Ihr Vorschlag über ein Wahlrecht für Kinder hat vor Kurzem Aufregung erzeugt. Die deutsche Soziologin Jutta Allmendinger analysiert im Interview, weshalb es radikale Maßnahmen im Bereich des Rentenzugangs oder des Arbeitsmarkts braucht
Die Auswirkungen, die wir momentan spüren, haben ihren Ursprung teilweise schon in den 70er- oder 80er-Jahren. Warum wurde das in der Vergangenheit politisch unterschätzt?
Reden wir zunächst über die Lebenserwartung. Diese steigt in der Tat seit sehr langer Zeit. Dahinter stehen großartige wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Säuglingssterblichkeit ist drastisch zurückgegangen und wir haben viele gesunde Jahre hinzugewonnen. Die sozialpolitischen Implikationen, also die Kosten, hat man tatsächlich lange verdrängt. Die Menschen beziehen viel länger als noch vor einigen Jahren Rentenzahlungen, denn das Ruhestandsalter ist gleich geblieben, während die Lebenserwartung gestiegen ist. Außerdem ist die Geburtenzahl deutlich gefallen, weniger Menschen sind also erwerbstätig. Dadurch entsteht ein weiteres Ungleichgewicht: Immer weniger erwerbstätige Menschen versorgen immer mehr Menschen im immer länger währenden Ruhestand. Die Antwort darauf, warum so wenig getan wird, liegt darin, dass man erwerbstätigen Menschen durch höhere Rentenzahlungen nicht noch mehr Nebenkosten vom Lohn abziehen möchte. Außerdem will man das Rentenzugangsalter nicht erhöhen undkann auch die Rentenhöhe nicht reduzieren. All diese Maßnahmen wären sehr unpopulär.
Warum sträubt sich die Politik hier so?
Jede Partei möchte in den Wahlen gewinnen. Durch die neue demografische Zusammensetzung der Altersgruppen ist die Stimmenverteilung heute aber vollkommen anders als vor 30 Jahren. Damals hatte man in der Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen fast genauso viele Stimmen wie in der Gruppe der 65- bis 90-Jährigen.
Heute haben die „Älteren“ deutlich mehr Stimmen, entsprechend werden sie in den politischen Programmen auch stärker bedacht – es wird also eine Klientelpolitik für die Älteren gemacht.

Welche Bereiche werden stattdessen vernachlässigt?
Die Entwicklung für gut ausgebaute Kitas, für gute, hervorragende Ganztagsschulen, für die Forschung, für die wirtschaftliche Entwicklung, für die Produktivitätsentwicklung, all das, was eher die jüngeren Jahrgänge betrifft.
Wenn Sie die Situation auf einer Skala von eins bis zehn einstufen müssten – wie akut ist sie?
Zehn, weil das sogenannte Umlagesystem seine Grenzen längst erreicht hat.
Was heißt das, Umlagesystem?
Das Umlagesystem bedeutet, dass die heute Erwerbstätigen für die Rentenzahlungen jener aufkommen, die nicht mehr erwerbstätig sind. Wenn Erwerbstätige zu Rentenzahler in einem Verhältnis von 8:1 stehen, ist das natürlich etwas ganz anderes als bei einem Verhältnis von 3:1. Das kann zu einem massiven Einbruch der monatlichen Nettoeinnahmen führen.
Was lässt sich hier langfristig machen, um diesen Einbruch zu verhindern?
Die Standardantworten sind, die gesetzliche Rentenversicherung mit betrieblichen Renten, Lebensversicherungen oder privat angelegten Aktienrenten zu ergänzen. Weiterhin ist im Gespräch, das Rentenzugangsalter zu erhöhen, die Renten zu reduzieren oder die Sozialabgaben der Erwerbstätigen zu erhöhen. Daneben gibt es weitere Maßnahmen: Viele Menschen können gar nicht bis zum Ruhestandsalter arbeiten und beziehen vorgezogene Renten – weil sie physisch oder psychisch erkrankt sind. Hier würden präventiv ansetzende Gesundheitsmaßnahmen helfen, wie auch Umschulungen in Berufe, die noch auszuführen sind. Diese präventiven Maßnahmen muss man viel bekannter machen. Mehr Gesundheitsschulung in den Kitas und Schulen, Fernsehkampagnen, Aufklärungsarbeit in den sozialen Medien. Beispielsweise zweiminütige Erklärvideos, die man vor den Nachrichten schaltet. Nur Prävention führt zu langfristigen Verhaltensänderungen.
Sie sprechen auch von einem flexibleren Rentensystem. Wie könnte das aussehen?
Wir tun immer so, als gäbe es einheitliche Rentenzugangsalter. Das ist eigentlich Fiktion.
Die meisten Fluggesellschaften lassen Piloten nur bis 63 arbeiten, Notare dürfen bis 70 arbeiten. In vielen wissenschaftlichen oder akademischen Berufen wollen die Menschen länger arbeiten, müssen aber in Rente gehen, weil es Gesetz ist. Mit der Produktivität hat das oft wenig zu tun. Natürlich gibt es auch Leute wie Müllabfuhrmenschen oder Dachdecker, die muskuläre Schäden, Knochenschäden und so weiter haben. Es würde sich ein System anbieten, welches nicht alle Personen über einen Kamm schert. Wir müssen deshalb dringend zu einer größeren Flexibilität im Rentenzugang übergehen und entsprechende Anreize setzen.
Welche Rolle spielt hier die höhere Lebenserwartung?
Wenn ich mit 65 – das ist der gesetzliche Ruhestand für Universitätsprofessoren in Berlin – in Rente gegangen wäre, hätte man mich 15 Jahre versorgen müssen, angenommen, ich erreiche die durchschnittliche Lebenserwartung. Früher wären das vielleicht fünf Jahre gewesen. Und bei Menschen, die jetzt geboren werden, ist die Lebenserwartung nochmal deutlich gestiegen. Insofern könnte man auch darüber nachdenken, das Rentenzugangsalter an die durchschnittliche Lebenserwartung zu koppeln. Aber es wäre dann zu berücksichtigen, dass die Lebenserwartung je nach Bildung und Art der Branche doch sehr unterschiedlich ist.
Frauen sind gut ausgebildet, wollen erwerbstätig sein, ihre Produktivität ist sehr hoch. Unsere kulturell geprägte Vorannahme aber ist, dass sie neben der bezahlten Arbeit auch die unbezahlten Tätigkeiten übernehmen, also die Care-Arbeit. Das ist zu viel und geht zulasten der Frauen.

