Die Gegend, in der Robert Prevost aufwuchs, ist heute verelendet. Am anderen Ende Chicagos prunkt das Gästehaus für hohe geistliche Würdenträger wie den häufigen Heimkehrer Prevost. Ein paar Häuser weiter wohnte unser Kolumnist.
Bis vor einer Woche konnte man das ebenerdige Einfamilienhaus, das wie eine Zündholzschachtel mit einem kleinen Garten zwischen kleineren und größeren Häusern in der schnurgeraden Straße liegt, um 245.000 US Dollar erwerben – 212 East, 141st Place in Dolton, einem Vorort im Süden von Chicago. 100 Quadratmeter, drei Schlafzimmer und drei Bäder. Das Haus, in dem Robert Francis Prevost aufwuchs, jetzt Papst Leo XIV.
Dolton
Dolton ist einer der flachen, langweiligen Vororte von Chicago, die sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch veränderten. Als Prevost hier als ältester von drei Söhnen aufwuchs – Louis, sein Vater, Direktor einer katholischen Schule, Millie, seine Mutter, Bibliothekarin, sie gründete den Kirchenchor –, hatte Dolton 25.000 Einwohner. Die Familien fast ausschließlich Nachkommen italienischer und irischer Einwanderer. Ein Zentrum des Katholizismus von Chicago mit einem lebendigen Kultur- und Sozialleben, Straßenmärkten und Weihnachtsbeleuchtung, gut besuchten Kirchen, Bäckereien und Restaurants und nahezu null Kriminalität.
Die Bevölkerung heute repräsentiert die Veränderung des Südens von Chicago, wo etwa eine Million Schwarze leben. Europäische Familien zogen in den Norden, Afroamerikaner kamen aus den Südstaaten. Von den heute noch 20.000 Bewohnern sind 90 Prozent Schwarze. Restaurants, Kinos und Märkte verschwanden. Die Pfarrei St. Mary, wo Prevost als Ministrant die Messe begleitete, verfällt und ist längst geschlossen. Ebenso die katholische Schule, die sein Vater leitete. Gegen die Bürgermeisterin Tiffany Henyard hat das FBI eine Untersuchung wegen Korruption eingeleitet.


Das Geburtshaus im heute verelendeten Vorort Dolton stand bis vor Kurzem zum Verkauf.
© Getty ImagesHyde Park
In der Nähe des ehemaligen Wohnhauses der Familie Prevost gibt es noch Andy’s Hot Dog, einen Take-out-Chinesen und ein Waffengeschäft. Der Index für Gewaltverbrechen liegt in Dolton bei 37/100.000 Einwohner, der US-Durchschnitt bei 22.
Prevost besuchte die Elementary School in Dolton, die High School im Saint-Augustine-Seminar in Michigan und studierte Mathematik und Philosophie an der Villanova University in der Nähe von Philadelphia. Dann kehrte er nach Chicago zurück, wieder in den ärmeren Süden der Stadt, an den er, wie er oft betonte, wunderbare Erinnerungen habe. Er studierte an der Catholic Theological Union, einer der größten katholischen Universitäten für Priester in Amerika. Sie liegt im Stadtteil Hyde Park, direkt am Lake Michigan, mit einer besseren Infrastruktur und weniger Kriminalität als Dolton – immer noch im südlichen Black Belt of Chicago. Am 19. Juni 1982 empfing er dort das Sakrament der Priesterweihe.
Astor Street
Ortswechsel. Im Norden des Stadtzentrums liegt die Gold Coast, die schönste und teuerste Wohngegend von Chicago. Inmitten der Gold Coast, zwei Blocks vom Lake Michigan, die wohl berühmteste Straße der Stadt – North Astor Street. Nur etwa 500 Meter lang, sieben Minuten zu Fuß, von East Division Street im Süden bis zum East North Boulevard im Norden. Dazwischen einige der ältesten und teuersten Prachtbauten des historischen Stadtzentrums.
Ich wohnte an der Ecke Division und Astor. Nicht in einer der herrlichen Villen, sondern im ersten Stock eines älteren siebenstöckigen Apartmentblocks, der den großen Brand 1871 überstanden hatte. Am Ende der Straße, Ecke Astor und North, steht The Cardinal Mansion, ein imposantes Gebäude, wo Kardinäle und Bischöfe wohnen und ihre Gäste empfangen. Patrick Feehan, erster Erzbischof von Chicago, ließ die Residenz 1885 erbauen. Papst Johannes Paul II. wohnte hier, und Präsident Roosevelt zog sich hierher zurück, um sich von der Hektik in Washington auszuruhen. In den oberen Stockwerken residiert das katholische Oberhaupt, ebenerdig sind mehrere Wohnungen für hohe Gäste und Besucher. Naheliegenderweise auch für Prevost, wenn er sich in Chicago aufhielt, wo er zwischen 1999 und 2013 Provinzialprior des Augustinerordens gewesen war. Gesellschaftlicher Höhepunkt ist das Weihnachtsfest in der Kardinalsvilla mit mehr als 200 Gästen.


Der Pontifex in spe in der Schule
© St. Mary of the Assumption SchoolLincoln Park
Überquert man den North Boulevard, beginnt gegenüber der Villa der endlos lange, wunderbare Lincoln Park mit dem Zoo von Chicago. Von meinem Apartment auf dem Weg zum Zoo ging ich mit meinen Kindern an der Villa der Kardinäle vorbei, meist an Wochenenden, wenn es nicht im Winter minus 20 Grad hatte. Wir Nachbarn der Kardinäle nannten es scherzhaft „The 19 Chimney House“ – die gigantische Villa hat 19 Rauchfänge.
Manchmal blieben wir stehen und bewunderten die ehrwürdigen Männer in langen weißen, schwarzen oder roten Gewändern, wenn sie aus dunklen Limousinen ausstiegen. Manchmal gingen sie im Park spazieren, grüßten freundlich und sprachen ein paar Worte mit meinen Kindern. Ob der jetzige Papst unter ihnen war, wer weiß das schon?
Trotz der vielen Jahre, die Prevost in Südamerika verbracht hatte, nannte er Chicago immer seine Heimat. Für Chicagoer – und damit auch zum Teil für mich – ist er „unser“ Papst, wie Bürgermeister Brandon Johnson betonte: „Der Papst ist aus Chicago. Das ist ein besonderes Ereignis für unsere Stadt. Gott segne Chicago. Gott segne Papst Leo XIV.“
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 20/25 erschienen.