"Ich bete, dass Biden gewinnt, denn die Alternative ist schrecklich"

Die Weltschriftstellerin Isabel Allende legt mit ihrem jüngsten Roman "Der Wind kennt meinen Namen"*, ein furioses Plädoyer für Menschenliebe vor. Im News-Gespräch nähert sie sich den Abgründen der amerikanischen Politik

von "Ich bete, dass Biden gewinnt, denn die Alternative ist schrecklich" © Bild: Lori Barra

Seine Geige und die Tapferkeitsmedaille eines Wiener Obersten: Mehr bleibt dem kleinen Samuel Adler nicht, als er an einem frühen Dezembermorgen des Jahres 1938 mit anderen Kindern in den Zug nach England steigt. Seinen Vater hat er seit jener Nacht, in der Horden durch Wien zogen, um alles Jüdische zu vernichten, nicht mehr gesehen. Der Nachbar Theobald Volker, ein Veteran aus dem Ersten Weltkrieg, hatte Samuel und seine Mutter Rahel in seiner Wohnung vor der SS versteckt.

Plädoyer für Toleranz

Samuel ist eine der zentralen Figuren in Isabel Allendes jüngstem Roman, "Der Wind kennt meinen Namen", der in diesen Tagen bei Suhrkamp erschienen ist. Zweite Protagonistin ist Leticia: Sie und ihr Vater sind die einzigen Überlebenden eines Dorfes in El Salvador, das 1981 beim Bürgerkriegsmassaker von El Mozote ausgelöscht wurde. Die dritte ist die kleine Anita, einer jener Tausenden mexikanischen Flüchtlinge, die Opfer von Trumps Null-Toleranz-Politik wurden. Der zufolge mussten Asylsuchende aus Mexiko und anderen Staaten ihre Kinder den amerikanischen Behörden übergeben.

Wie im Debütroman "Das Geisterhaus"* (1982) verwebt die heute 81-jährige Chilenin die Geschichten ihrer Figuren zum Plädoyer für Menschlichkeit und Gerechtigkeit.

Interviews mit der Weltschriftstellerin zum Erscheinen ihrer Romane sind Tradition dieser Zeitschrift. Da sie Telefonate ablehnt, einigte man sich bewährtermaßen auf die Kommunikation per E-Mail.

Isabel Allende wurde am 2. August 1942 in Lima, Peru, als Tochter des chilenischen Diplomaten Tomás Allende, eines Cousins von Präsident Salvador Allende, geboren. Sie arbeitete als Journalistin, setzte sich für Frauenrechte ein und gründete die feministische Zeitschrift „Paula“. Nach der Machtübernahme Pinochets 1973 ging Isabel Allende mit ihrem ersten Mann und den beiden Kindern ins Exil nach Venezuela. 1982 brachte der Debütroman „Das Geisterhaus“ den Durchbruch als Schriftstellerin. Isabel Allende ist seit 2003 amerikanische Staatsbürgerin und lebt in Kalifornien.

Frau Allende, Ihr Roman beginnt in Wien mit dem Terror des Naziregimes und führt zum Terror des Massakers von El Mozote in El Salvador 1981. Wie kamen Sie darauf, diese Menschheitsverbrechen einander gegenüberzustellen?
Ich habe mehrere historische Romane geschrieben, und dabei habe ich gelernt, dass sich die Geschichte über Zeit und Raum wiederholt. Die Menschheit ist durch Tragödien und Gewalt verbunden, aber auch durch jene Menschen, die nach einer besseren Welt streben. Vor vielen Jahren habe ich in New York ein Theaterstück über den Kindertransport gesehen. Das hat mich überwältigt. Da stellte ich mir die Frage: Würde ich als Mutter mein Kind fortschicken, um sein Leben zu retten? Es ist schrecklich, das entscheiden zu müssen. Tausende von Minderjährigen überqueren allein die Grenze, weil ihre Eltern versuchen, sie vor Banden, Gewalt und extremer Armut zu retten. Als die Trennung von Kindern in den USA begann, erinnerte ich mich an dieses Stück.

