Wenn Bruno Kreisky
heute noch leben würde ...

Bruno Kreisky: Wer war dieser Mann? Was würde er zur heutigen SPÖ sagen? Und wen würde Kreisky heute wählen? Der Journalist Christoph Kotanko lässt sich auf das Gedankenspiel ein: Was wäre, wenn der ehemalige Bundeskanzler Bruno Kreisky noch leben würde?

von Politiker - Wenn Bruno Kreisky
heute noch leben würde ... © Bild: imago images / Sven Simon

Vor fünfzig Jahren, am 1. März 1970, erzielte die SPÖ unter Bruno Kreisky bei der Nationalratswahl die relative Mehrheit. Kreisky bildete eine Minderheitsregierung. Damit begann eine Ära, die 13 Jahre dauern und Österreich tief verändern sollte. Keiner vor oder nach ihm wurde so spät im Leben Regierungschef, niemand blieb so lange im Amt, keiner gewann so viele Wahlen hintereinander.

Vor dreißig Jahren, am 29. Juli 1990, starb Bruno Kreisky. Wer war dieser Mann? Worin bestand seine Macht, wie verstand er Politik und was wäre, wenn Bruno Kreisky heute noch leben würde? Diesen Fragen geht der Journalist Christoph Kotanko in seinem Buch "Kult-Kanzler Kreisky - Mensch und Mythos"* sowie im Gespräch mit News nach.

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News: Herr Kotanko, Sie schreiben, Ihr Buch sei "eine Einladung, Kreisky wieder oder neu zu entdecken: Kreisky für die Mausklick Generation." Wollen wir es im "Twitter-Stil" versuchen: Beschreiben Sie uns Kreisky in 140 Zeichen.
Christoph Kotanko: "Ein großartiger Kommunikator mit konkreten Projekten, die er zu einem erheblichen Teil auch vollendet hat." Das sind sogar weniger als 140 Zeichen (lacht).

Gehen wir genauer auf die Bereiche Macht und Politik ein. Was für einen Machtbegriff hatte Kreisky?
Für ihn war die Macht ein Hebel, um Dinge zu verändern. Er war ein Mensch, der Macht keineswegs verabscheute oder fürchtete. Kreisky steht für das Goldene Zeitalter der Zweiten Republik, weil er eben seine Macht im Interesse der Menschen eingesetzt hat. Das kann man an vielen seiner Reformen erkennen – von der Außenpolitik über sämtliche innenpolitischen Projekte, die er verfolgt und umgesetzt hat. Er hat Macht sehr bewusst eingesetzt und das zum Wohl der Menschen.

»Für einen Politiker wie Kreisky wäre die heutige Zeit zu einem gewissen Teil eine heillose Überforderung«

Was verstand Kreisky unter Politik und wie darf man sich seinen politischen Stil vorstellen?
Sein politischer Stil war eine endlose Kommunikation. Bezeichnend für Bruno Kreisky ist, dass Politik für ihn ein nie endender Dialog war. Kreisky war ein begnadeter Kommunikator und hat damit auch das Land regiert. Er stand immer zur Verfügung, er war eine Art "erster Ombudsmann" in Österreich. Das ist etwas, was er aus Schweden mitgebracht hat. Diese Kommunikationsform war damals völlig neu. Man muss aber auch kritisch dazu sagen, dass Bruno Kreisky die Medien, mit denen er tagtäglich zu tun hatte, zum Teil auch instrumentalisiert hat - weil er den Journalisten und Journalistinnen das Gefühl gab, dass sie selbst ein Teil seiner Projekte werden.

Kreisky war ständig im Dialog. Er suchte den Austausch, auch mit der Bevölkerung. Wäre ein Politiker wie Kreisky heute überhaupt noch denkbar?
Für einen Politiker wie Kreisky wäre die heutige Zeit zu einem gewissen Teil eine heillose Überforderung.

Warum das?
Wir müssen die Zeit bedenken. Zu Bruno Kreiskys Zeit gab es keine Handys, es gab kein Internet, es gab keine E-Mails. Kreisky war immer direkt erreichbar. Aber natürlich immer nur in der Nähe des Festnetzapparates (lacht). Das hatte er in seiner Villa und das hatte er im Bundeskanzleramt. Wenn er schon ein Handy gehabt hätte, dann wäre er, glaube ich, heillos überfordert gewesen. Denn er wäre tatsächlich Tag und Nacht erreichbar gewesen und das hält auf Dauer keine Politikerin und kein Politiker aus.

