes vom Ende der Kunst, das man als Schriftsteller nur zurückweisen könne. So wie auch Kraus’ Angriffe auf Heine, die sogar argumentierbar wären. Aber nicht in solch diktatorischem Machtreflex, der noch dazu aus dem Antisemitismus resultiere. Und dann das Dilemma per se: Kraus sei einer der allergrößten Polemiker gewesen. Aber die Gattung sei dauerhaft beschädigt, seit sich in ihr über die sozialen Medien jeder Idiot betätigen könne.

Aber einen gibt es, dessen Zuwendung keine Einschränkung duldet. „Er ist der Herrgott der österreichischen Journalistik“, sagt der Schauspieler, Regisseur und Impresario Paulus Manker, um in geläufiger Drastik fortzufahren: „Er sollte in seiner Unbestechlichkeit, seiner Moral, seinem apodiktischen Könnertum ein Beispiel für die Branche sein, was er leider nicht ist, weil sie degeneriert und heruntergekommen ist.“

Manker darf das sagen, weil ihm Einzigartiges gelungen ist: Selbst namhafte Theaterleute, die sich an die „Letzten Tage der Menschheit“ wagten, hatten sich am Unternehmen überhoben. Wo auch mit dem Kürzen beginnen bei einem Text, der in der Gesamteinspielung des ORF 23 CDs einnimmt? Es blieben realkabarettistische Allerweltspotpourris, in denen die Dimension des Werks nicht einmal erahnbar war.

© Copyright 2020 Matt Observe - all rights reserved. News Matt Observe IM JUBILÄUMSJAHR ABGESETZT? 2018 gelang Paulus Manker die Achtstundenfassung der „Letzten Tage“. Die Wiederaufnahme steht in Frage – ein Spielort wird gesucht

Da errichtete Manker 2018 in Wiener Neustadt ein Stationendrama von acht Stunden Dauer, bespielte ein riesiges Areal und schuf ein Stück Aufführungsgeschichte, das Jahr für Jahr auflebte, bis die Spielserie auf dem Semmering zuletzt in tumultuösen Zerwürfnissen endete.

Deshalb wird man im Jubiläumsjahr auf das Ereignis womöglich verzichten müssen. Die Suche nach einem Spielort gestalte sich kompliziert, sagt Manker. Dabei ist das einschlägige Angebot bescheiden: eine Ausstellung in der Wien-Bibliothek, ein von Erwin Steinhauer bestrittener Leseabend bei den Salzburger Festspielen und eine mehrteilige Lesereihe bei den Wiener Festwochen, mehr wäre da herzlich willkommen.

Aber ein Buch zu den „Letzten Tagen“ wird es geben, und was für eines: Auf 800 Seiten, 400 Zitate und 1.600 Abbildungen stark, wird jede der 220 Szenen aufgeschlüsselt und kommentiert. Der Verlag sei schon gefunden, im September werde man in den Druck gehen, sagt der Herausgeber.

Wer das ist? Paulus Manker, der das Kraus-Jahr damit quasi allein bestreitet.

Werke

© Austrian Archives / brandstaetter images / picturedesk.com

Die Fackel
Die Zeitschrift, in der Kraus sein gesamtes Werk veröffentlichte. Antiquarisch ist noch die zwölfbändige Faksimile-Ausgabe aus dem Zweitausendeins-Verlag verfügbar. Ein kulturhistorisches Leuchtturmwerk ist die komplette Digitalausgabe der Akademie der Wissenschaften: www.oeaw.ac.at/acdh/ace/projekte/karl-kraus-die-fackel

Die letzten Tage der Menschheit
Der komplette Text des Kraus’schen „Marstheaters“ als Band zehn der Gesamtausgabe bei Suhrkamp. Achtung! Vieles aus seinem Werk finden Sie unentgeltlich unter www.projekt-gutenberg.org
Suhrkamp, € 22,–

Gedichte
Band neun der Suhrkamp-Ausgabe, die im Wesentlichen Kompilationen aus der „Fackel“ enthält. Kraus ist hier auch als verinnerlichter Schönheitssucher zu entdecken.
Suhrkamp, € 25,50

Aphorismen
Der achte Band der Gesamtausgabe u. a. mit dem Teil „Sprüche und Widersprüche“. Kraus selbst hat sie gesammelt. Notabene: Der Satz mit den Schatten der Zwerge ist nicht von ihm!
Suhrkamp, € 25,50

Dritte Walpurgisnacht
Der fundamentale Text zur Machtergreifung Hitlers blieb trotz aller Aufforderungen, Stellung zu nehmen, unter Verschluss. Er erschien erst 16 Jahre posthum.
Suhrkamp, € 24,50

Weltgericht I und II
Parallel zu den „Letzten Tagen“ veröffentlichte Kraus auch zwei Bände seiner Kriegsaufsätze mit einigen seiner schärfsten Satiren und dem finalen Abgesang auf die Monarchie.
Suhrkamp, € 17,– bzw. 24,50

Theater

© Jan Frankl

Salzburger Festspiele: Steinhauers „Letzte Tage“
Erwin Steinhauer ruft den Endzeitkosmos der Kraus’schen Kreaturen auf. Eine Kammermusikformation ergänzt.
4. August, 15 Uhr, Haus für Mozart
www.salzburgerfestspiele.at


Wiener Festwochen: Kraus Lectures
Die fünfteilige Lesereihe führt durch das Werk des Jubilars, rekonstruiert auch eine seiner Offenbach-Rezitationen, u. a. mit Clemens J. Setz, Cornelius Obonya, Florian Scheuba und Barbara Zeman.
www.festwochen.at/kraus-lectures

Ausstellung

© Wiener Stadt und Landesbibliothek

Wien-Bibliothek: „Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben“
Hier rückt Kraus’ großbürgerlich-jüdische Familie in den Fokus der Aufmerksamkeit.
Ab 26. April im Wiener Rathaus


Schönberg-Center: Schönberg und Kraus
Zwei Schlüsselgestalten der Moderne werden in Verbindung gesetzt.
Bis 10. Mai, Wien 1, Schwarzenbergplatz 6

Biografien

© beigestellt

Hans Weigel: Karl Kraus oder Die Macht der Ohnmacht
Unübertroffen als kritische Verfallenheitsbekundung eines Augenzeugen.
Antiquarisch verfügbar z. B. über booklooker.de


© beigestellt

Paul Schick: K. K. mit selbstzeugnissen und Bildern
Auch die verlässliche rororo-Monographie ist nur noch antiquarisch erhältlich,
siehe oben



© beigestellt

Jens Malte Fischer: Karl Kraus, der Widersprecher
Das umfassende, empfehlenswertes Opus magnum eines leidenschaftlichen Kenners.
dtv, € 25,95

Tonaufnahmen

Kraus liest Goethe, Shakespeare, Offenbach, Raimund
Zeitlebens von der Sehnsucht nach der Bühne getrieben, rezitiert er mit rasender Emphase. Haarsträubend unvergesslich.
www.youtube.com/playlist?list=OLAK5uy_ kNZQDX5CdSQ68E28gW7pMbNiVqDcuExSQ

Qualtinger liest Kraus
Einzigartig, unübertroffen: die „Letzten Tage“ mit 100 Stimmen.
www.youtube.com/watch?v=dA5yhF_Dwio

„Die letzten Tage der Menschheit“ komplett
Die Hörspielfassung des ORF aus dem Jahr 1974 auf 23 CDs mit der Elite österreichischer Schauspielkunst.
shop.orf.at/de/alle-orf-artikel/oe1/56/die-letzten-tage-der-menschheit

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 16/2024 erschienen.