Mit dem Orgien-Mysterien-Theater schuf Hermann Nitsch († 2022) ein umfassendes Lebenswerk, das überdauert. Über Pfingsten wurden im Rahmen der 160. Aktion die letzten drei Tages des 6-Tages-Spiel erfolgreich aufgeführt. NEWS hat die Generalprobe besucht
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© VGN | Osama Rasheed
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Der Freitag vor Pfingsten ist brütend heiß. Im Hof von Schloss Prinzendorf steht die Luft. Unerträglich wird es aber erst, als sich ein unbekannter Geruch ausbreitet. Von Neugier getrieben, wandert der Blick langsam über die Holzwand des Trogs – oben angekommen bestätigt sich die leise Vorahnung: darin ein Eimer voll Blut und eine rote Plastikkiste mit den schlachtfrischen Innereien eines Schweines. Ein kleiner Vorgeschmack auf das, was sich in den nächsten Tagen hier abspielen wird. „Haben alle probiert?“, durchbricht eine fragende Männerstimme die mystische Musik und das Gewusel der Akteurinnen und Akteure, die sich im Holztrog um Eimer und Plastikkiste scharren und in deren Inhalten wühlen. Die Stimme gehört Leonhard Kopp – dem Ziehsohn von Hermann Nitsch, der das künstlerische Vermächtnis seines Adoptivvaters während der bevorstehenden drei Tage zu Ende bringen wird. Gemeinsam mit Witwe Rita Nitsch löst er damit ein Versprechen ein, das die beiden dem Künstler an dessen Totenbett gaben.
„Morgen ist es dann halb so wild“, beteuert er. Unter den Geruch von Blut, Kot und fortschreitender Verwesung wird sich der Duft von Blüten, Früchten, Weihrauch und Gewürzen mischen. All das ist Teil des Orgien-Mysterien-Theaters, dessen minutiöse Partitur er während der kommenden Tage realisieren wird. „Es geht darum, ein multisensorisches Erlebnis zu schaffen“, führt er aus. „Das exzessive Wühlen, Riechen, Schmecken und Sehen, begleitet von der musikalischen Komposition, schafft einen völlig neuen, überdimensionalen Seinszustand.“ Die Akteurinnen und Akteure werden danach nicht mehr dieselben sein. „Denn durch dieses unmittelbare Erlebnis setzt sich die von Nitsch gewünschte Katharsis in Gang.“


Das multisensorische Erlebnis schafft einen völlig neuen, überdimensionalen Seinszustand.
© Hermann Nitsch GmbH / eSeLDas Ende einer Ära
Die freiwillige Teilnahme wäre jedoch eine Untertreibung: Ein eigenes Casting wurde einberufen, so groß waren der Andrang und der Wunsch, Teil dieses kunsthistorischen Spektakels zu sein. Unter den Akteurinnen und Akteuren sind altbekannte Gesichter – wie etwa das von Frank Gassner, der bereits 1998 beim ersten 6-Tages-Spiel dabei war. 27 Jahre war er Assistent von Nitsch. Anders ergeht es der post-radikalen Aktionistin Kata Oelschlägel. Sie ist zum ersten Mal dabei.
„Für mich ist es eine Art Taufe“, so die Künstlerin. „Da muss man einfach dabei sein, wenn man es in der Kunst irgendwie ernst meint.“
Dabei ist auch der italienisch-britische Künstler Andrea Cusumano – und das seit 1997. Damals lebte er gerade hier auf Schloss Prinzendorf und unterstützte Nitsch beim Schreiben seiner über tausendseitigen Partitur. Seit 1998 ist er musikalischer Leiter und wurde über die Jahre zum wichtigsten musikalischen Interpreten seines Meisters. Fast alle Aktionen, Konzerte und Symphonien habe er (ur)aufgeführt. Nun steht er ein letztes Mal für Nitsch am Dirigentenpult – ein großer Moment:
„Obwohl Nitsch 2022 verstorben ist, sind die letzten drei Tage noch Teil dieser besonderen Aura, die er in unsere Gruppe gebracht hat – ab der nächsten Stufe wird es eine neue Welt sein.“


© Hermann Nitsch GmbH / eSeL
Nitschs letzter Atemzug
Rita Nitsch ist überzeugt, dass die Umsetzung ganz im Sinne ihres Mannes wäre:
„Ihm hätte das Spiel sicherlich wahnsinnig gut gefallen“, freut sie sich, als sie durch die für die Kunstwelt so heiligen Hallen des Schlosses führt. „Wir führen es partiturgetreu und mit viel Enthusiasmus auf – wir haben ein Team, das so gut ist wie nie zuvor.“
Plötzlich schneidet das Geräusch einer Trillerpfeife durch die heute so heiße Luft. Es bringt das gemimte Wühlen zum schlagartigen Stillstand. Während der kommenden Tage soll es abkühlen. Glücklicherweise, so der Tenor unter den Teilnehmenden. Gewühlt wird dann nicht mehr in heißer Luft, sondern in Gedärmen und kiloweise Tomaten. Und auch die heute noch so reinweiße Kutte der am Kreuz hängenden Dame wird sich blutrot färben. Uns war es eine Freude, dieser Generalprobe und damit diesem kunsthistorischen Höhepunkt – Nitschs letztem Atemzug – beigewohnt haben zu dürfen. Wobei: Geht es nach Leo Kopp, war man nur dann dabei, wenn man sich schmutzig gemacht hat. Diese Möglichkeit wird sich uns nicht mehr bieten. Leider, stelle ich verwundert fest...