Einst ein kollektiver Albtraum provinzlerischen Selbstgenügens, haben die Sommerspiele in Österreich qualitativ enorm zugelegt. Auch wenn man Salzburg als eigenes Universum ausnimmt, präsentiert sich die kulturelle Sommerfrische mit großen Besetzungen. Spektakulär: St. Margarethen wagt sich in großer Besetzung erstmals an Wagner. Und News hat den Überblick.
Wenn einem das riesige Angebot einmal kompakt vor Augen steht, wird einem erst bewusst, was da im ganzen Land möglich ist, während die Riesenunternehmen vom zehnmonatigen Hochbetrieb ausdunsten: Das kultursommerliche Österreich repräsentiert in erstaunlich vielen Fällen ein Niveau, das dem des Regelbetriebs nicht nachsteht, wenn nicht gar fallweise überlegen ist. Auch wenn man die Salzburger Festspiele als eigenen Kosmos vom Vergleich ausnimmt.
Wenn etwa der Pianist Florian Krumpöck sein Sommerprogramm im Panhans auf dem Semmering eröffnet, würde man sich als Kulturmensch gern am Spielort einmieten, um Lars Eidinger, Klaus Maria Brandauer, Senta Berger oder Michael Maertens nicht zu versäumen. Leider ist das Hotel eine Baustelle, nicht anders als das konkurrierende Südbahnhotel, dem Paulus Manker 2023 einen triumphalen Sommer geschenkt hat, ehe das Gastspiel in einer Prozessflut unterging. Dafür probt dort Intendantin Maria Happel jetzt auf drei Etagen den „Sommernachtstraum“ – die Außenstelle der Festspiele von Reichenau ist heuer deren heimliches Zentrum. Auch was im Stammhaus am Fuß der Rax geboten wird, brächte jeder Wiener Spitzenbühne Aufmerksamkeit.
Niederösterreich, vormals ein Paria der Kulturwelt, wurde zu Erwin Prölls Zeiten quasi blitzentwickelt. 520.000 kamen im vorjährigen Kultursommer, und zu genieren gibt es zwischen Grafenegg, einer Turrini-Uraufführung in Perchtoldsdorf und den Opernfestspielen von Gars und Klosterneuburg fast nichts.


St. Margarethen. Turmhohe Wellen, das zerfallende Schiff des Verfluchten, oben die privaten Räume: Wagners „Holländer“ ankert im Burgenland
© Bild: Ricardo HerrgottProvinz wird Hauptstadt
In Oberösterreich hält die frühere Burgtheaterdirektorin Karin Bergmann mit Joachim Meyerhoff, Philipp Hochmair, Nicholas Ofczarek und Georg Nigl bei den Salzkammergut-Festwochen in Gmunden exemplarisch dagegen. Und die kühne, virtuose „Jedermann“-Dekonstruktion des vielfach preisgekrönten „Theaterzeit“-Festivals in Freistadt wäre schon in ihrer früheren Fassung mancher Veranstaltung auf dem Domplatz vorzuziehen gewesen.
Im sommerlichen Tirol verkörpern die von Jonas Kaufmann geleiteten Festspiele von Erl, ein europaformatig besetzter „Zerbrochner Krug“ in Telfs und die Innsbrucker Festwochen alter Musik in Innsbruck jenen Standard, um den in mancher Metropole mit schwankendem Resultat gerungen wird.
Paradiese für Halbschuhtouristen
Was sich da in überblickbarem Zeitrahmen verändert hat, kann nicht hoch genug veranschlagt werden: Bis ins 21. Jahrhundert stand die österreichische Variante des Begriffs „Sommerspiel“ für das nackte Grauen. Nachwuchskritiker verstanden ihre Entsendung in bespielte Burghöfe und Heustadl als Verschickung in die Strafkolonie. Kulturelle Halbschuhtouristen aus umliegenden Urlaubsdestinationen wähnten sich Aug in Aug mit dem Unsterblichen zwischen Nestroy und Shakespeare, während sehr kleine Darsteller sehr großer Bühnen beherzt ihr Schicksal in die Hand nahmen: Vier traumhafte Sommerwochen lang waren sie selbst Adressaten des ikonischen Satzes „Die Pferde sind gesattelt“. Nachdem sie den Rest des Jahres damit zugebracht hatten, vergleichbare Kurzmeldungen an viel größere Kollegen auszuliefern.
