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Syrien ein Jahr nach Assad: Wer geht, wer bleibt?

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©Simon Kupferschmied

Bleiben, gehen, zurückkehren? Syrien, ein Jahr nach dem Sturz der Assad-Diktatur und der Machtübernahme der Islamisten. Eine Reise durch ein Land im Dazwischen.

Kolonnen verbeulter Autos, Schlangen gestikulierender Menschen. Es herrscht Andrang an der Grenze ins „neue“ Syrien. Oben in den Bergen des Libanon ist ein Jahr nach dem Sturz des Assad-Regimes alles anders. Rückkehrer reihen sich ein, füllen geduldig Formulare aus, lassen sich von den Vorposten der ausgewechselten Machthaber herumkommandieren. Diese tragen nun Bärte, sitzen vor neuen Computern – und erledigen die Grenzformalitäten doch weiter auf Papier.

Dann die Fahrt hinunter in die Ebene, wo sich die Hauptstadt Damaskus ausbreitet. Vernichtet sind die Porträts von Diktator Assad, der sich mal im dunklen Anzug, mal mit verspiegelter Sonnenbrille gern allgegenwärtig gab. Wer jetzt ankommt, sieht, was bleibt und was verschwindet: Die Straßen sind voller Leben, Händler rufen ihre Preise, Kinder verkaufen Zigaretten und daneben Benzin in Plastikflaschen. Und doch ist da Aufbruch, steht alles auf Anfang.

Ein Rückkehrer auf Zeit

Party! – könnte man auch rufen, wäre man ein Tourist. So wie die Gruppen von Chinesen, die sich im Zentrum der Altstadt tummeln. Nichts ist dort beschädigt. All die historischen Bauten, von der großen Umayyaden-Moschee bis zur Vielzahl christlicher Kirchen, haben zwölf Jahre Bürgerkrieg heil überstanden. An der Geraden Straße, dieser historischen Achse von Damaskus, schon zu Römerzeiten, tauschen Arbeiter bereits eifrig die Pflastersteine aus.

Und drüben, im gewaltigen und ebenfalls intakten Basar, wird Assad, der gefallene Herrscher, nur mehr als Motiv auf Socken verlacht. Auf den Dächern feiner Hotels steigen abends erste Rooftop-Events. Es fließen Whiskey und Wein. An den Wänden räkeln sich leicht bekleidete Frauen, die in amerikanischen Musikvideos an die nächtliche Wand projiziert werden. Die Jugend tanzt, lacht – ein Hauch von Normalität, der nach Freiheit schmeckt.

„Hier ist was los“, sagt ein Mann mit fein getrimmtem Bart in perfektem Deutsch. Er berichtet, nur ein paar Straßen weiter aufgewachsen zu sein. Dann die Flucht, seit zehn Jahren bereits in Deutschland, dort ausgebildet zum IT-Fachmann, so wie einst in Angela Merkels Vision. Fast schon zu perfekt. Jetzt sei er das erste Mal zurück – auf Heimaturlaub und für seine Hochzeit. „Ein lokales Mädchen, von der Familie ausgesucht“, erzählt er. Die Feier fände, muslimisch streng nach Geschlechtern getrennt, nächste Woche statt. Und die Braut? „Die kommt später mit nach Berlin.“

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 © Bild: Simon Kupferschmied
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 © Bild: Simon Kupferschmied

Ex-Diktator Assad ist in Damaskus zur Lachnummer verkommen. Sein Gesicht ziert als Motiv etwa Socken (Bild rechts)

Der Mann, dem man glauben soll

Wer will, kann sich so blenden lassen. Kann glauben, die neuen Mächtigen meinten es ernst. So wie ihr Chef, Übergangspräsident Ahmad al-Scharaa, es kürzlich in Washington verkündete. Dort scherzte er mit Donald Trump im Oval Office. Der beschied ihm zwar eine „harte Vergangenheit“, „aber die haben wir ja alle, nicht wahr?“

Dabei ging Al-Scharaa den klassischen Weg eines Islamisten von unten nach oben: vom einfachen Al-Kaida-Kämpfer zum Anführer gefürchteter Kampfbrigaden mit Zehntausenden Männern unter Waffen. Mit ihnen eroberte er Anfang Dezember vorigen Jahres erst Aleppo und stand binnen einer Woche vor Damaskus – worauf der Assad-­Clan am 8. Dezember hastig die Flucht nach Moskau ergriff.