© imago images / Sven Simon Kreisky suchte das Gespräch, den Austausch

Kreisky müsste sich heute als Bundeskanzler auch thematisch ganz anderen, neuen Herausforderungen stellen: Klimawandel, Digitalisierung, Migration ... Wie dürfte man sich das vorstellen?
Ich bin mir nicht sicher, ob Kreisky mit diesen Herausforderungen so umgehen hätte können, wie er es seiner Zeit mit ganz konkreten Herausforderungen tat. Beispielsweise mit Themen wie der Arbeitszeitverkürzung, dem leichteren Zugang zur Bildung oder der Familien- oder Strafrechtsreform.
Denn man muss schon anmerken, dass Kreisky den Beginn der Umweltbewegung, Mitte der 70er Jahre, schlicht nicht erkannt hat. Es gab 1973 den Öl-Schock, 1978 die Volksabstimmung über Zwentendorf. Die Zeichen an der Wand, das sich hier - als Spätfolge der 68er Jahre - eine Umweltbewegung entwickelt, die hat Kreisky zu wenig erkannt. Und so ist er auch in entsprechende Schwierigkeiten gekommen.
Daher wäre es leichtfertig zu behaupten, Kreisky hätte die Patentantworten auf Digitalisierung, Klimawandel oder Migration gehabt. Ich glaube, dass er vor ähnlichen Schwierigkeiten gestanden wäre, wie die Politikerinnen und Politiker heute.

Was würde er zur politischen Situation des Landes sagen?
Er hätte - ähnlich wie Sebastian Kurz - große Projekte erfunden. Ich glaube nur, dass die Umsetzungs- und Durschlagskraft Bruno Kreiskys größer gewesen wären. Wobei man nicht vergessen darf: Bruno Kreisky hatte eine Alleinregierung, Sebastian Kurz hat eine extrem komplizierte Koalition. Zuerst mit den Freiheitlichen, die sich als Flop erwiesen hat, und jetzt mit den Grünen, die zum ersten Mal in einer Bundesregierung sind. Das heißt, der Vergleich Bruno Kreisky 1970/1983 zur Situation im Jahr 2020 ist natürlich schwierig, wenn man die Rahmenbedingungen mitbedenkt.

»Es fehlt an Mut und Lust«

Was würde er über die SPÖ sagen oder was würde er ihr vielleicht sogar raten?
Bruno Kreisky hat in seiner allerersten Pressekonferenz als Bundeskanzler im April 1970 auf die Frage, was er jetzt fühlt, gesagt: "Ich fühle Mut und Lust". Und das sind zwei Eigenschaften, die der SPÖ heute bitter fehlen. Die SPÖ ist rat- und antwortlos in vielen Fragen. Bruno Kreisky würde ihr raten, mehr Mut und mehr Lust zu zeigen. Das ist ein Defizit, das nicht alleine die Sozialdemokratie, sondern die Politik generell betrifft. Es fehlt an Mut und Lust.

Wie würden Sie den Menschen und den Politiker Kreisky charakterisieren?
Der Mensch Kreisky war natürlich geprägt von seiner ganzen Biografie, die eine höchst bemerkenswerte war. Als Sohn aus einem jüdischen Haus - in einer Umgebung, die noch von den Nachwehen des Nationalsozialismus geprägt war - Karriere machen zu können. Dass ihm das überhaupt gelingen konnte, war nicht unmittelbar zu erwarten,
In der Partei selbst war er auch nicht besonders verankert. Die Spätfolgen der NS-Zeit hat auch Bruno Kreisky in seiner Partei und im Land zu spüren bekommen. Wir wollen nicht vergessen, dass er im Nationalratswahlkampf einmal von einem niederösterreichischen ÖVP-Abgeordneten als "Saujud" beschimpft worden ist.
Bruno Kreisky als Person, als Politiker hat eine höchst bemerkenswerte Biografie, die heute viele Politiker nicht mehr aufweisen. Und über die Jahre ist er gereift. Kreisky hat sich zuerst in der Partei und dann im Land durchgesetzt.

»Er hat die Menschen eingeladen, ein Stück des Weges mit ihm zu gehen«

Und der Politiker Kreisky?
Da sind wir wieder beim Politik-Stil Kreiskys. Er hat ständig kommuniziert. Das hat ihm sehr geholfen. Zudem war er sehr projektorientiert und hat Dinge aufgesetzt, von denen man sich ja wundern muss, dass die Politiker vor ihm diese nicht schon längst umgesetzt hatten. Man denke beispielsweise an die Frauenrechte in den Jahren vor 1970, die waren praktisch nicht vorhanden. Frauen hatten weitestgehend keine Rechte. Er hat dann dafür gesorgt, dass Österreich ein Stück weit moderner, gerechter und demokratischer geworden ist. Sein Politikverständnis war eigentlich ein partizipatives. Er hat bei diesen Projekten die Menschen eingeladen, ein Stück des Weges mit ihm und mit der Sozialdemokratie zu gehen. Damit hat er auch Menschen erreicht, die mit der SPÖ quer gestanden sind, wie beispielsweise Unternehmer.