Sie beschreiben die Massaker in El Mozote, die von der Armee während des Bürgerkriegs an unschuldigen Dorfbewohnern verübt worden sind. Was empfinden Sie dabei?
Ich schreibe über Leid und Grausamkeit, aber vor allem schreibe ich über Solidarität und Wiedergutmachung. Inmitten des Grauens gibt es oft Hoffnung auf Menschenliebe. In "Der Wind kennt meinen Namen" handeln mehrere Figuren aus Herzensgüte, wie Oberst Volker, Peter Steiner (ein Apotheker, der verfolgten Juden hilft, Anm.), Samuel Adler in seinem hohen Alter und viele andere auch.

»Die Amerikaner haben keine Ahnung, was eine Diktatur ist«

Sind Ihre Figuren von realen Vorbildern inspiriert?
Die Figuren von Frank und Selena wurden von Sozialarbeitern und ehrenamtlichen Anwälten inspiriert, die versuchen, den Opfern einer schrecklichen Politik der Familientrennung zu helfen. Ich kenne solche Menschen durch meine Stiftung, die mit Flüchtlingen arbeitet. Und wir leben in einer Zeit der Gewalt, die Millionen von Menschen dazu zwingt, ihre Heimat zu verlassen, um zu überleben. Die Menschen fliehen vor Besatzung, Terrorismus, Banden, Armut, und bald werden wir Flüchtlingswellen aufgrund des Klimawandels haben, der Dürre, Brände und Hungersnöte verursacht. Das war schon einmal so, und es wird in Zukunft noch schlimmer werden, wenn wir keine globalen Lösungen finden, um die Gewalt einzudämmen und die Lebensbedingungen der verzweifelten Menschen zu verbessern.

Der jüdische Wiener Bub Samuel Adler muss vor den Nazis fliehen, die kleine Anita vor den Banden in Mexiko. Zeigen Sie am Schicksal dieser Kinder, dass sich die Geschichte wiederholt?
Die Geschichten sind sich sehr ähnlich, obwohl sie 80 Jahre auseinander liegen und auf verschiedenen Kontinenten spielen. Immer wieder an vielen Orten wurden Kinder von ihren Eltern getrennt. In den Vereinigten Staaten wurden Sklavenkinder von ihren Müttern verkauft, und indigene Kinder wurden entführt und in schrecklichen christlichen Waisenhäusern untergebracht. In Ländern wie Irland, Chile, Argentinien und anderen Staaten wurden Babys ihren Müttern entrissen und zur Adoption verkauft. Was heute an der Grenze zwischen den USA und Mexiko geschieht, ist leider keine Ausnahme.

Gibt es ein reales Vorbild für den Oberst Theobald Volker, der den kleinen Samuel vor den Nazis schützt?
Nein, aber es fällt mir sehr leicht, mir einen Mann wie ihn vorzustellen, denn während des Militärputsches in Chile traf ich Menschen, die große Risiken eingingen, um Verfolgten zu helfen. Sie taten es, weil sie das Herz auf dem rechten Fleck hatten. Ich bin mir sicher, dass es in Europa Tausende von Männern und Frauen gab, die versuchten, den Opfern des Nationalsozialismus zu helfen.

Sie waren immer wieder in Wien, gibt es die Apotheke, die Sie im Roman beschreiben, tatsächlich?
Nein. Ich war nur ein paar Mal in Wien, einmal als Touristin und ein anderes Mal im Rahmen einer Lesereise. Ich habe über diese Stadt zur Zeit des Krieges recherchiert. Dadurch bekam ich eine Vorstellung von den Vierteln, den Gebäuden, den Straßen und der Apotheke.

© Lori Barra DIE MENSCHENFREUNDIN. Isabel Allende, Autorin des Weltbestsellers „Das Geisterhaus“, kann mit 81 Jahren auf mehr als 75 Millionen verkaufte Bücher zurückblicken

Kehren wir in die Gegenwart zurück. Nach dem Terroranschlag in Israel nimmt in Österreich und auch in Deutschland, sogar an Universitäten, der Antisemitismus wieder zu. Hätten Sie gedacht, dass das im 21. Jahrhundert möglich ist?
Ja, Hass und Engstirnigkeit gibt es immer, und unter gewissen Umständen zeigen sie ihr hässliches Gesicht.

