Elfriede Jelinek: Die Weltliteratin

Vor 18 Jahren von Kretins aller Fachrichtungen für den Nobelpreis beflegelt, ist Elfriede Jelinek heute die einflussreichste Persönlichkeit des deutschsprachigen Theaters. In persönlich harter Zeit rückt sie mit einer Filmbiografie und einem beispiellosen Stück autobiografischer Prosa ins Zentrum der Aufmerksamkeit.

von Elfriede Jelinek © Bild: imago images/Everett Collection

Von einem Augenblick auf den anderen ist die Homepage www.elfriedejelinek.com, ein pulsierendes, irritierendes, ständig wachsendes Stück Weltliteratur, in der Bewegung erstarrt. Ein finaler Dank an ihren Konstrukteur, Betreiber und Inspirator wird noch zu entrichten sein. Dann bleibt die Seite, die für Leser, Forscher und Kritiker ein Quell authentischer Information, Diskussion und Animation war, als abgeschlossenes Kapitel Literaturgeschichte im Netz stehen. Die beinahe letzten Adressaten waren der im Namen Allahs fast zu Tode gebrachte Salman Rushdie und die mit Propagandalügen niederkartätschte russische Bevölkerung. Und der letzte wird der Musiker und Informatiker Gottfried Hüngsberg sein, Elfriede Jelineks Ehemann seit 1974, der am 2. September den Sekundentod gestorben ist.

Und was für ein Projekt man da gemeinsam auf die Welt gebracht hat! Seit dem Nobelpreis vor 18 Jahren hat Elfriede Jelinek einzig ihre Theatertexte in gedruckter Form veröffentlicht. Das Verbleibende den Rest zu nennen, wäre kühn. Denn digital und gebührenfrei zur allgemeinen Verfügung gestellt wurde unter anderem der Roman "Neid".

Halbes Leben in Abwicklung

Jetzt steht elfriedejelinek.com für das halbe Leben, das sich gerade in Auflösung und Abwicklung befindet. Wie die griechische Göttin Persephone, die ein halbes Jahr im Lichtland des Olymp und die andere Hälfte in der Finsternis des Totenreichs zubrachte, hatte sie ihr Leben geteilt: zwischen der schöpferischen Einsamkeit des Elternhauses an der Hütteldorfer Peripherie und der ehelichen Wohnung in München, die jetzt aufgegeben wird. Aber ob München der Olymp oder der Hades war, und was es in dieser Hinsicht mit Österreich auf sich hat: Das konnte noch niemand ergründen. Beide waren vermutlich beides, aber mit Akzent auf dem Hades.

Das Schicksal hatte für Elfriede Jelinek zeitlebens Pointen von souveräner Bösartigkeit verfügbar. Jetzt übertrifft es sich wieder selbst: Just in dem Augenblick, in dem sich die Lebensumstände ins Unausdenkbare verändert haben, steht die zur Unsichtbarkeit Entschlossene, die kaum das Haus verlassen will, wieder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Regisseurin Claudia Müller hat - unter den Augen der Nobelpreisträgerin, aber ohne deren unmittelbare Mitwirkung - aus Archivmaterial die großartige Dokumentation "Elfriede Jelinek - die Sprache von der Leine lassen" gefertigt. Sie wurde zum Ereignis der eben abgeschlossenen Viennale.

Bilanz des Lebens

Und die Tatsache, dass Elfriede Jelineks Texte den Unterschied zwischen Dramatik und Prosa aufgehoben haben, ermächtigt den Rowohlt-Verlag, ein ganz und gar außergewöhnliches, von Grund auf provozierendes Buch auf den Markt zu befördern: "Angabe der Person" ist nichts Geringeres als eine Lebensbilanz. Dennoch wird der Text in seiner hoch rhythmischen und musikalischen Vielstimmigkeit schon am 22.Dezember in der Regie des Freundes Jossi Wieler am Deutschen Theater in Berlin uraufgeführt.