Sie haben die Frauenrechte erwähnt. Johanna Dohnal war in der Regierung Kreisky als Frauenstaatssekretärin tätig. Sie galt als konsequent, eine Frau mit einem klaren Standpunkt. Wie darf man sich die Zusammenarbeit der beiden vorstellen?
Ich glaube, Johanna Dohnal hat die Persönlichkeit von Bruno Kreisky anerkannt, ohne mit ihm im Detail übereinzustimmen. Ich bin mir sicher, dass Johanna Dohnal insgeheim der Meinung war, dass manches, was Bruno Kreisky begonnen hat, viel zu langsam geht. Sie haben einander respektiert und er hat sie seiner Zeit immerhin in die Bundesregierung berufen. Ich glaube, dass sie gemeinsam einiges weitergebracht haben.

Man stellt sich vor, dass die beiden auch intensive Auseinandersetzungen gehabt haben. Auch oder grade weil sie nicht immer einer Meinung waren. Hat Kreisky solche Auseinandersetzungen geschätzt?
An Johanna Dohnal hat er sicher die Entschlossenheit, die sie hatte, geschätzt. Kreisky hatte zu den sozialistischen Frauen kein ganz friktionsfreies Verhältnis. In der Abtreibungsdiskussion beispielsweise war er zum Teil ganz anderer Meinung als die SPÖ Frauenorganisation. Er hat sich dann aber davon überzeugen lassen, sich zumindest nicht aktiv dagegenzustellen. Er hat sehr wohl erkannt, dass er bestimmte Notwendigkeiten umsetzen muss, auch wenn er diesen im Innersten vielleicht nicht zustimmte.
Zudem dachte er auch immer taktisch mit. Er kannte die Position der katholischen Kirche in dieser Angelegenheit. Da die Kirche damals sehr mächtig und einflussreich war, wollte es sich Kreisky mit dieser Institution nicht verscherzen. Letzten Endes hat er hier aber, im Sinne der Sache, zugelassen, dass diese Reformen geschehen.

»Es wäre naiv zu behaupten, dass Kreisky eine Lichtgestalt und völlig fehlerlos gewesen wäre«

Stichwort Kirche. Sie beschreiben Kreisky als "eine Art säkularer Heiliger". Hat dieser Heilige auch Schattenseiten?
Er hat sicher Schattenseiten gehabt. Kreisky hat in seinem langen politischen Leben einige sehr große Fehler gemacht. Da muss man die Wirtschaftspolitik erwähnen: Die falsche Verstaatlichungspolitik, sprich das Halten der Arbeitsplätze um jeden Preis. Das hat er immer mit wunderbaren Zitaten unterfüttert, aber im Grunde war diese Politik natürlich völlig falsch.

Dann war der Versuch der Bewältigung der Kriegsvergangenheit über weite Strecken völlig missglückt. Es ist ja geradezu grotesk, dass Kreisky zum ehemaligen SS-Offizier Friedrich Peter ein besseres Verhältnis hatte als zum jüdischen Nazi-Jäger Simon Wiesenthal.

Dann war sicher seine Fehde mit Hannes Androsch, eine hasserfüllte Fehde, ein großer Fehler, der die Partei und das Land viele Jahre lang beschäftigt und belastet hat. Es wäre also völlig naiv zu behaupten, dass Kreisky eine Lichtgestalt und völlig fehlerlos gewesen wäre.

Sie hatten als Journalist mit Kreisky zu tun. Welche Frage würden Sie ihm heute gerne stellen?
Ich glaube, dass der Klimawandel die größte Herausforderung unserer Zeit ist und auch noch unsere Kinder und Kindeskinder beschäftigen wird. Mich würde daher wirklich sehr interessieren, wie Bruno Kreisky mit diesem Problem umgehen würde.

Und was glauben Sie?
Ich vermute, er würde 1.400 Experten zusammentrommeln, wie er es seiner Zeit bei seinen großen Projekten getan hat, und hoffen, dass sich hier eine Lösung herauskristallisiert. Ganz sicher bin ich mir aber nicht.