Kein Haar würde man den zahlreichen Minderheiten fortan krümmen, betonte al-Scharaa in ersten Interviews. Was fast vergessen ließ, dass Amerika noch kurz zuvor zehn Million Dollar Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte. Die neuen Machthaber geben sich geläutert, reden von Stabilität, Sicherheit, vom Wiederaufbau. Dabei bröckeln anderswo die Fassaden.

„Früher war ich nur eine Frau“

Frühmorgens, als über Damaskus der Muezzin ruft, aber auch Glocken läuten, steht Helen am Fenster ihres Elternhauses. Sie ist 24, trägt langes, schwarzes Haar, das sie nicht verhüllt. Manche Mauern in ihrem christlich geprägten Vorstadtviertel zieren Einschusslöcher, der Strom fließt weiterhin nur stundenweise aus den Leitungen.

Draußen haben Cafés wieder geöffnet, Kinder gehen zur Schule, in den Straßen wird gefeilscht. Doch für Helen fühlt sich alles anders an. Der Blick der Männer ist länger geworden, der Ton der Frauen schärfer. „Früher war ich einfach nur eine Frau. Jetzt bin ich eine Christin – und damit sehr sichtbar geworden“, sagt sie. Abends geht sie kaum noch hinaus. Online kursieren Geschichten über Entführungen, laufen Videos, in denen bärtige Bewaffnete als Teil der neuen Sicherheitstruppen Frauen forsch ins Hintere von Bussen drängen. „Man weiß nicht, was stimmt“, sagt Helen, „aber die Angst, die ist echt.“

Dass diese nicht unbegründet ist, zeigte sich vor einem halben Jahr, am 22. Juni, einem Sonntag. Wie immer ging Helen zur Abendmesse, war aber spät dran. Als sie die St. Elias-Kirche betrat, lief vorn schon die erste Lesung. Bis plötzlich Schüsse fielen. Ein Mann im Tarn­anzug feuerte in die Bänke. Besucher stürzten sich auf ihn – Sekunden später sprengte er sich in die Luft. Dann nur noch Finsternis. Helen wurde am Rücken und am Ohr verletzt. Marian, ihre beste Freundin, eine Pharmazie-Studentin im letzten Jahr, starb drei Tage später im Spital. Und mit ihr 24 weitere Menschen.

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Helen im Bauschutt der St. Elias Kirche

 © Bild: Simon Kupferschmied

Nun steht Helen zwischen Schutt und Baumaterial in der St. Elias-Kirche. Deren Wiederaufbau soll Hoffnung bringen. Zugleich blickt sie in den Krater, den die Explosion im Boden hinterließ. Er reißt eine klaffende Wunde auf in diesem neuen Syrien. „In den Wochen vor dem Anschlag sind Islamisten vor der Kirche aufgetaucht“, erinnert sich Helen. „Sie hatten Megafone, störten und riefen zur Bekehrung zum Islam auf.“

Damals vertrieben die Christen aus dem Viertel sie – und ahnten bereits einen Vorboten für Schlimmeres. Doch niemanden im Staatsapparat kümmerte dies. Kein Schutz, kein Verständnis, bis zum Fanal. Auch nach dem islamistischen Anschlag blieben die Beileidsbekundungen leer. Als der Bischof dies beim Begräbnis offen aussprach, brach der Staatsfunk die Übertragung ab. Kritik an den neuen Mächtigen, erst recht aus den Reihen einer Minderheit, wird nicht toleriert.

Freiheit und Kerker

„Ich habe nicht nur eine Freundin verloren, die wie eine Schwester war“, sagt Helen, „sondern auch den Glauben an das Gemeinsame.“ Früher, da habe es keinen Unterschied unter Freunden gemacht, wer welcher Religion angehörte. Nun blicken immer mehr aus der sunnitischen Mehrheit, die 70 Prozent der Bevölkerung stellt, mit Argwohn auf die Minderheiten.