Das Buch
Memoiren? Nein. Lebensbilanz? eventuell. Theateroder Prosatext? Beides. "Angabe der Person"(Rowohlt, € 25,50) entzieht sich den Kategorien

Das Buch ist hier erhältlich*

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"Die sogenannte Unsterblichkeit bedeutet mir nichts", hat uns Elfriede Jelinek einmal anvertraut. "Ich hätte ja nichts mehr davon, und sie ist für eine Frau und ihr Werk auch nicht vorgesehen. Ich bin eine Anhängerin der Selbstvergeudung, der Flüchtigkeit, des Verschwindens. Mir gefällt der Gedanke gut, dass ich mich ans Nichts verschwende." Die Rechte aus ihrem Nachlass, so ist aus ihrer Umgebung zu hören, sollen dereinst an eine karitative Organisation gehen. All das, während in Wien das interdisziplinäre und internationale Jelinek-Forschungszentrum jede ihrer Äußerungen für die Nachwelt digitalisiert.

Und dieses Buch! Unerhört ist das und womöglich noch nicht dagewesen: Da legt jemand Bilanz über ein Leben, auf dem tonnenschwer die Geschichte des 20. Jahrhunderts lastet. Und das bekenntnishafte Werk beginnt mit einer Steuerrazzia, die sich auch aus den folgenden 188 Seiten nicht verabschieden will.

Der Freistaat droht

Wie das sein kann? Der Freistaat Bayern hatte sich nach dem Nobelpreis entschlossen, die Laureatin einzubürgern. Aber nicht etwa ehrenhalber, sondern als steuerpflichtig auszuplündernde Hauptwohnhafte. Also rückten am Münchner Wohnsitz die Fahnder ein. Sie beschlagnahmten Notizen und den Mail-Verkehr, um Beweise zu finden, dass sie sich in München länger aufgehalten habe als in Österreich (wo sie ihren Steuerpflichten schon nicht zu knapp nachgek0mmen war). Es dauerte sechs Jahre, bis das Verfahren infolge Substanzlosigkeit eingestellt wurde.

"So, bauen wir mal meine Lebenslaufbahn, Hauptsache, ich muß sie nicht selbst noch einmal entlanglaufen, nur langlaufen die letzten paar Meter, ich entziehe mich lieber selbst, bevor ich etwas hinterziehe, das Hinterziehen ist ja zum Volkssport geworden." So beginnt der Text. "Was steht auf dieser Rechnung?, ein berufliches Treffen?, kann stimmen oder auch nicht, wir sagen mal: nicht. Wenn Sie es sagen, wird es schon mal nicht stimmen, keinesfalls, so wie wir Sie kennen." Eine Mäzenin, die den ins Riesenformat gewachsenen Roman "Der Neid" mit vollen Händen an die Welt verschenkt hatte, sollte nach Behördenwillen auf eine Anklagebank mit Grasser und den unschuldsvermuteten Ganoven von Wirecard! "Sie sind so arm an Leben, da ist ja keine Reise verzeichnet im Buch Ihres Lebens, welches hier vor uns liegt. Sie sind arm an Leben, wir machen Sie noch ärmer!", höhnt wohlgelaunt der Fiskus.

In der Schweiz, liest man später, könne man mit Behörden verhandeln. "In Deutschland verhandelt man nicht, man führt Krieg. (...) Der Staat ist eine Macht, er hat keine Zähne mehr, aber wenn er jemanden sieht, der ihm nicht schmeckt, dann zieht er sofort sein Gebiß aus dem Glas und setzt es sich ein, damit er jeden, den er will, fressen kann." Ergo: "Deutscher Staat, ich hasse dich. Für meinen eigenen Staat kann ich mir aber auch nichts kaufen, und er würde mich schon gar nicht kaufen, obwohl ich gar nicht so teuer bin."

Diese Vorgänge auf die Familiengeschichte hochzurechnen, die eine mehr als 20 Personen umfassende Opferbilanz in der Nazi-Zeit einschließt: Das ist eine kühne, hoch virtuose Provokation in einer Zeit, die den Subtext nicht mehr versteht und mit tölpischer Selbstgerechtigkeit in die Wirklichkeitsfallen eines unbanalisierbaren Kunstwerks tappt.