Sie sprechen viel über unterschiedliche Bedingungen für Männer und Frauen am Arbeitsmarkt. Worin besteht hier die Schieflage und was müsste sich ändern?
Von daher plädiere ich dafür, dass sich Mütter und Väter die Erwerbsarbeit und die Pflegearbeit ‚teilen‘. Das Konzept führt zu einer durchschnittlichen Stundenzahl von ca. 35 Wochenstunden – zumindest in den Zeiten, wo die Kinder klein sind und die Eltern Pflege brauchen. Eine solche Umverteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit würde das Arbeitsvolumen insgesamt erhöhen und auch die Produktivität steigern. Denn durch die gestiegene Frauenerwerbsfähigkeit gewinnt man Stunden und durch die reduzierte Erwerbstätigkeit von Männern geht die Produktivität nicht im gleichen Maße zurück.
Sie sprechen sich für radikale Lösungen,aber gegen eine Politik der Extreme aus. Steht das nicht im Widerspruch?
Eine Politik der Extreme ist für mich die Forderung, dass alle Menschen im erwerbsfähigen Alter Vollzeit erwerbstätig sind. Wir brauchen auch Zeit für Familie, Weiterbildung, Ehrenamt – und für uns selbst. Eine Politik der Extreme wäre auch, dass nur eine Person im Haushalt erwerbstätig ist. Das wäre mir zu riskant, da man sich von der anderen Person voll abhängig macht. Extrem wäre auch ein Rentenalter von 70 für alle. All das fordere ich nicht. Ich plädiere für differenzierte Ansätze, die die Lebenswirklichkeit der Menschen in ihren jeweiligen Haushaltssituationen ernst nehmen. Nur bei dem Wahlrecht für Kinder bin ich vielleicht radikal.
Was genau bedeutet das?
Eltern das Recht zu geben, für ihre Kinder zu wählen. Damit würde man diese Schieflage der Interessenpolitik für Ältere aufbrechen. Das ist vielleicht visionär, aber nicht erregnisproduzierend. Eltern entscheiden in vielerlei Hinsicht über ihre Kinder, beispielsweise bei der Impfung oder der Schulwahl. Warum sollte eine Familie, die genau weiß, was sie braucht, damit es ihr gut geht, nicht einen höheren Stimmanteil haben? Ältere verlieren ihr Stimmrecht nicht, den Kindern hingegen enthält man es vor.
Solange wir der Politik nicht etwas anbieten, was ihr auch gleichermaßen an Wählerstimmen bringt, wird sie sich nicht bewegen.

Haben Sie Zuversicht, dass diese soziologischen Erkenntnisse nun ernst genommen werden?
Eine Erhöhung des Rentenzugangsalters ist unpopulär, weil die Politik ja gerade von diesen älteren Personen gewählt wird. Also braucht man eine Reform. Hier kann die Wissenschaft Angebote machen, Erkenntnisse vorlegen, entscheiden tut die Politik. Nur sie ist legitimiert.
Wie weit sollten wir vorausplanen?
Es ist ein Muss. Der demografische Aufbau einer Gesellschaft ändert sich nicht rasch. Wir können also gut vorausplanen. Man sagt immer, die Staatsverschuldung geht auf Kosten der nächsten Generation. Das ist aber nicht zwingend. Wenn man jetzt Investitionen tätigt, in Schulen, in Gebäude, in neue Produktentwicklungen, hilft das ja der neuen Generation. Es gibt Schulden, die der nächsten Generation helfen. Aber dieses System, wo wir so eindeutig sagen können, dass die nächste Generation gar nicht so viel sparen kann, um für ihre eigene Rente vorzusorgen, das ist für mich ohne Zweifel an ihr Limit gekommen.
Das System muss jetzt geändert werden. Und zwar so, dass es alle mitnimmt.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 24/25 erschienen.