Die Kulturstadt Wien stand still, und am anderen Ende des Landes beschallten die Bregenzer Seefestspiele bei ungünstigem Wind eher St. Gallen als die Besucher auf den Tribünen. Künstlerische Qualität war durch übersteuerte Tonanlagen ohnehin nicht zu erreichen, also besetzte man das immer gleiche Hit-Repertoire mit unauffälligem, dafür preisgünstigem Personal.
Heute sind die Bregenzer Festspiele ein international beachtetes, auf Weltniveau agierendes Festival mit avantgardistischen Breitwand-Effekten und sehenswerten Raritäten im kleinen Haus.


Heinz Sichrovsky mit Daniel Serafin
Über-Spektakel St. Margarethen
Als sich der Qualitätsschub in Bregenz abzuzeichnen begann, entwarf der Kulturmanager Wolfgang Werner am anderen Ende der Republik die Gegenveranstaltung: Der Steinbruch im burgenländischen St. Margarethen wurde anno 1996 in bombastischer Adjustierung mit 5.000 Plätzen ausgestattet. Werner spielte für zwischenzeitlich 200.000 Besucher pro Jahr nahezu in Endlosschleife „Nabucco“, „Aida“, „Carmen“, „Zauberflöte“ und „Turandot“ und was sonst noch allgemein als spektakeltauglich missverstanden wird.
Das Publikum strömte, aber der Aufwand konnte nach einigen Rückschlägen durch die Einnahmen nicht mehr aufgefangen werden. Da erkannte der Eigentümer des Steinbruchs Chance und Handlungsbedarf in einem: Stefan Ottrubay, Oberbefehlshaber über die Esterházy-Stiftung, in deren Besitz das halbe Burgenland steht, beförderte Werner 2014 offensiv aus allen Befugnissen und übernahm selbst. Der Gründer, von dem man seither nichts mehr gehört hat und der auch jegliche Öffentlichkeit meidet, versank in der Insolvenz. Versuche, mit seinem Sohn als Veranstalter auf die Beine zu kommen, blieben unbeachtet.
Die Verhältnisse im Steinbruch wollten sich allerdings auch in weiterer Folge nicht stabilisieren, und nach bedrohlichen Verwerfungen wurde 2018 gar nicht gespielt. In dieser Situation übernahm 2019 in Ottrubays Auftrag der umtriebige Sänger und Kulturmanager Daniel Serafin, heute 43, die Intendanz. Im nahen Mörbisch liquidierte man wenig später das Lebenswerk seines Vaters, indem man die einstige Weltmetropole der Operette auf Geheiß des Landeshauptmanns dem Musical-Betrieb überantwortete. Serafin junior vertraute in St. Margarethen zunächst den allseits erwarteten stabilisierenden Maßnahmen, „Zauberflöte“, „Turandot“, „Nabucco“, „Carmen“, „Aida“, mit Covid-bedingter Pause 2020.


Hochaktiv. Intendant Daniel Serafin im Breitwandbild von St. Margarethen.
© Bild: Ricardo HerrgottQuantensprung mit Wagner
Die Ankündigung für das heurige Jahr kam da verblüffend: Zwar ist Wagners Frühwerk „Der fliegende Holländer“ auch mehrfach Bregenz-erprobt. Aber das Publikum von St. Margarethen schätzt betont populäre Planung, vielfach ohne übertriebene Beachtung der Finessen der Sangeskunst.
Die Besetzung heuer allerdings lässt aufhorchen. Jede Rolle ist wegen der insgesamt 40 Aufführungen mehrfachbesetzt, allein der Holländer George Gagnidze (demnächst in „Tosca“ an der Met in New York) und die Senta Elisabeth Teige, die in Bayreuth das A-Repertoire verkörpert, wären an jedem Spitzenhaus tadellose Premierenbesetzungen. Und sie treffen auf mehrere Gleichrangige.
Beinahe, verrät Serafin, wäre man schon mit dem Weltbesten einig gewesen: Der deutsche Heldenbariton Michael Volle, der in Sachen Wotan, Sachs und Holländer keine Konkurrenz kennt, hätte mit seiner Gattin, der Sängerin Gabriela Scherer, gern entspannte burgenländische Zeiten konsumiert.
Terminprobleme durchkreuzten diese Absichten, doch Volle empfahl den deutschen Dirigenten Patrick Lange, der schon an besten Adressen zwischen Berlin, Dresden und Glyndebourne aktiv war und jetzt den riesigen Orchesterapparat, der aus einer schmalen Halle am Bühnenrand übertragen wird, elektronisch mit den Sängern koordinieren muss.
