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2021 hat die dies- und jenseits der schweizerisch-österreichischen Grenze Aufgewachsene ihr Romandebüt vorgelegt. In der märchenhaften Liebesgeschichte "Greta und Jannis" schlug sie einen neuen, geradezu unheimlich sanften Ton an und formulierte ihr Ziel so: "Wenn es das Buch schafft, dass die Leser ein Stück weit behutsamer zurückbleiben - das glaube ich eben, dass das Literatur kann -, und behutsamer mit ihren Mitmenschen umgehen, dann habe ich viel erreicht."
Behutsam gehen die Menschen zumindest in "Chimäre" miteinander um. Äußere Umstände lassen auch gar nichts anderes zu. Der Klimawandel hat die Erde verändert. "Im Norden weitum unter Wasser, im Süden am Glühen, ist die Erde für Zugvögel nur noch ein Streifen Land und Luft dazwischen." Ein Kolleg auf einer Flussinsel wird zu einer Art Arche Noah. Hier betätigen sich Lehrer, Schülerinnen und Schüler als Bewahrer von Fauna und Flora. Sie sammeln und archivieren Samen, zeichnen Pflanzen, kümmern sich um Fische und Vögel. Und sie sind nicht nur zur Natur, sondern auch zueinander lieb.
In der behutsamen Annäherung wird häufig sanft über Oberflächen gestrichen. Ob es sich dabei um Haut, Blattwerk, Rinden, Schuppen oder Federn handelt, lässt sich mitunter nicht ohne weiteres bestimmen. Alles fließt, und auch die Grenzen verschwimmen - zwischen Menschen und Tieren, zwischen den Geschlechtern (eine der Personen heißt mal Alice, mal Alois), zwischen den einzelnen Individuen. In der Beschreibung der Natur versucht Kuratle neue Wege zu gehen - und lässt zwischen ihren poetischen Bildern irritierenderweise gerne die Verben weg. Dafür wird Kursivsetzung für direkte Rede verwendet.
Seit längerem versuchen Autorinnen und Autoren angesichts dessen, was Menschen der Natur antun, dieser in ihrem Schreiben eine Stimme zu geben. "Nature writing" hat man die dazu passende Schublade etikettiert, und Kuratle hat keine Scheu, in ihren Versuchen ganz weit zu gehen. Gefühlen wird gegenüber Geschichten der Vorrang gegeben. Abstand und Distanziertheit kennt ihr Schreiben nicht. "Chimäre" ist eine Aneinanderreihung von Close-ups. Sie rückt ihren Gegenständen, ob Mensch, Tier oder Pflanze, immer ganz nahe auf den Leib. Die Intimsphäre wird zur Begegnungszone im Streichelzoo, und dort die einzelnen Protagonisten auseinanderzuhalten ist bei der Lektüre nicht ganz einfach.
Doch es gibt nicht nur das Inselleben. Ein Ausflug in die Stadt bringt neue Erfahrungen, aber kaum neue Erkenntnisse. "Chimäre" ist keine Klima-Dystopie, die sich mit leichtem Gruseln und konkreten Vorstellungen die Zukunft ausmalt, sondern ein Mischwesen aus Angst und Hoffnung. Alles ist im Fluss, und deshalb muss sich auch der Mensch ändern, lautet die These - in seiner Haltung zur Natur, aber auch im Umgang miteinander. Symbiose statt Ausbeutung. Wohin die Reise geht, ist ungewiss. Auch Sarah Kuratle weiß darüber nicht viel mehr. Aber sie geht schon mal voraus und hält Ausschau.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Sarah Kuratle: "Chimäre", Otto Müller Verlag, 156 Seiten, 23 Euro, https://www.sarah-kuratle.com/)
SALZBURG - ÖSTERREICH: FOTO: APA/APA / Otto Müller Verlag