Warum gibt es Bewegungen wie Black Lives Matter, aber keine Bewegung für jüdische Menschen oder für die Flüchtlinge, die aus Latein- oder Südamerika kommen?
Ich denke, dass die jüdischen Menschen ohnedies weltweit selbst sehr viel dafür getan haben, um die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten und ihre Kultur zu verbreiten. In den Vereinigten Staaten haben sie großen Einfluss, sogar in der Politik. Das ist bei den Flüchtlingen nicht der Fall, die keine Macht und keine Vertretung haben. Wenn sie nicht wählen gehen, zählen sie nicht.

Ihr Roman wurde vor dieser neuen starken Welle des Antisemitismus und vor dem Anschlag der Hamas veröffentlicht. Können Sie erklären, warum große Kunstwerke manchmal vorwegnehmen, was passieren könnte?
Das ist mir schon einmal passiert, und ich kann es nicht erklären. Mein Roman "Die Insel unter dem Meer"* über die Sklaverei in Haiti wurde 2010 in derselben Woche veröffentlicht, in der Haiti von einem verheerenden Erdbeben erschüttert wurde. Mein zweiter Roman, "Von Liebe und Schatten"*, handelt von der Ermordung von fünfzehn Bauern während der Diktatur in Chile. Ich lebte zu dieser Zeit in Venezuela und konnte recherchieren, aber was ich schrieb, war eine detaillierte Beschreibung aktueller Verbrechen.

Lassen Sie uns über Ihre aktuelle Heimat, die USA, sprechen. Wie ist es möglich, dass die Republikaner Trump als Kandidaten in die Wahl schicken, nachdem er gesagt hat, dass er sofort nach seiner Wahl zum Präsidenten eine Diktatur errichten wird?
Haben die Deutschen nicht für Hitler gestimmt, die Chilenen für Pinochet, die Italiener für Mussolini und die Spanier für Franco? Und so weiter, die Liste ist lang. Es gibt immer einen Prozentsatz der Bevölkerung, der Autorität will, egal, welchen Preis er dafür zahlen muss. Die Amerikaner haben keine Ahnung, was eine Diktatur ist.

Ist Joe Biden der richtige Kandidat für die Demokraten? Hat er überhaupt eine Chance, die Wahl erneut zu gewinnen?
Er hat als Präsident sehr gute Arbeit geleistet. Die Wirtschaft ist stark, die Arbeitslosigkeit ist sehr niedrig, die Inflation ist unter Kontrolle. Er hat hart daran gearbeitet, die Schulden der Studenten zu beseitigen, und versucht, Lösungen für das Einwanderungsproblem zu finden. Er ist sicherlich ein anständiger Mann, klug und klarsichtig. Er ist alt, aber das ist Trump auch. Ich bete, dass Biden gewinnt, denn die Alternative ist schrecklich.

»Jetzt können Frauen alles verlieren, was sie im jahrelangen Kampf um ihre Rechte gewonnen haben«

Wie sieht es mit der Situation der Frauen in den USA aus, jetzt, wo Abtreibung in so vielen Staaten verboten ist? Glauben Sie, dass das erst der Anfang der Einschränkung der Rechte der Frauen ist?
Jetzt können Frauen alles verlieren, was sie im jahrelangen Kampf um ihre Rechte gewonnen haben. Das ist auch an anderen Orten geschehen, wenn Krieg, Fundamentalismus, Armut und vieles Schreckliche mehr die Oberhand gewinnen. Ein gutes Beispiel ist Afghanistan. Frauen sind immer die ersten Opfer, deshalb müssen wir immer wachsam sein. Religiöse und rechtsextreme Bewegungen wollen das Patriarchat bewahren.

