Jetzt hat auch dieses Literaturjahr sein Ereignis. Die deutsche Filmregisseurin Laura Laabs debütiert mit der betörenden Wende-Geschichte „Adlergestell“ als Romanautorin. Wohin trägt es drei kleine Mädchen, denen die Weltgeschichte in den ersten Schultag fährt?
Vielleicht geht es Ihnen am Ende der Bachmann-Wettbewerbe wie mir: Ich verlasse den Austragungsort fast immer mit zartem Groll, manchmal auch mit Adoptionspapieren im Kopf. Sie betreffen Texte, die bei der Jury nicht einmal die Vorrunde erreicht haben, obwohl sie so schön sind, dass mir Sprachvernarrtem das Herz klopft. Häufig wurden sie als „konventionell“ weggepunktet. Und im Widerstand gegen dieses Substrat aus verbrauchter Luft habe ich Sie heuer wieder auf die Nachverfolgung eines besonderen Textes eingeschworen.
Jetzt ist der Roman „Adlergestell“ beim Klett-Cotta-Ableger Tropen erschienen, und er löst alles ein, was der betörende Klagenfurter Anreißer versprochen hat. Deshalb nun der antizyklische Rücksturz in den überhitzten Vorsommer.
Aufbruch in die neue Zeit
Das Adlergestell ist eine Ost-Berliner Ausfallsstraße, von der im Wendejahr 1990 drei Mädchen in die neue Zeit aufbrechen. Lenka, Chaline und die Ich-Erzählerin suchen gerade hinter kindhohen Schultüten Deckung vor dem anrollenden Ernst des Lebens. Da gibt es das Land, in das sie geboren wurden, nicht mehr.
Während sich der flüssig gefüllte Sauerkaugummi Center Shock marketingtechnisch perfekt als geschmacksexplosiver Durchbruch zur Freiheit positioniert, stürzt ein Stein von der Autobahnbrücke und durchschlägt die Scheibe eines Mercedes. Eines der drei Mädchen war es, und 35 Jahre später nimmt die Erzählerin die Spur der schlagartig ans Ende gekommenen Freundschaft auf.
Geschichte schmecken
Klar habe sie aus ihrer Biografie geschöpft, sagt die 1985 ins damalige Ost-Berlin geborene Filmregisseurin und Schriftstellerin Laura Laabs. Das Adlergestell war ihr Kindheitsbiotop, auch der Zeitrahmen stimmt mit einer kleinen Unschärfe. Sie habe, sagt Laura Laabs, den Einfluss der großen auf ihre eigene, kleine Geschichte befragen wollen. Anfühlbar solle das vor dreieinhalb Jahrzehnten Geschehene werden, haptisch, sinnlich, als Geschmack.
Und welch ein Bürde gewordenes Privileg sie in die neue Zeit zu schleppen hatte! Einer der Urgroßväter war ein Nazi-Bagatellverbrecher, einer der Gr0ßväter ein namhafter Journalist und inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Geheimdiensts, verheiratet mit der jüdischen Gründerin des volkseigenen Lifestyle-Periodikums „Sibylle“. Beide publizistisches Establishment des Arbeiter- und Bauernstaats, bis sie „Außenseiter und Angegriffene“ wurden. Die Kindheitsorte, auch die Wohnung am Adlergestell, waren plötzlich Rückübertragungsfälle an Vorbesitzer aus dem Westen.
Dass die Ich-Erzählerin des Romans am Ende mit der AfD durch die Straßen marodiert, führt doch nicht etwa auf einen heimlichen Seitenstrang der autobiografischen Fährte? „Klar nein. Ich komme aus einer antifaschistischen Familie, das wäre schon ein sehr harter Bruch. Aber ich kenne Menschen in meinem eigenen Umfeld, die nach rechts abgebogen sind. In dem Ort, in dem ich wohne, liegt die AfD bei 47 Prozent, es ist Teil meiner konkreten Lebensrealität.“ Sagt Laura Laabs, die sich per WhatsApp aus dem mobiltelefonisch benachteiligten Örtchen Bad Kleinen in Mecklenburg-Vorpommern meldet. Hier lebt sie und dient sich gern ungebeten als Aushilfe in der Kneipe an, wenn sie nicht am Zweitwohnsitz Berlin benötigt wird.
Deutschland ist das Land, das die Chance, ein besseres zu werden, immer wieder verpasst
Wende wohin?
Die Enttäuschung über das Resultat der Wende sei keine milieugebundene, fährt sie in der Analyse fort. Und nicht nur, weil der Anteil ostdeutscher Entscheidungsträger im Land stabil bei zwölf Prozent verharrt. „Auch weil es eine Generation von demokratisch Bewegten in der DDR gab, die eine Wende wollten, aber nicht unbedingt eine Wiedervereinigung. Es gab die Hoffnung auf einen demokratischen Sozialismus.“
„Wir sind das Volk, für Sozialismus und Demokratie“, lautete die Standortbestimmung am Beginn der Zeitenwende, ehe der bestimmte Artikel „das“ folgenreich dem Zahlwort „ein“ wich. Aber gewählt wurde im März 1990 die CDU. „Ich muss also anerkennen, dass die Ostdeutschen ihren Sozialismus für 100 DM Begrüßungsgeld und einen Gebrauchtwagen aufgegeben haben“, sagt Laura Laabs. „Deutschland ist das Land, das die Chance, ein besseres zu werden, immer wieder verpasst.“ Wo sie sich heute sieht? Wirtschaftlich als Kommunistin, weil die Antworten des Kapitalismus wirtschaftlicher, nicht menschlicher Art seien. Sahra Wagenknecht? Habe mit ihrer Flüchtlingspolitik die Grenzen des Humanistischen, „damit des Linksseins“, verloren.
Um Rammsteins Willen
Von der Kunst leben zu wollen, war immer eine kühne Vision. Mittlerweile gelingt es ihr halbwegs. Ihr Spielfilm „Rote Sterne überm Feld“, der ein Jahrhundert ostdeutscher Geschichte zum bedrohlichen, hoch poetischen „Traumspiel“ (FAZ) verdichtet, wurde im Jänner mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichnet, dem Höchsten, was jungen Filmschaffenden im deutschen Sprachraum zugedacht werden kann. Vier Monate später wollten „Aktivisten“ den Einsatz des Werks unterbinden lassen, weil Till Lindemann von „Rammstein“ lang vor seinen Gewaltkalamitäten eine kleine Rolle übernommen hat.
Die Diskussion will Laura Laabs nicht in Zweifel ziehen. „Aber gerade das Zeigen auch von neuralgischen Punkten, auch von Schmerz, ist Aufgabe der Kunst. Das Rausschneiden, Unter-den-Teppich-Kehren bei einem Film, der sich mit Geschichte und Geschichtsklitterung beschäftigt, wäre die falsche Entscheidung.“
Die Förderung für den nächsten Film, ein „DDR-Kolonisierungsmusical“, ist schon zugesagt. Und das Buch, mit dem Ingeborg Bachmann so viel Vergnügen hätte wie Erich Kästner oder Kurt Tucholsky, wird ultimativ zur Lektüre empfohlen.
Adlergestell
Ost-Berlin. Herbst 1990: Drei Freundinnen bangen dem ersten Schultag entgegen. Da gibt es quasi über Nacht ihr Land nicht mehr, und ihre Schicksale streben in drei Himmelsrichtungen.
Laura Laabs’ fabulöses Romandebüt erscheint bei Klett-Cotta/Tropen und ist ab 16. August zum Preis von € 24,70 erhältlich.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 33+34/25 erschienen.