Besonders auf die verhassten Alawiten, denen auch der Assad-Clan angehörte. Als es zu ersten Gräueltaten gegen sie und die Drusen kam, bei denen seit Jahresbeginn laut UN-Angaben mehr als 2.000 Menschen getötet wurden, stellte Helen schockiert fest, dass auch viele ihrer Freunde meinten, „das geschehe denen schon recht“. Sie blickt lange ins Leere. Bis sie sich fasst: „Das sind Menschen, die ich gut zu kennen glaubte. Bis ich feststellen musste, dass sie all die Zeit nur Masken getragen hatten. Schöne Masken.“

Im Rückblick reicht der Riss tiefer. Ja, der verhasste Diktator ist weg, mit ihm sein gefürchteter Geheimdienst. Doch die neue Freiheit schlug rasch um in ein Triumphgeheul derer, die darin den Auftakt einer neuen Ordnung im Sinne der Scharia sehen. Für Christen verheißt das nichts Gutes. Ohnedies durch Krieg und Emigration bereits von einst zehn auf zwei Prozent der Bevölkerung geschrumpft, denkt die halbe Million Menschen, die blieb, täglich darüber nach, ob es für sie eine Zukunft in diesem neuen, nun nicht länger säkularen Syrien geben kann. Helen, eine ausgebildete Logopädin, ist eine von ihnen. Längst will sie nur noch weg. Noch aber bleibt sie. Auch der Eltern wegen. Doch das, was andere nun Freiheit nennen, ist ihr zum Kerker geworden.

Wo Flucht nie eine Option war

Wenn man von Helens Viertel weiter hinausfährt, vorbei an völlig pulverisierten Stadtvierteln, die einem Stalingrad unserer Zeit gleichen, erreicht man irgendwann Dscharamana. Eine Vorstadt, die immer weiter wächst, Schicht um Schicht, Etage um Etage. Auf den Dächern lagern Trümmer, auf den Balkonen hängen Teppiche, in den Gassen drängen sich Menschen, die von anderswo herkommen. Mehr als eine halbe Million sollen es inzwischen sein – Vertriebene aus allen Teilen Syriens.

Hanan floh aus Deir-es-Zor, als der sogenannte Islamische Staat ihre Stadt einnahm. Sie packte, was sie tragen konnte, und ging Richtung Westen – so weit, bis die Fronten hinter ihr lagen. Heute lebt sie mit ihren sieben Kindern in Dscharamana, in einem nie fertiggestellten Rohbau, hoch oben, wo der Wind durch die Öffnungen pfeift. Kein Strom, kein fließendes Wasser, keine Tür, die richtig schließt. Ihr Kleinster kann nicht sprechen, er bräuchte eine Operation. Dem Sechsjährigen fiel ein Stück Metall vom Balkon auf die Schulter. Niemand half, kein Arzt, kein Krankenhaus.

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Der Vorort Dscharamana als Zuflucht für Binnenvertriebene, zu denen auch Hanan und ihre Kinder zählen

 © Bild: Simon Kupferschmied

Tagsüber zieht Hanan mit ihren Kindern durch die Straßen. Sie sammeln Müll, Pappe, Karton – alles, was sich zu Geld machen lässt. Zwei, manchmal drei Dollar bringt das am Tag. Von dem Ersparten kauften sie eine Batterie für 30 Dollar. Sie liefert schwaches Licht für die Abende, vielleicht für ein halbes Jahr. „Es ist besser als Dunkelheit“, sagt Hanan.

Dscharamana ist für sie und Tausende andere zu einem Ort des Ausharrens geworden. Ein Provisorium und doch längst Normalität. Hier leben die, für die eine Flucht außer Landes nie eine Option war. Kein Geld, kein Pass, keine Beziehungen, keine Chance. Nach Europa kamen nie die Ärmsten der Armen. Die blieben. So wie Hanan.

Ihr ganzes Leben spielt sich auf wenigen Quadratmetern ab: der enge Raum des Rohbaus, die staubigen Gassen, die Müllsäcke, die sie abends sortiert. „Wir leben von dem, was andere wegwerfen“, sagt sie und schaut auf die Batterie, deren Licht flackert. Für viele in Dscharamana ist es das Einzige, was noch funktioniert.