Kommen wir auf Ihren Roman zurück. Wie ist es zu verstehen, dass ein Mann namens Alperstein, offensichtlich eine Anspielung auf den Milliardär Epstein, der Minderjährige missbraucht hat, freigesprochen wird?
Das Gesetz ist immer freundlicher zu den Reichen als zu den Armen und Farbigen. Die Reichen können gute Anwälte bezahlen.

Der Milliardär Epstein wurde aber in Wirklichkeit verurteilt.
Es ist ungewöhnlich, dass Leute wie Epstein für ihre Verbrechen bezahlen müssen.

Wie ist es zu verstehen, dass ausgerechnet Frank Angileri, der diesen Alperstein verteidigt hat, unentgeltlich für Flüchtlingskinder tätig wird? Sollten Menschen, die am Leid anderer verdienen, eine Art Ersatzdienst dafür leisten?
Als Frank das Mädchen kennenlernt, wird ihm die Notlage der Kinder, die von ihren Eltern getrennt leben, bewusst. Er ändert seine Einstellung völlig. Ich glaube, dass die meisten Menschen gute Absichten haben. Wenn wir von Millionen von Flüchtlingen hören, ist das nur eine abstrakte Zahl, mit der wir uns nicht identifizieren können. Aber wenn wir ein Opfer treffen, den Namen kennen, das Gesicht sehen, die Geschichte hören, geht uns das Herz auf.

Sie unterstützen mit Ihrer Stiftung Frauen und Kinder auf der Flucht. Stimmt mein Eindruck, dass die Figur der Selena, die sich mit Hingabe um Flüchtlingskinder kümmert, eine Hommage an eine Ihrer Mitarbeiterinnen ist?
Selena wurde von zwei Sozialarbeiterinnen des Florence-Projekts (im Buch heißt es Magnolia-Projekt) inspiriert. Die meisten Menschen, die für Flüchtlinge arbeiten, sind Frauen. Es geht dabei nicht um Ruhm oder Geld. Es ist eine Arbeit des Mitgefühls.

Die letzten Kapitel Ihres Buchs spielen zur Zeit der Pandemie. Wenn Sie auf diese Jahre zurückblicken: Hatten sie einen bestimmten Einfluss auf die Gesellschaft, haben Sie den Eindruck, dass sich etwas verändert hat? Hatte Corona Auswirkungen auf Ihr Leben?
Ich denke, wir haben während der Pandemie gelernt, dass die Menschheit verletzlich ist und dass wir alle miteinander verbunden sind. Was in einem Dorf in China passiert, kann jeden auf dem Planeten betreffen. Auf einer sehr tiefen Ebene haben wir jetzt diese Gewissheit, und ich hoffe, dass sie uns davor bewahrt, die Zivilisation zu zerstören. Wir haben in der Praxis gelernt, moderne Technologien für uns zu nutzen. Für unsere Arbeit und um miteinander in Kontakt zu bleiben. In diesen zwei Jahren der Isolation habe ich erkannt, dass ich nicht auf Lesereisen gehen muss. Ich kann jeden per Zoom oder E-Mail erreichen. Mein Leben hat sich zum Besseren verändert, ich bin produktiver. Ich habe Ruhe, kann allein sein und Zeit für mich haben.

Auf Ihrer Homepage kündigen Sie ein Kinderbuch an. Was hat Sie dazu inspiriert, dieses Buch zu schreiben?
Ich habe eine kleine schwarze Hündin namens Perla. Sie inspirierte mich zu der Geschichte von Perla, dem mächtigen Hund, der sich gegen einen Tyrannen wehrt. Es ist meiner Perla wirklich im Park passiert, wo sie von einem Dobermann angegriffen wurde, und sie hat sich wie eine Löwin verteidigt. Es ist also auch eine Geschichte über Mobbing.

© beigestellt

Das Buch

Kinder auf der Flucht, 1938, 1981 und 2020: "Der Wind kennt meinen Namen"* ist ein furioses Plädoyer für Menschenliebe. Suhrkamp, € 27,50


Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 16/2024 erschienen.

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