Da ist es wieder: die Kommunikation, der Austausch. Ist das etwas, was Politikerinnen und Politiker von heute mitnehmen können?
Kreisky war sicher eine Ausnahmeerscheinung und hat Österreich wie kaum ein anderer Politiker vor oder nach ihm geprägt. Mitnehmen kann man sicher, dass er im ununterbrochenen Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern war und immer versucht hat, direkt ins Volk hineinzuhören.
Das ist etwas, wo man natürlich einen großen Nachholbedarf erkennen könnte: der tatsächliche Kontakt mit den normalen Leuten, aus denen sich ja – und das darf man nicht vergessen – bei Bruno Kreisky ganz konkrete Projekte ergeben haben. Ich beschreibe in dem Buch das Beispiel der Bergbäuerin aus Tirol, die ihn anrief und fragte, wie ihre Kinder in die Schule kommen sollen. Kreisky hat daraufhin die Schulbus-Aktion erfunden. Diese Kommunikation mit den Bürgern hat er vorgelebt und das sollte man vielleicht heute auch.

Sie haben für das Buch Interviews geführt, viel recherchiert. Gab es etwas bei der Arbeit, das Sie besonders überrascht hat?
Ich beschäftige mich schon sehr lange mit der österreichischen Innenpolitik. Aber mir war diese Machttechnik von Bruno Kreisky in dieser Form nicht bekannt. Abgesehen davon habe ich immer geglaubt, dass er ein gut organisierter und zielstrebiger Politiker gewesen wäre ... (lacht). Die Gespräche mit seinen engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern haben wir aber bewiesen, dass sein Arbeitsstil eher chaotisch war und er immer Leute um sich gebraucht hat, die den Alltag einigermaßen organisieren.
Was mir auch nicht klar war, auch wenn das jetzt ein wenig weit führt ...

Bitte führen Sie aus!
Es ist eine österreichische Legende, dass die Freiheitliche Partei des Jahres 1970 - mit Friedrich Peter an der Spitze -, die Kreiskys Minderheitsregierung unterstützt hat, quasi eine liberale Partei gewesen wäre. Man wusste zwar einiges über die Kriegsvergangenheit von Friedrich Peter, aber ich habe mir die Struktur der Freiheitlichen Partei des Jahres 1970 angesehen und bin darauf gekommen, dass in den Landesorganisationen der Freiheitlichen Partei Leute gesessen sind, die eine ziemlich dunkle Kriegsvergangenheit hatten. Man muss bedenken, dass diese Leute in den Gremien der Freiheitlichen Partei voll stimmberechtigt waren. Es ist also keineswegs so, dass die Freiheitliche Partei des Jahres 1970 eine lupenreine liberale Partei gewesen wäre.

»Kreisky hätte keine Sekunde daran gedacht, HC Strache zu wählen«

Bleiben wir bei der Freiheitlichen Partei. Der ehemalige FPÖ-Politiker Strache meinte 2018, "Kreisky würde heute HC Strache wählen". Was glauben Sie, wen würde Kreisky heute wählen?
Das, was Heinz-Christian Strache seiner Zeit gesagt hat, halte ich für eine freie Erfindung. Kreisky hätte keine Sekunde daran gedacht, HC Strache oder einen anderen Freiheitlichen Funktionär zu wählen. Ich glaube, dass Kreisky heute mit bestimmten Inhalten der Grünen sehr sympathisieren würde.
Außerdem glaube ich, dass er versuchen würde, die Sozialdemokratie auf einen modernen, zeitgemäßen Kurs zu bringen, so dass die SPÖ eine Alternative für ihn wäre.
Dennoch glaube ich, dass ihn grundsätzlich eine Partei wie die Grünen anziehen würde - zumindest was die innenpolitischen und umweltpolitischen Themen anbelangt. In der Außenpolitik bin ich mir da nicht so sicher.
Von vielen Beobachtern werden die Grünen als eine Art SPÖ des 21. Jahrhunderts gehalten. Das wäre reizvoll für Kreisky.

Zur Person

© OÖN Volker Weihbold Christoph Kotanko

Christoph Kotanko, geboren 1953 in Oberösterreich, studierte in Wien und Paris. Innenpolitischer Journalist bei "Wochenpresse" und "Profil", "Kurier"-Chefredakteur 2003 bis 2010, seither Wien-Korrespondent der "OÖ Nachrichten". Drei Mal "Chefredakteur des Jahres". Ausgezeichnet mit dem Kurt-Vorhofer-Preis. Innenpolitischer Journalist des Jahres 2019 und Offizier des Verdienstordens der Französischen Republik.

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