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Anschober sieht bei ME/CFS "dramatische Vernachlässigung"

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Ex-Gesundheitsminister Anschober fordert mehr Forschung und Versorgung
©APA, HELMUT FOHRINGER
Österreichs ehemaliger Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) sieht bei der Multisystemerkrankung ME/CFS eine "dramatische Vernachlässigung" - und das seit Jahrzehnten. Medizin, Wissenschaft und Gesundheitspolitik müssten nun "ihre Verantwortung wahrnehmen", sagte er im APA-Interview. 2026 müsse zu einem "Jahr der Lösung und Umsetzung" werden. "Erste Priorität" sei die Einrichtung von Behandlungsstellen, auch für Kinder. Und es brauche eine EU-Forschungsinitiative.

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"Wir brauchen Tempo. Es ist etwas in Bewegung gekommen, es ist nicht mehr so wie vor zwei Jahren. Aber wir sind noch Meilen von den Notwendigkeiten entfernt", sagte Anschober angesichts der Unterversorgung von ME/CFS-Betroffenen in Österreich.

Der ehemalige deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach hatte im Juli in einem "Spiegel"-Interview wegen fehlender Versorgung und Forschung bei ME/CFS und Long bzw. Post Covid von einem "Staatsversagen" gesprochen. Anlass war die Inanspruchnahme von Sterbehilfe durch eine schwerstbetroffene Patientin. Darauf angesprochen verwies Anschober auf lange Versäumnisse in Politik, Medizin und Forschung: "Es hat in Wirklichkeit eine sträfliche, dramatische Vernachlässigung in diesen drei Ebenen gegeben über Jahrzehnte hindurch", sagte er. "Das ist die Realität. Und jetzt müssen wir einen Schlusspunkt dahinter setzen."

Wissenschaftlich sei geklärt, dass es sich um eine Erkrankung somatischer (körperlicher) Ursache handle, so Anschober. "Jetzt geht es um die Schaffung der notwendigen Betreuungsstrukturen, die bei anderen chronischen Erkrankungen mittlerweile selbstverständlich sind. Das muss in unserem guten Gesundheitssystem möglich sein."

Das erste und wichtigste Anliegen des Ex-Ministers ist daher die rasche Schaffung von spezialisierten, fachübergreifenden Behandlungsstellen für Betroffene - eine Forderung, die Patientenorganisationen, aber auch die Leiterinnen des Nationalen Referenzzentrums für postvirale Syndrome (PAIS) an der MedUni Wien oft stellten. "Wir brauchen eine Struktur an Behandlungszentren mit ausreichend Möglichkeiten auch für betroffene Kinder. Weil wir wissen, dass es viele Kinder gibt, die betroffen sind", so Anschober.

Dass ein im Vorjahr von Ex-Gesundheitsminister Johannes Rauch (Grüne) und mit allen Stakeholdern gemeinsam ausgearbeiteter Nationaler Aktionsplan für postvirale Syndrome noch immer nicht umgesetzt ist und nun einer neuerlichen Überarbeitung unterzogen wird, schmerzt den Ex-Politiker. Er erwartet sich hier - wie von Gesundheitsstaatssekretärin Ulrike Königsberger-Ludwig (SPÖ) angekündigt - ein rasches Vorgehen bis Jahresende: "2026 muss das Jahr der Lösung und der Umsetzung sein - da sind jetzt auch die Länder ganz stark in der Verantwortung."

Anschober verwies auf andere Krankheiten, für die es zwar ebenfalls noch keine Heilung, aber gute Versorgungsstrukturen mit spezialisierten Zentren gibt - etwa Diabetes oder Multiple Sklerose, letztere mit 137 Zentren in Österreich. "Es geht um ein Gleichziehen mit anderen schweren chronischen Erkrankungen. Es geht um kein Sonderrecht", sagte er. "Es muss Schluss sein mit den Ausreden und jetzt Tempo in die Umsetzung reinkommen. Das ist die erste Priorität." Gefordert sieht er insbesondere die zuständigen Bundesländer.

Als zweiten wichtigen Punkt nannte der Ex-Minister die soziale Absicherung der Betroffenen. "Wir brauchen - ganz, ganz wichtig - eine Lösung der Gutachterfrage", verwies er auf die oftmalige Nicht-Anerkennung der Erkrankungen von Patienten mit ME/CFS oder Post Covid bei den Sozialversicherungen, etwa der Pensionsversicherungsanstalt (PVA).

Insbesondere die Verwehrung von Berufsunfähigkeits- bzw. Invaliditätspension oder (des temporären) Rehagelds stelle ein großes Problem dar, ähnlich verhalte es sich beim Pflegegeld. Derartige Schwierigkeiten bei der PVA hatte erst im Mai eine gemeinsame Recherche von APA, ORF und der Rechercheplattform Dossier aufgezeigt, erinnerte Anschober.

Auch verwies er auf die Forderung nach besseren Schulungen der Gutachter, etwa bei der PVA: "Es ist total wichtig, dass das auch zu einer politischen Verantwortung erklärt wird. Die Regierung hat die Verantwortung, dafür zu sorgen, dass dort, wo es notwendig ist, auch die Gesetze angepasst werden."

