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Ende und Anfang der Wiener Festwochen

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Heinz Sichrovsky

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Der erste Durchgang unter dem Intendanten Milo Rau ist bestanden. Das Publikum ist, auch dank rabiater Marketingmaßnahmen, zurückgekommen, die Aufregung war erheblich. Heinz Sichrovsky zieht freundlich-skeptische Bilanz.

In der Vorwoche ist mir, es kann Ihnen nicht entgangen sein, in sportiver Anmut die neue "Josefstadt"-Direktorin dazwischengegrätscht. Allen, die meine diesbezüglichen Enthüllungen – teils analog, teils digital, aber jedenfalls kollegial – zitiert haben, danke ich höflichst und verspreche Gegenseitigkeit. In der laufenden Kalenderwoche wiederum legen wir eine Ermattungspause in Gestalt eines Doppelheftes ein. Ich aber nicht, denn ich habe noch eine Rechnung offen: mit dem Intendanten der Wiener Festwochen, dem charmanten Rabiatschweizer Milo Rau, der seinen ersten Durchgang soeben bewältigt hat. Wenn Sie mich nun fragen, ob es mir gefallen hat, so antworte ich: Mich fragen Sie? Mir gefallen zunächst die 95 Prozent Auslastung dank rabiater Präsenz und Handschrift, nicht zu vergleichen mit den todlangweiligen Tourneeabspielprogrammen der Vorjahre, in denen sich alles in die Weltkulturhauptstadt geschleppt hat, was anderswo gerade vor ein bis zwei Jahren aus der Mode gekommen war.

Heuer hingegen ist man um die Festwochen nicht herumgekommen. Von der Eröffnung weg, wo man uns mit Ermordung bedroht hat, waren die Ereignisse auf Konflikt gebürstet. Die verheerende Antisemitismus-Debatte, von der wir uns besser für die nächsten 1.000 Jahre ferngehalten hätten, wurde über Bürgerräte und Gerichtsprozesse importiert. Wobei ich hier zu unterscheiden habe: Die virtuelle Anwesenheit der Schriftstellerin Annie Ernaux schmückt jedes Kulturereignis, mag die Literaturnobelpreisträgerin auch die verwerfliche BDS-Bewegung unterstützen. Sonst randaliert nächstens wieder ein kultureller Primat gegen eine Ehrung für Peter Handke oder ein Museum für Gottfried Helnwein, weil ihm deren Positionen nicht zu Gesicht stehen. Aber den griechischen Altpolitiker Varoufakis einzuschleppen, der für Geld weltweit den Tingelantisemiten macht: Das ist nah an der Fahrlässigkeit. Gegen diesen Griechen, so erfuhren wir, bestünden im Sinne der Meinungsvielfalt keine Vorbehalte. Aber ein anderer Grieche musste gehen: Der Weltdirigent Teodor Currentzis hätte nach Putins Überfall auf die Ukraine sein in St. Petersburg stationiertes Ensemble MusicAeterna nur verlassen müssen, und der gesamte Westen wäre ihm offengestanden. Dann hätte er aber 200 Musiker ins Nichts geschickt. Also ist er geblieben, hat nie ein Putin-freundliches Wort verloren und auf Tourneen deutliche pazifistische Zeichen gesetzt. Dennoch wird er zusehends isoliert. Bei den Festwochen hätte er nun mit seinem deutschen Orchester Brittens pazifistisches Leuchtturmwerk „War Requiem“ dirigieren sollen. Das hat aber einer ukrainischen Dirigentin nicht gepasst, und statt sie in Freundschaft gehen zu lassen, wurde Currentzis hinausgeworfen, was mir mit dem Anforderungsprofil eines Intendanten auch dann nicht kompatibel erschiene, wenn der nicht rund um die Uhr den todesverachtenden Rächer der Enterbten aller fünf Kontinente gäbe.

Inmitten der bedrängendsten Dirigentenkrise aller Zeiten auf das Ausnahmeformat Currentzis zu verzichten, erschien mir stets aberwitzig. Bis ich bei den Festwochen Milo Raus Inszenierung des Mozart’schen "Titus" sah, in der es um alles, nur nicht um Mozart ging. Eine jammervolle Sängerbesetzung erzeugte die kaum wahrgenommenen Nebengeräusche zu antikolonialen Schwafelmanifesten auf bühnenhohen Videowänden. Selbst die kundige Camerata unter dem namhaften Thomas Hengelbrock verlor sich, ohne Spuren zu hinterlassen. Das war schlimm genug, andererseits: Es gibt heuer einen großartigen „Titus“ bei den Salzburger Festspielen und einen sehr guten in der Staatsoper – warum bei solchen Alternativen nicht auch einmal einen grottenschlechten zeigen?

