Zum ersten Mal seit dem Fall des Assad-Regimes soll in dem Bürgerkriegsland mittels indirekter Wahl eine neue Volksversammlung bestimmt werden. Welche Rolle Interimspräsident Ahmed al Scharaa dabei spielt.
von Daniel Böhm, erstmals erschienen in der „Neuen Züricher Zeitung“
Besonders eindrücklich wirkt das syrische Parlament nicht. Im Gegensatz zum Präsidentenpalast, der mit seinen riesigen Marmorhallen und Gärten wie ein gewaltiger Kubus hoch oben auf einem Berg über Damaskus thront, befindet sich das altehrwürdige Gebäude der sogenannten Volksversammlung an einer abgasverseuchten Straße im Stadtzentrum, zwischen einem Park und dem heruntergekommenen „Cham“-Hotel.
Jahrzehntelang hatten Syriens Abgeordnete dort wenig zu sagen. Unter der Diktatur der Assad-Familie waren sie bloß Claqueure gewesen, die die Beschlüsse von Hafiz al-Assad und später von dessen Sohn Bashar ohne Widerrede abzunicken hatten. Zwei Drittel der Sitze waren jeweils für die regierende Baath-Partei reserviert. Den Rest füllten loyale Unabhängige auf. Bei den Wahlen war von vornherein klar, wer gewinnen würde.
Seit dem Sturz des Regimes im vergangenen Dezember steht die Volksversammlung leer. Doch jetzt soll sich das ändern. Ende September will die neue syrische Regierung unter ihrem Präsidenten – dem ehemaligen islamistischen Rebellenführer Ahmed al-Scharaa – zum ersten Mal seit dem Fall von Bashar al-Assad wieder Wahlen durchführen lassen. Ein neues Parlament soll Syrien in eine bessere Zukunft führen.
Ein komplizierter, indirekter Prozess
Doch bisher ist in Damaskus von einem Wahlkampf nichts zu spüren. Das liegt zum einen daran, dass lange keiner wusste, wann die angekündigte Wahl tatsächlich stattfinden solle. Erst hieß es, das Parlament solle in der zweiten Doch bisher ist in Damaskus von einem Wahlkampf nichts zu spüren. Das liegt zum einen daran, dass lange keiner wusste, wann die angekündigte Wahl tatsächlich stattfinden solle. Erst hieß Septemberwoche bestimmt werden. Jetzt ist der Termin auf 5. Oktober festgelegt worden.
Allerdings ist „Wahl“ ein großes Wort für den Prozess, mit dem in Syrien eine neue Legislative zusammengestellt wird. Denn die 210 Abgeordneten, die in Zukunft regelmäßig im Haus des Volkes debattieren und abstimmen sollen, werden nicht etwa von der Bevölkerung gewählt. Stattdessen soll ein komplizierter, indirekter Prozess über ihre Zusammensetzung bestimmen.
Wir hatten 15 Jahre lang Bürgerkrieg, es gibt Millionen Binnenvertriebene. Das hat die Leute hart werden lassen. Wie bitte sollen wir jetzt Volkswahlen durchführen?
Die Wahl als geschlossene Veranstaltung
Ein Drittel der Abgeordneten wird vom Präsidenten selbst bestimmt. Die übrigen hingegen sollen von lokalen Wahlkollegien gewählt werden. Diese wiederum werden von einer Regierungskommission zusammengestellt, die zuvor ebenfalls von den Machthabern in Damaskus ernannt wurde. Weder die Wahlmänner noch die möglichen Kandidaten für das Parlament waren zunächst bekannt. Kein Wunder, hat die Öffentlichkeit von der geschlossenen Veranstaltung bisher kaum Notiz genommen.
Mit den Vorstellungen einer westlichen Demokratie hat die Prozedur wenig zu tun. Syriens neue Regierung verteidigt sie trotzdem. „Ich bin ein Anhänger der Demokratie und der freien Marktwirtschaft“, sagt Hassan al-Daghim, der zu der staatlichen Wahlkommission gehört und die zukünftigen Wahlmänner mit aussucht. „Aber wir hatten 15 Jahre lang Bürgerkrieg, es gibt Millionen Binnenvertriebene. Das hat die Leute hart werden lassen. Wie bitte sollen wir jetzt Volkswahlen durchführen?“
Der Professor für islamisches Recht aus Idlib sitzt in einem Strandhotel in der Küstenstadt Latakia und beteuert, dass die Wahl trotz aller Unklarheiten am Ende repräsentativ sei. Man lege bei der Zusammenstellung der Wahlkollegien besonderen Wert auf Diversität und wolle, dass alle Minderheiten vertreten seien. „Wir berücksichtigen lokale Führer, Intellektuelle und Vertreter der Zivilgesellschaft.“ Damaskus habe zudem festgelegt, dass 70 Prozent der Wahlmänner über einen Universitätsabschluss verfügen müssten.
