Begegnungszone Gesellschaft

Die Bereitschaft, die Standpunkte anderer einzunehmen, ist unterentwickelt, zeigen aktuelle Konflikte. Kann das auf Dauer gut gehen?

von Anna Gasteiger © Bild: News/Ricardo Herrgott

Klimakleber. Ein einfaches Wort, ein bisschen surreal vielleicht, falls man die letzten Monate auf einer verlassenen Südseeinsel verbracht haben sollte, und doch mittlerweile so wirkmächtig, dass seine Nennung statistisch gesehen bei 50 Prozent der Lesenden erhöhten Pulsschlag und andere Stresssymptome verursachen sollte. Anders ausgedrückt: Eine von zwei Personen erlebt die Tatsache, dass junge Menschen regelmäßig mit Sitzblockaden den Frühverkehr behindern, als "sehr negativ", haben Umfragen Mitte Jänner ergeben. Mutmaßlich hat sich die Ablehnung seitdem verstärkt. Die Klimakleber polarisieren. Genau so wie Klimaschutzmaßnahmen generell, die Impffrage, wie im Zuge der Corona-Pandemie mehr als deutlich geworden ist, der seit Jahren latent schwelende Stadt-Land-Konflikt, der Autofahrer-vs. Radfahrer-Streit, der jeden Tag unzählige zumindest nervliche Opfer fordert, die ungelösten Hundebesitzer-und Kinderwagen-im-Bus-Fragen . . . wohin man schaut Verwerfungen, und falls das jetzt ironisch klingen sollte, es ist durchaus nicht so gemeint. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Konflikte einen großen Stellenwert einnehmen. Es ist jeder gegen jeden, gefühlt. Zum Beispiel im Straßenverkehr: Wenn Autofahrer mit grotesk wutverzerrten Mienen Demonstrierende von der Straße zu zerren versuchen; aber auch, wenn ein Radfahrer mit der Hand auf die Motorhaube eines Autos drischt, weil es ein paar Zentimeter auf dem Fahrradstreifen steht. Alle kommen immer zu kurz. Alle haben immer recht. Alle tun sehr rasch sehr laut kund, dass sie meinen, im Recht zu sein. Die Bereitschaft, den Standpunkt anderer mitzudenken, ist nicht mehr sehr stark ausgeprägt -in den kleinen, aber auch in den großen gesellschaftlichen Fragen. Jetzt das schöne Leben genießen, weil es für mich eh bald vorbei sein wird, oder Einschränkungen akzeptieren, damit es die Kinder anderer irgendwann auch gut haben werden? Beides nachvollziehbar. Hängt halt vom Standpunkt ab. Ein guter Mediator würde versuchen, gegenseitiges Verständnis zu erzeugen und an einer Lösung zu arbeiten, die für beide funktioniert. Wir haben aber keine guten Mediatoren. Wir haben inhaltlich überforderte Politiker, die in ihrer Ratlosigkeit Menschen gegeneinander aufhetzen und Politik für (ohnehin schon privilegierte) Minderheiten machen, um an der Macht zu bleiben oder an die Macht zu kommen.

»Österreich wächst und wird diverser. Die Ressourcen werden knapper«

Dabei deutet alles, was wir über die Zukunft wissen, darauf hin, dass die Bedeutung von Miteinander eher zu-als abnimmt. Österreich wächst einwohnermäßig und wird durch Zuwanderung diverser. Die Ressourcen werden knapper. Weniger Platz, weniger Wasser, weniger Reichtum womöglich. Schon jetzt leiden viele unter der aktuellen Krise, von der niemand so genau weiß, wie lange sie dauern wird. Vorübergehende Eintrübung oder der Anfang vom Ende der guten Zeiten? Skepsis scheint angebracht.

Im Verkehr nennt man es eine Begegnungszone: Alle Verkehrsteilnehmer sind gleichberechtigt, aber dazu angehalten, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Runter vom Gas, viel nach rechts und links schauen, vielleicht kurz stehen bleiben, wenn notwendig, damit niemand zu Schaden kommt. Nur so kann eine friedliche Gesellschaft auf lange Sicht funktionieren.

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