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Dabei macht Ebrahimi das Schreiben der Rede selbst zum Thema. So hatte sie eigentlich vorgehabt, in ihrem Text herauszuarbeiten, "dass noch nicht alles verloren ist, dass noch irgendetwas Sinn macht, vor allem, natürlich, die Literatur". Doch dann stolperte sie am 7. Mai über einen Essay der kanadischen Kapitalismuskritikerin Naomi Klein, in dem sie sich gemeinsam mit der Autorin und Bürgerrechtlerin Astra Taylor Gedanken über den "Aufstieg des Endzeit-Faschismus" macht: Ein von Superreichen wie US-Präsident Donald Trump oder Tech-Milliardär Elon Musk praktiziertes Denken, das die drohende Klimakatastrophe bewusst in Kauf nimmt, um sich elitär in exklusive Rückzugsräume zu retten. "Nachdem ich den Essay gelesen habe, bin ich am Boden zerstört", so Ebrahimi. "Mich macht fertig, wie abgrundtief egal den mächtigsten Menschen der Welt die Welt ist."
Als dann auch noch ein Anruf vom ORF kommt, wie der Titel der Rede lautet und ob man sie vorab lesen dürfe, fühlt sich Ebrahimi außerstande, an ihrer geplanten Rede weiterzuarbeiten. Würde sie ihren Text in diesem Zustand schreiben, würde es eine "fatalistische, deprimierende Rede" werden. Auch der folgende Tag eignet sich wenig, um an einer optimistischen Rede zu arbeiten. Es ist der 8. Mai, vor 80 Jahren endete der Zweite Weltkrieg, Ebrahimi sitzt im Auto Richtung Bayern und denkt beim Radiohören über einen Text des KZ-Überlebenden Thomas Geve nach und was aus der Zukunft geworden ist, die er sich zu Kriegsende erträumte. Als dann auch noch der neue Papst vorgestellt wird und die Radio-Journalisten ausführlich diskutieren, ob der neue Papst die Mozetta anlegen würde, fragt sich Ebrahimi, "was ein Mensch über diese Mozetta-Diskussion denken würde, der gerade in Gaza verhungert".
Am dritten Tag steht schließlich das private Drama im Fokus. Ebrahimi ist beim Begräbnis jener jungen Regisseurin, die ihren Bachmannpreis-prämierten Text "Der Cousin" in New York hätte verfilmen sollen, aber kürzlich verstorben ist. Nach der Trauerfeier spricht die deutsch-iranische Autorin mit einer israelischen Tänzerin über den Schmerz über den aktuellen Krieg, beide versuchen, die Schuldfrage nicht zu streifen. Am Abend erfährt die Autorin vom Tod von Margot Friedländer. "Es erscheint mir wie ein Menetekel, dass Margot Friedländer ihre Mahnung ab jetzt nicht mehr erneuern kann, dass ihre Stimme ausgerechnet jetzt zu verhallen droht, und zu viele Regierende glauben, diese zwei Wörtchen nun endgültig vergessen zu können", schreibt Ebrahimi, die sich bei der Abgabe des Textes fürchtet, was zwischen dem 12. Mai und dem heutigen 25. Juni noch alles geschehen würde. Die jüngsten Ereignisse bleiben eine stumme Leerstelle.
Am Ende der Rede, die auch als 32-seitiges Büchlein in der Edition Meerauge erschienen ist, stand ein Appell an die versammelten Autorinnen und Autoren: "Wir nehmen uns die Freiheit, zu gestalten. Das zu erkennen, ist der erste Schritt in die Literatur. Und das zu erkennen, ist der erste Schritt in eine menschliche Zukunft. Reizen wir diese Freiheit aus, endlich."
(S E R V I C E - https://bachmannpreis.orf.at)