In den Toten wühlen

"Ich kann in Toten geradezu wühlen. Von nichts gibt es so viel, nicht einmal von Geld. Ich werfe die Körper in die Luft, und noch immer bleiben Massen von ihnen übrig, da kommt schon der Caterpillar, um sie ordentlich zusammenzuschieben, damit man sie, vereint, entsorgen kann." Kann das Folgende wirklich so dastehen? "Das Verfolgtwerden scheint jedenfalls in meiner Familie zu liegen, ich bereue diesen Satz schon, bevor ich ihn niederschreiben kann, wieder einmal hat meine Eitelkeit gesiegt, die Angabe mit meiner Person", schlägt sie kunstvoll den Bogen zum Buchtitel, "am liebsten würde ich mich verstecken. Aber wenn die Querdenker jetzt wieder Länge mal Breite denken dürfen, dann darf ich es auch." 14 Seiten später folgt die Distanzierung. Nein, sie sei nicht verfolgt worden. Habe auch kein Anrecht auf den "Dachau-Bonus!, pfui!, sie nutzt Tote aus", heißt es an anderer Stelle. Genial ist das in seiner Verstörungsqualität.

Um das Buch zu verstehen, muss man sich an den Beginn des Dichterlebens zurückbemühen, besser noch: zu den Ereignissen lang vor der Geburt der heute einflussreichsten Persönlichkeit des europäischen Theaters. Der sozialdemokratische halbjüdische Vater blieb in der Nazi-Zeit geschützt, weil die streng katholische Mutter gegen alle Vorhaltungen die Scheidung verweigerte. Die Pointe, vorausgesetzt, man wagte diese Ereignisse so zu qualifizieren: Die Mutter war selbst mit gefälschtem Arier-Nachweis unterwegs. Eine andere, nicht so treusorgende Ehefrau, wirft Elfriede Jelinek in kaltem Zorn ein, sei Henriette von Schirach gewesen. Die ließ sich 1950 vom inhaftierten Gauleiter scheiden und konnte fünf Jahre später vom Freistaat Bayern für den Okkasionspreis 1,45 Mark pro Quadratmeter das familieneigene, 4.312 Quadratmeter geräumige Landhaus in Kochel am See zurückkaufen. So ist das mit der Gerechtigkeit, in Bayern und ein riesiges Stück rundum.

Die Bürde der Eltern

Der Vater starb 1969 in einer psychiatrischen Klinik, die Tochter hat sein Schicksal in ihrem Werk unter Schmerzen umkreist. Friedrich Jelinek hat ihr die lebenslange Angst, selbst wahnsinnig zu werden, als Erbteil hinterlassen. Die Mutter findet sich albtraumhaft im Schaffen der Tochter wieder, im Hauptwerk "Die Kinder der Toten" ebenso wie in der "Klavierspielerin", wo sie nahezu fotorealistisch abgebildet ist. Elfriede, die 1946 geborene Tochter, war von der Mutter als Wunderkind identifiziert und ohne Gnade auf die zugehörigen Bahnen verwiesen worden. Fünf Instrumente schon in der Volksschule, mit 13 schon am Konservatorium, Orgel, Klavier, Blockflöte, Komposition bei Rüdiger Seitz.

Dass es ihr, nach seelischen Zusammenbrüchen und einem Jahr Selbstisolation, nicht erging wie ihrer erbarmungswürdigen Klavierspielerin Erika Kohut, war das Resultat der befreienden politischen Orientierung zur KPÖ und der sich anbahnenden literarischen Karriere. In dieser Zeit setzt die persönliche Erinnerung ein. Sie betrifft eine Freundschaft, deren Beginn sich, keine Alltäglichkeit, auf den Tag terminisieren lässt: nämlich auf den 16. September 1979. Alles, was in der Kultur Rang und Namen beanspruchte, hatte sich da in den Sophiensälen zum Fest mit dem hinkenden Titel "Rettet Club 2" zusammengefunden. Dem ORF-Format drohte nach einer Masturbationsperformance der Sängerin Nina Hagen der Exitus. Dagegen demonstrierte nebst anderen d e r Kritikerpapst Hans Weigel, der einen vor Sendungsgewissheit glühenden Nachwuchsredakteur der "Arbeiterzeitung" am Ärmel zu einer unnahbaren, in japanisches Leder verpuppten Schönheit zog: "Schaun Sie, Sichrovsky, wie gut heut die Jelinek wieder aussieht." Der bei dieser Gelegenheit lukrierte Vorbericht auf den Roman "Die Ausgesperrten" kam bei den reaktionären Alten im SPÖ-Organ miserabel an.

