Der Weg zur Hölle, heißt es, ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Aber schlechte Vorsätze bringen uns auch nicht weiter. Über Forrest Gump oder: Plädoyer für dosierte Naivität im Grundsätzlichen.
Allenthalben verabschiedet sich die Politik derzeit in den Sommer. In unseren Breiten ist das möglich, anders als an den Orten der Welt, an denen der vertraute Kreislauf der Jahreszeiten durch die Eintönigkeit des Grauens von Krieg, Unterdrückung oder Hunger eingeebnet wurde, und die Zeit zugunsten einer überzeitlichen Gnadenlosigkeit aufgehoben wurde. Der Sommer, den die warmen Tage – schön darf man sie aus Gründen der Klimakorrektheit nicht mehr nennen – und der Schulferienrhythmus zur Haupturlaubszeit gemacht haben, ist für die meisten Menschen eine Phase der Regeneration, der Reflexion und des Plänemachens für eine Zukunft.
Im Sommer werden sogar noch Bücher gelesen, weil es immer noch Menschen gibt, die sich fremde und oft eigenartige Welten innerhalb der Buchstabenleitplanken kundiger Geschichtenerzähler selber ausmalen wollen, statt sie in vorgefertigten Laufbildern zu konsumieren. Im Sommer wollen es die Menschen einfach haben und gleichzeitig haben sie auch die Geduld, sich mit Komplizierterem zu beschäftigen. Im Sommer begreifen viele Menschen, dass man im Loslassen Halt finden kann.
Einfach kompliziert
Über den inneren Zusammenhang zwischen dem Einfachen und dem Komplexen denke ich in diesen Tagen nicht nur deshalb nach, weil Sommer ist und ich vor Kurzem beim Familienfilmabend „Forrest Gump“ gesehen habe, sondern auch, weil mir eine Leserin eine interessante Frage gestellt hat. Es war ein knapper Brief, den mir die Dame zukommen ließ, ich kann ihn deshalb an dieser Stelle vollständig wiedergeben: „Guten Tag/Mich würde interessieren warum man am Anfang eines Artikels das Wort: Allenthalben verwendet wenn es dafür ein einfacher verständliches Wort gibt?/ Danke.“ Dass die Absenderin auf die Nennung ihres Vornamens verzichtete und nur mit dem Nachnamen zeichnete – es hatte etwas Behördliches, wie: „Hattmannsgruber, Revierinspektor“ – verstärkte den Eindruck, dass meine altmodische Ausdrucksweise in der Sprachseele der Absenderin hart an der Grenze vom Störenden zum Empörenden zu liegen gekommen sein muss.
Zunächst: Die Leserin hat recht, es wäre sehr oft möglich, etwas mit einfacheren Begriffen zu beschreiben, als viele Schreibende es tun, und die Antwort auf die Frage, warum es gelegentlich dennoch getan wird, gleicht der Antwort auf die Frage, warum viele Menschen im Sommer Bücher lesen: Manchmal ist es schön, sich nicht mit dem Einfachsten zu begnügen. Gleichwohl – ich hoffe, die Verwendung des Wortes „gleichwohl“ stört hier niemanden, wiewohl es sicher auch unkomplizierter ginge – lässt sich im Einfachen, das vielleicht sogar einfältig daherkommen mag, gelegentlich eine große Tiefe erreichen, und damit wären wir bei „Forrest Gump“.
In seinem Lauf durch die amerikanische Nachkriegsgeschichte, von dem Forrest an der Bushaltestelle fremden Menschen erzählt, erzählt er uns alles über uns. Der als Dorftrottel verachtete Naivling, dessen unbeholfenes Stolpern durch die amerikanische Weltgeschichte auch an den traurigen Stellen zum Erkenntnislachen ist, erinnert uns Europäer an eine Figur, mit der wir seit dem Mittelalter vertraut sind. Es ist der „thumbe Tor“, den Wolfram von Eschenbach zu Beginn des 13. Jahrhunderts in seinem „Parzival“ beschrieb und den Richard Wagner dem Musiktheaterpublikum für immer ins Gemüt (an dieser Stelle vielleicht eher: ins Gemüth) gesenkt hat.
Im Sommer begreifen viele Menschen, dass man im Loslassen Halt finden kann
Gewiss, Forrest Gump ist nicht wie Parzival auf dem Weg vom Naivling zum Gralskönig, Forrest macht sich im Unterschied zu Parzival durch die naive Befolgung von Ratschlägen und Befehlen nicht schuldig, sondern berühmt und reich (es ist eben Amerika, nicht Europa), er bedarf nicht der Läuterung, um seine eigentliche Mission zu erfüllen, aber er zeigt auf beeindruckende Weise, dass man nicht besonders intelligent sein muss, um das Wesentliche zu begreifen. „Ich bin vielleicht nicht klug“, sagt er einmal, „aber ich weiß, was Liebe ist.“
Was Forrest Gump mit der Sommerpause in der österreichischen Politik zu tun haben soll, möchten Sie wissen? Alles und nichts, denn einerseits habe ich in meiner stürmischen Jugend einen Teil der heimischen Politik als Dorftrottelolympiade mit der Devise „Dabei sein ist alles“ verunglimpft, wofür ich mich heute aus unterschiedlichen Gründen ein bisschen geniere, und andererseits möchte man sich in der Politik ein paar Typen wünschen, die sich der technokratisch aufgemotzten Scheinkomplexität des Betriebs mit einer Naivität im Grundsätzlichen entgegenstellen.
Der Weg zur Hölle, sagt ein Sprichwort, das die Zyniker gerne zitieren, ist mit guten Vorsätzen gepflastert, und der Politologe Stephen Walt beschrieb die Probleme der amerikanischen Außenpolitik und das Ende der amerikanischen Vorherrschaft vor einigen Jahren mit dem wunderbaren Titel „The Hell Of Good Intentions“. Ich fürchte nur, dass schlechte Vorsätze die Welt auch nicht unbedingt weiterbringen. Wenn ich mir gelegentlich politische Diskussionen im Fernsehen gönne, dann wünsche ich mir, wir würden etwas mehr Forrest Gump und etwas weniger Peter Westenthaler wagen. Und zwar allenthalben.
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