Gewachsen aus Ruinen

Die Straße nach Homs führt durch verbrannte Felder, vorbei an ausgebrannten Tanklastern, zerborstenen Häusern, blinden Fenstern. Syriens drittgrößte Stadt, einst das industrielle Herz des Landes, war eines der ersten Zentren des Aufstands gegen Assad – und bald darauf eine frühe Bastion der Islamisten. Heute gleicht sie einem Mosaik aus Gegensätzen: Völlig verwüstete Straßenzüge grenzen an Viertel, denen man den Krieg kaum ansieht. Zwischen Trümmern wachsen neue Geschäfte, Cafés, Baustellen.

Hier lebt Souzan, 28, Architektin, Christin. Eine Frau mit braunen, lockigen Haaren, lebhaften Augen, entschlossener Stimme. Sie blieb, als fast alle anderen gingen. Inmitten der Zerstörung hat sie im Konvent des Jesuitenordens einen „Garten des Friedens“ geschaffen – einen stillen Ort, der der geschrumpften christlichen Gemeinde von Homs als neues Zentrum dient.

„Ich wollte etwas schaffen, das bleibt und zeigt, dass Schönheit noch möglich ist.

Souzan
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 © Bild: Simon Kupferschmied

Wo einst Raketen und Mörsergranaten einschlugen, ist ein Kleinod entstanden: Wege aus hellem Stein, Wasserbecken, ­Olivenbäume, bunte Mosaike aus Scherben zerstörter Häuser. Souzan hat jedes Detail selbst entworfen, jedes Material mit Bedacht gewählt. „Ich wollte etwas schaffen, das bleibt“, sagt sie. „Etwas, das zeigt, dass Schönheit noch möglich ist.“

Die Arbeit dauerte Jahre. Manchmal fehlte Zement, manchmal Werkzeug, manchmal schlicht Hoffnung. Doch sie machte weiter, organisierte Helfer, überredete Nachbarn, trotzte der Müdigkeit. „Viele sagten, es hat keinen Sinn“, erzählt sie. „Aber wenn man nichts tut, bleibt nur noch Stillstand.“

Jetzt ist der Garten fertig. Kinder spielen dort, Jugendliche machen Selfies vor den Palmen, die ganze Gemeinde feiert in der immer noch lauen Abendluft die heilige Messe im Freien. Für die Christen von Homs ist es ein Stück Normalität – und für Souzan der Beweis, dass Neubeginn möglich ist, selbst auf verbrannter Erde.

Religiöse Eiferer gewinnen Einfluss

Doch Syrien bleibt ein Land ohne feste Ordnung. Die neue Führung gibt sich vorgeblich offen, aber gerade in den Sicherheitsministerien sitzen fast ausschließlich Vertreter islamistischer Kampfverbände. Religiöse Eiferer gewinnen weiter an Einfluss.

Nach 53 Jahren Herrschaft der Assads ist das Land in einen Schwebezustand geraten – gefangen zwischen den Relikten der alten Diktatur und bedrohlichen Vorzeichen einer neuen, deklariert islamistisch ausgerichteten. In einer solchen Ordnung wären Minderheiten bestenfalls geduldet und Freiheit zur bloßen Formel verkommen.

Ein Land im Vakuum

Noch ist nichts entschieden. Syrien verharrt im Vakuum, zerrissen, unbefriedet, aber längst nicht endgültig verloren. Das Machtgefüge ist instabil, manche Grenzen bleiben provisorisch. Die Saudis, Israel, Russland, die Türkei und natürlich Trumps Amerika – alle sichern sich Einfluss. Syrien bleibt so ein Schachbrett, auf dem noch keiner gewonnen hat. Am wenigsten jene, die es bewohnen.

Zwischen Trümmern und Hoffnung, zwischen Angst und Neubeginn suchen die Menschen darauf ihren Weg. Helen, die fliehen will. Hanan, die nicht kann. Souzan, die bleibt und baut. Und jener Rückkehrer, der nur kurz zurückkam. Vielleicht ist dies das neue Syrien – ein Land, das sich selbst noch nicht kennt, aber in den Händen jener liegt, die ihm eine Form zu geben versuchen.

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Christoph Lehermayr

 © Bild: Simon Kupferschmied

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 49/2025 erschienen.

Über die Autoren

allewelt bei Missio Österreich. Bis September 2020 war er Teil des Investigativteams der Rechercheplattform Quo Vadis Veritas – addendum.org. Von 2003 bis 2018 für das Magazin News tätig. Dort leitete er zuletzt das Außenpolitik-Ressort.

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