Die Staatsfeindin

Aber die Verbindung blieb, und den Rocksaum der Mutter noch gesehen zu haben, wenn sie vor dem Besucher in den ersten Stock entwich wie das geisterhafte zweite Ich in Hitchocks "Psycho", ist ein Stück erlebter Realgeschichte. Die beiden Frauen wohnten bis zum Tod der Mutter im Jahr 2000 zusammen. Und Olga Ilona Jelinek zerteilte mit der ihr eigenen Gewissenhaftigkeit das Leben der Tochter in eine Wiener und eine Münchner Hälfte.

Der Tochter aber ist etwas Einzigartiges gelungen, nämlich die Außerkraftsetzung der Gesetze des österreichischen Untertanenstaats. Der patriotische Reflex, der alles Vorgefallene vergeben und vergessen sein lässt, wenn jemand etwas geworden ist, wollte nicht anspringen. Man gönnte ihr den Nobelpreis nicht. Die linke, jüdische, urbane und modebewusste Feministin blieb das natürliche Feindbild des österreichischen Sumpers, Frevlerin auch am nationalen Kulturerbe: Die ins Nazi-Reich verstrickte Schauspielerin Paula Wessely und der ebendort duckmäusernde Bundespräsident Waldheim mögen fast vergessen sein. Aber der Reflex gegen die Nestbeschmutzerin hat sich festgesetzt. Den Platz auf dem Ehrenhain mit den Gipsköpfen, der einer Nobelpreisträgerin zustehen sollte, hat sie sich verscherzt.

Die Hasskommentare in den Internet-Foren verfolgt sie genau, sie kann nicht anders, und sie glaubt ihnen mehr als den Bewunderungsbekundungen aus der zivilisierten Welt. Sie lebt in ständiger qualvoller Spannung: zwischen dem Abscheu vor Selbstzurschaustellung und der altmodisch ehrenhaften Verpflichtung, gegen das Übermaß an politischem und sozialem Unrecht Partei zu ergreifen. Die Autorität der Nobelpreisträgerin hat die Bürde vervielfacht.

Wien, wohin die Engerln jetten

München war da immer ein Ort der Zuflucht in die Anonymität gewesen, bis sich dort der Fiskus von der Kette ließ. Und jetzt, angesichts der nahen Heimkehr? "Aufwachen, und wärs zum Jüngsten Gericht, aber möchte ich lieber in Wien, dort jetten die Engerl in ihrer Freizeit hin, ja, du, mein liebes Wien, wo das Elterngrab unter einer Eiche und fortwährendem Eichel-Bombardement still dahinruht, bestückt mit Papa und Mama, ob ich wohl dereinst auch dort ruhen werde? Nein, mit meinen Eltern möchte ich nicht begraben sein, die möchte ich nicht wiedersehen, nirgends, ich sags gern noch einmal, wie schon so oft, lieber öfter als oft, nein, auch im Jenseits nicht, wenn sich die Gräber öffnen spätestens, dann erst, keinesfalls früher. Sterben kann ein jeder, ich garantiert auch, ich werde es schon irgendwie zusammenbringen, ich warte bloß noch, daß sie mir den Termin nennen, derzeit stehn ja wegen der Seuche viel mehr zur Auswahl als sonst, aber auch diesen Termin weiß der Herr Staat sicher noch vor mir, doch er sagt es mir nicht. Ich bleibe still."

Und dann doch wieder, mit mehr Schmerz als Sarkasmus gefärbt: "Mein Wien, das ist meins, ganz allein meins, meine liebe Heimatstadt!" Da soll sich die Seele noch auskennen.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 45/2022 erschienen.