Ein anderer Wagner, sagt er, wäre hier schon wegen der enormen Längen nicht aufführbar. Und selbst der überschaubare „Holländer“ wird behutsam, kaum merkbar, um Wiederholungen und Chorpassagen gekürzt. Das Werk verharre reizvoll zwischen den Stilen, erläutert Lange: Bloß 13 Jahre nach Beethovens Neunter zur Uraufführung gelangt, sei es noch ganz klassisches Singspiel und verweise doch in kühne Wagner’sche Zukunftsdimensionen.
Den versöhnlichen Schluss wird man sich nach Wagners eigener Alternative schenken: Der zu ewiger Irrfahrt verfluchte Titelkapitän wird mit seiner Mannschaft weiter bis zum jüngsten Tag auf See zubringen müssen. Die melancholische Seemannstochter Senta, die von ihrem geldgierigen Vater an den charismatischen Unhold verschachert werden soll, wäre schon zur Ehe bereit. Doch ein Missverständnis lässt den Holländer an ihrer Treue zweifeln. Er sticht wieder in See, Senta stürzt sich von der Klippe. Doch hat sie damit in der einen Fassung des Werks durch ihr Opfer das Werk der Erlösung verrichtet, endet die Oper in ihrer gegenständlichen Gestalt unversöhnt mit dem Motiv des verfluchten Holländers.


Sentas Zeitlupensturz
Der Sturz, verrät der österreichische Regisseur Philipp M. Krenn, wird spektakulär verlaufen. Vom höchsten Punkt des Steinbruchs mit dem rot-weißen Leuchtturm springt ein Stuntman in die turmhohe Flut – allerdings nicht eine halbe Sekunde als Bungee-Jumper, sondern in schier endloser Zeitlupe.
Die Stürme auf See mit den wuchtigen Chorpassagen werden die ganze, von stilisierten Flutwellen beherrschte Bühnenbreite einnehmen. Der intimere zweite Akt in Sentas Heim wird dann auch auf die hohe Felswand projiziert, um Nähe zum Publikum herstellen zu können.
Krenn ist einer der Regisseure, die in Zeiten zunehmenden Widerstands gegen Inszenierungseskapaden an Bedeutung zulegen: Soeben hat ihm Intendant Jonas Kaufmann den „Parsifal“ bei den Festspielen von Erl anvertraut, nächstens übernimmt er den „Rosenkavalier“ in Graz. Er mache, beantwortet er die Frage nach dem immer noch nicht erstklassigen Ruf des Steinbruch-Festivals, gern lustvolles Theater, nicht zwanghaft auf Feuilletonbedürfnisse gerichtet, sondern freudvoll dem Publikum und den Mitwirkenden verpflichtet. Genau im Erzählen von Geschichten, aber bei Bedarf auch firm in der großen Dimension.
Die Zukunft
Während Krenn wieder die Feinarbeit mit den Choristen aufnimmt, kommt Serafin im noch leeren Orchestergebäude auf die Rahmenbedingungen zu sprechen. Die sechs Millionen Budget wenden zu je 50 Prozent das Land und der Veranstalter auf. Und: Die Zeiten, in denen jeden Sommer 200.000 Besucher kamen, sind vorbei.
Zur Ergründung dieser Entwicklung hat man Marktforschungsinstitute bemüht und ist doch zu keinem Resultat gelangt. Das Angebot sei wohl zu groß geworden, und die Menschen überlegten sich in Inflationszeiten die Ausgabe für nicht lebensnotwendige Aktivitäten. Zur vorjährigen „Aida“ kamen 90.000, der Vorverkauf heuer ist tendenziell besser.
Serafins Vertrag endet vorerst 2029. Das Verhältnis zu Ottrubay sei tadellos, man arbeite jetzt intensiv an der Zukunft, die nach dem qualitativen Quantensprung von heuer nicht mehr wie die Vergangenheit sein soll. Ottrubay, ein Freund der französischen Oper, hätte seine Freude an Gounods „Faust“, aber wie diese auch doch sehr lange Oper dem Publikum vermitteln?
So steht im nächsten Jahr Puccinis „Tosca“ an, kein Werk, das sich durch Breitwandeffekte (aber immerhin einen weiteren spektakulären Todessturz) auszeichnet. Dann geht es an Verdis „Maskenball“, auch Puccinis „Butterfly“ und das Einakter-Duo „Bajazzo“ und „Cavalleria Rusticana“ melden sich zumindest im Kopf des Intendanten zu Wort.
Sollte einmal, wie in Mörbisch, ein burgenländischer Ex-Gendarm die Umrüstung auf Ballermann-Betrieb anbahnen, hätte er jedenfalls machtvolle Gegenrede zu erwarten.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 24/25 erschienen.