Die Minderheiten haben Angst
Doch ob ein derart zusammengestelltes, womöglich komplett handzahmes Parlament dazu beitragen kann, Syriens Probleme zu lösen, ist ungewiss. In dem kaputten Land herrschen nämlich auch zehn Monate nach der Machtübernahme der Rebellen Armut, Chaos und Gewalt. So kommt Syrien bisher trotz aller Bemühungen und der vom amerikanischen Präsidenten Donald Trump angekündigten Aufhebung der Sanktionen nicht auf die Beine.


Syrien leidet noch immer an den Folgen der Assad-Diktatur und an den Verheerungen des Bürgerkriegs. Die Wahl eines neuen – womöglich zahnlosen – Parlaments wird angesichts der vielen Nöte von den Menschen kaum wahrgenommen.
© Mosa'ab Elshamy / AP / picturedesk.comZudem hat Sharaas Regierung längst nicht überall die Kontrolle. Im Osten haben die Kurden seit Jahren eine Art eigenen Staat aufgebaut – und weigern sich, ihre Waffen abzugeben. Im Süden versuchen die Drusen seit ein paar Monaten, dasselbe zu tun. In beiden Regionen werde die Wahl deshalb vorerst nicht stattfinden.
Im Rest des Landes herrschen ebenfalls Spannungen. Angehörige von Minderheiten wie die Christen oder die Alawiten trauen den regierenden Islamisten nicht über den Weg und fürchten sich vor ihnen. Ihnen scheint die kommende Wahl nicht viel zu bedeuten. „Das ändert an der Lage doch überhaupt nichts“, sagt ein Ladenbesitzer im Christenviertel Bab Tuma in der Altstadt von Damaskus. „Wir wissen doch jetzt schon, wer gewinnt.“
Das größte Problem: „die Wirtschaft“
Die Lage sei tatsächlich schwierig, gesteht auch Hassan al-Daghim von der Wahlkommission ein. Der 49-Jährige, der vor ein paar Monaten bereits eine nationale Dialogkonferenz organisiert hatte, wurde mit einer komplizierten Aufgabe betraut: Er soll die Wahl in den Küstenprovinzen organisieren, wo die Alawiten leben – eine muslimische Minderheit, deren Angehörige zu den Stützen des gefallenen Assad-Regimes gehörten. Im Frühjahr war es hier nach einem gescheiterten Aufstandsversuch zu blutigen Massakern an Zivilisten durch regierungstreue Kämpfer gekommen.
„Die Alawiten waren lange Zeit die Herren über Syrien, und manche von ihnen denken, dass sie das heute noch sind“, sagt Daghim. Orte wie Jablah oder Kardaha hätten unter Assad einen Großteil der Militärangehörigen und Geheimdienstler gestellt. „Diese Leute sind natürlich nicht zufrieden, wenn sie jetzt nur noch durch einen Abgeordneten vertreten werden.“ Doch das sei nicht der einzige Grund, warum viele Alawiten den Wahlen fernbleiben wollten. Manche von ihnen hätten auch Angst davor, als Verräter an der eigenen Gemeinschaft angesehen zu werden.
Die Regierung wird trotzdem alles tun, um ein gefügiges Parlament zusammenzustellen. Ende September reiste Präsident Ahmed al-Scharaa zur UNO-Generalversammlung in New York, um dort als erster syrischer Staatschef seit 1967 zu sprechen. Gleichzeitig fehlt trotz großen Ankündigungen vom Golf bisher das Geld für den Wiederaufbau. „Unser größtes Problem ist die Wirtschaft“, sagt Daghim. Eine halbe Million Männer hätten in Assads Sicherheitsdiensten gedient und seien jetzt ohne Job. „Wir müssen ihnen eine Perspektive bieten. Nur so können wir das Land stabilisieren.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 40/2025 erschienen.