Die Kritiken waren überwiegend katastrophal. Aber einige wenige Stimmen, die sich in das allgemeine Einverständnis mengten, haben mich alarmiert. Ein Kollege vergaß inmitten einer endlosen Eloge zur Regie den Dirigenten zu nennen, auch andere taumelten mit dem Begleithund durch das undurchdringliche Dunkel der Grundbegriffe. Schlimmer wurde es noch beim zweiten Operngastspiel, einer Tanzperformance von Florentina Holzinger zu Hindemiths "Sancta Susanna". Das Werk wurde immerhin als Teil des Ganzen aufgeführt. Aber wäre nicht die Konzertmeisterin kollabiert, hätte ich in kaum einer Rezension einen Hinweis darauf gefunden, dass hier überhaupt ein Orchester mit dirigierenden bzw. singenden Begleiterscheinungen amtiert hat.

Hier braut sich etwas zusammen. Vor zwei Jahren schon hat mich der angestellte Kulturredakteur eines namhaften Mediums gefragt, ob ich die Uraufführung des "Rosenkavaliers" in der Staatsoper zu besuchen gedenke. Als ich einwandte, trotz meines vorgeschrittenen Alters 1911 noch nicht einsatzbereit gewesen zu sein, berichtigte er auf "Premiere". Auch die allerdings, unter Bernstein und Schenk, habe ich 1968 auf dem Stehplatz noch knapp versäumt.

Und das ist das eigentlich Bedrohliche: Unmusikalische und dilettantische Opernregisseure haben rezensierende Quereinsteiger angestiftet, es ihnen gleichzutun. Musikkritiker: Das war einmal einer, der sich bis zur ersten professionellen Hervorbringung auf dem Stehplatz ein Repertoire von 1.000 Vorstellungen angestaut hatte. Mit seiner Expertise war er der Schrecken aller Partys und Familienfeiern, keiner außer seinesgleichen wollte mit ihm diskutieren. Der jetzt drohend sein Recht behauptende Quereinsteiger ist, in vier Worte gefasst, der Anfang vom Ende.

Wohin wir zu treiben drohen, habe ich als (nach beharrlichem Widerstand weichgeredeter) Mitwirkender zweier so genannte Festwochen-Prozesse erfahren. Mitbürger:innen mit Gender-Doppelpunkt, aber ohne Ahnung, entschieden da per Handzeichen über kulturelle Materien, deren Kompliziertheit die Branchenelite glühen lässt. Einer verlangte, man möge Gauguin "canceln", weil er 1903 infolge tödlicher Erkrankung in Polynesien nicht mehr nach #Metoo vor Gericht gestellt werden konnte. Nie sah ich den AMS-begleiteten Analphabeten im Soziologie-Bachelor drohender auf die Kunst eindringen als da.

So weit sind die Festwochen noch nicht, obwohl den Handhebern künftig mehr Rechte eingeräumt werden sollen. Milo Rau ist ein bedeutender Regisseur, seine Theaterarbeiten haben Kraft und Eigenart. So wie viele Programmpunkte heuer auch, denen Könnerschaft und Verstörungswucht nicht abzusprechen war. Aber dass Kunst mit Verfeinerung zu tun hat, mit herausragenden künstlerischen Leistungen: Das konnte ich nur an zwei Gastspielen ausmachen, Elfriede Jelineks "Angabe der Person" aus Hamburg und Peter Brooks hinterlassenem "Sturm"-Projekt. Für beide haben sich die Festwochen in der Schlussbilanz quasi entschuldigt: Ohnehin sei auch konservatives Theater zu sehen gewesen. Konservativ! Haben denn nicht Jelinek und Brook so radikal in die jüngere Theatergeschichte eingegriffen wie nur noch Brecht, Stanislawski oder Beckett?

Womit die Situation geklärt ist: Die Wiener Festwochen, in deren Rahmen Harnoncourt, Bondy, auch Schlingensief auf Höchstniveau Geschichte geschrieben haben, sind selbst Geschichte. Wir bekommen etwas anderes, gleichfalls legitimes und anregendes, das genügend Menschen interessiert, um seine Existenz zu rechtfertigen. Die mindestens zehn von zwölf Monaten pulsierende Kulturmetropole Wien kann, soll, wird diese sechs Wochen ertragen.

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