Den oftmals von der Politik vorgebrachten Verweis auf die Selbstverwaltung der Sozialversicherungsträger und Aussagen, wonach die Politik daher keine Durchgriffsmöglichkeiten hätte, lässt Anschober nicht gelten. "Das kann keine Flucht aus der Verantwortung sein", politische Verantwortung könne nicht delegiert werden. "Ich setze aber auch auf die vielen engagierten Kräfte in der PVA selbst."

Als dritten dringenden Punkt nannte Anschober eine "echte Forschungsoffensive". Er verwies auch auf private Initiativen wie jene der We&Me-Stiftung der Bäckereifamilie Ströck, die sich der Erforschung von ME/CFS verschrieben hat und in deren Beirat er vertreten ist. Dies habe "einiges in die Gänge gebracht, aber die Forschungsnotwendigkeiten kann man nicht privatisieren", diese seien "auch eine öffentliche Aufgabe".

"Es müsste so etwas wie einen europäischen Forschungsschwerpunkt ME-CFS geben", sagte Anschober. "Lauterbach spricht von einer Milliarde, die in Deutschland notwendig ist. In allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ist das Thema ähnlich." Und es wäre doch "sinnhaft", das zu bündeln - und auch die Pharmawirtschaft "mit in die Verantwortung" zu nehmen, besonders in einer Zeit, "in der der US-Präsident (Donald Trump, Anm.) Forschungsstrukturen in den USA gefährdet und zerstört."

Aus- und Fortbildungsnotwendigkeiten sieht Anschober auch im hausärztlichen Bereich, damit dort das Krankheitsbild als solches überhaupt einmal erkannt wird - und die Betroffenen an (die geforderten) Behandlungsstellen weitergeschickt werden können. Auch würden viele Betroffene selbst nicht an postvirale Erkrankungen denken. All das führe dazu, dass die Verbreitung der Krankheit nicht erkannt wird: "Es gibt in dem System lauter Faktoren der Unterschätzung."

Kritik übte Anschober an der jahrzehntelangen Praxis der Fehldeutung von ME/CFS als psychische Erkrankung - womit Betroffene auch heute noch oftmals konfrontiert sind. "Ich erlebe das so, dass das die schlimmste Form von Nichtanerkanntwerden ist, ein Nicht-ernst-genommen-Werden." Es sei eine "Multiplizierung der persönlichen Katastrophe", wenn Betroffene dieser "katastrophalen Erkrankung" nicht nur um die soziale Absicherung zittern müssten, sondern von manchen auch medizinisch nicht ernst genommen werden.

"Es ist ein System der Abschiebung der Verantwortung entstanden, in diesen letzten Jahrzehnten. Und das muss man durchbrechen." Dass nach wie vor vereinzelte Stimmen der Wissenschaft den Schritt von Schwerstbetroffenen zur Sterbehilfe als Beleg für eine psychische Genese der Erkrankung deuten, verurteilt Anschober: "Suizid ist ja der Aufschrei der Verzweiflung - und den zu instrumentalisieren, ist letztklassig".

Dass es trotz der Klärung über die körperliche Genese der Erkrankung immer wieder Versuche gibt, die Erkrankung anders - psychisch - einzuordnen, sei wohl den Fehlern der Vergangenheit zuzuordnen: "Ich glaube, dass sich wahnsinnig viele Menschen schwer tun, ihre Mitverantwortung für die Vergangenheit anzunehmen." Dies gelte ja auch oftmals für die Politik: "Wir haben keine Fehlerkultur", so Anschober. Für Verantwortungsträger sei es "wahnsinnig schwierig", wenn Dogmen brechen - das sei aber "Teil einer neuen Kultur, die wir brauchen".

"Und deswegen ist es vielleicht auch gar nicht so gut, sich auf die alten Herren, die diese Thesen verbreiten, zu viel zu fokussieren. Sondern hören wir doch diesen vielen Wissenschafterinnen zu, die sehr klar definieren, was Stand der Forschung ist", wie er auch mit Blick auf die beiden Leiterinnen des Referenzzentrums sagte. Die Welt der alten Männer - "ich bin ja auch einer mittlerweile" - zerfalle "schön langsam".

Ein wichtiges Anliegen ist Anschober auch die Prävention bezüglich Infektionen: So wünscht sich der Ex-Politiker den von Experten immer wieder geforderten Einbau von Entlüftungsanlagen bzw. Luftfiltern in öffentlichen Gebäuden wie Schulen - idealerweise gekoppelt mit erneuerbaren Energieanlagen. Dies würde sich auch volkswirtschaftlich rechnen, da es dann generell zu weniger Krankenständen kommen würde, betonte er.

Mit der Corona-Pandemie sind post-akute Infektionssyndrome (PAIS) verstärkt ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt - und damit auch ME/CFS. Die Zahl der Betroffenen stieg (und steigt) auch durch die Covid-19-Erkrankungen stark an. Laut Angaben der MedUni Wien dürften in Österreich aktuell zwischen 70.000 und 80.000 Personen von ME/CFS betroffen sein. Als Auslöser fungieren auch andere Virusinfektionen wie etwa Influenza oder Pfeiffersches Drüsenfieber, u.a. gelten auch Traumata oder bestimmte Medikamente bzw. Toxine als Trigger.

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