Zehn Jahre lang hat der Norweger Halfdan Ullmann Tøndel damit verbracht, seine Lust auf Filme zu verleugnen. Der Grund: Seine Großeltern. Ihre Namen: Ingmar Bergman und Liv Ullmann. Jetzt kommt sein gefeiertes Debüt „Armand“ in heimische Kinos. Von Mariam Schaghaghi
Breite Schultern, hünenhafte Statur und dazu Liv Ullmanns himmelhellblaue Augen. Im gestreiften Hemd und der hellen Leinenhose wirkt der Debütant mit dem großen Namen eher wie ein Statist aus einem nordischen Kinderfilm à la „Michel aus Lönneberga“. Kaum als Regisseur, dessen Film Norwegen in diesem Jahr im Rennen um den Oscar des Besten internationalen Films vertrat. Sein Drama „Armand“ (Filmstart in Österreich am 13. 6. 2025) schaffte es auf die Shortlist der letzten 15. Vor einem Jahr feierte der Film auf dem Festival in Cannes Weltpremiere und wurde zum furiosen Debüt für den Nobody mit der legendären Herkunft.
Halfdan Ullmann Tøndels Film über eine Mutter, die wegen ihres Sohnes zum Elternabend gebeten wird, ist Tour de Force und Sittengemälde. Amüsant, absurd und voll kühner Perfidie. Der erste Spielfilm des 34-Jährigen ist ein originelles Drama um Eltern und Nachwuchs, Gesehenes und Vermutetes, Misstrauen, Paranoia und voll unfreiwilligem Humor. In Cannes, wo Ullman Tøndel auch über die Hintergründe seiner Berufswahl sprach, gab es dafür 2024 den prestigeträchtigen „Caméra d’Or“-Preis für das beste Debüt.
Herr Ullmann Tøndel, was bedeutet Ihr Vorname Halfdan?
Es bedeutet „Halbdäne“. Der Name stammt aus der Zeit der Wikinger. Im Schwedischen, erfuhr ich gerade, bedeutet mein Name „geht so“. (lacht)
Ihr Film „Armand“ ist weit entfernt von „geht so“ – er ist umwerfend. Wie fühlten Sie sich nach der Weltpremiere in Cannes?
Völlig überwältigt. Bei jedem Huster aus dem Publikum dachte ich: „Oh Gott, sie ruinieren den Film!“ Die Vorführung selbst war eine eher qualvolle Zeit. Aber danach war es großartig. Als sei meine Seele erst in Dreck und Schlamm gewälzt worden und danach mit schönen Worten und Applaus gesalbt. Ich fühlte mich total konfus und unfähig, in meiner Gefühlswelt Ordnung zu schaffen.
Der Trailer: "Armand"
In Cannes 2024 mit dem „Caméra d’Or“-Preis ausgezeichnet, jetzt im Kino
Nach Cannes eingeladen zu werden, ist die größte Ehre für Cineasten. Als Sie Ihren Erstling einreichten: Grenzte das an Irrsinn oder Größenwahn?
Von Anfang an war dieses Ziel klar. Nicht nur ich, ein ganzes Team hat geschuftet, um diesen Film zu realisieren. Jetzt sind wir tatsächlich hier, und es ist fantastisch.
Ihre Hauptdarstellerin Renate Reinsve verriet, dass Sie jahrelang versuchten, sich vom Kino fernzuhalten – wegen Ihrer Abstammung. Was ist da dran?
(Atmet tief) Es ist so: Wenn man in seiner Familie gleich mehrere Menschen vorweisen kann, die die Allgemeinheit als „Die Größten der Filmgeschichte“ bezeichnet oder der eine als „der wichtigste Regisseur in der Geschichte des Kinos“ genannt wird, sagt man sich: „Okay, das hatten wir schon in der Familie – warum sollte ich das auch noch tun?“ Bis ich anfing, mich mehr und mehr mit Regie zu beschäftigen und an der Uni kleine Filme zu drehen.
Liv Ullmann wird als Schauspielerin und Regisseurin verehrt, Ihre Mutter Linn Ullmann ist eine begnadete Schriftstellerin. Wollten Sie nie spielen oder schreiben?
Nie. Ich schreibe Drehbücher. Aber das ist nicht mein liebster Part beim Filmemachen. Sondern am Set zu stehen. Das ist es! Wenn ich spielen würde, wäre ich zu selbstzentriert, zu selbstbewusst im wahrsten Sinne und zu anstrengend. Aber ich habe vieles ausprobiert, Wirtschaft, Psychologie, um mich vom Kreativen fernzuhalten. Aber jetzt bin ich doch da.
Die Fähigkeit, viel zu fantasieren, liegt sicher in meiner Familie.
Warum? Was haben die Regieversuche ausgelöst?
Ich fühlte mich so lebendig! Fast high. Auf einem Set zu sein und zu sehen, wie eine selbstkonstruierte Welt lebendig wird, ist das Größte. Und so kam ich über die letzten zehn, fünfzehn Jahre langsam zum Schluss, dass ich da wohl hingehöre. Dass das mein Platz ist. Und dann habe ich nicht mehr zurückgeschaut.
Es war belastend, aus dem Schoß einer so illustren Filmfamilie zu stammen. Sprechen Sie heute noch ungern darüber?
Es ist nun mal, wie es ist, ich kann nichts dagegen tun: Meine Großeltern sind große Legenden. Ich hatte natürlich eine ganz normale Beziehung zu ihnen. Über sie reden können andere. Ich muss versuchen, mich auf meine Filme zu konzentrieren. Großvater hat, glaube ich, 53 Filme erschaffen. Wenn wir verglichen werden, dann hoffentlich erst am Ende meines Lebens, wenn jemand unbedingt scharf darauf ist.
Liegt diese Leidenschaft womöglich in Ihrer DNA, Sie konnten sich nicht entziehen?
Die Fähigkeit, viel zu fantasieren, liegt sicher in meiner Familie. Aber Filme zu drehen, ist ein komplexer Prozess. Ob das in meiner DNA liegt und ein Teil dessen ist, wer ich bin, kann ich nicht beurteilen.
Über Halfdan Ullmann Tøndel
Halfdan Ullmann Tøndel kam 1990 in Oslo zur Welt. Seine Mutter Linn Ullmann ist die einzige Tochter von Schauspiel- und Regiestar Liv Ullmann und Regie-Großmeister Ingmar Bergman. Sein Vater ist der Geschäftsmann Espen Tøndel. arbeitete einige Jahre als Assistent an einer Schule, bevor er sich fürs Filmemachen entschied.
Tøndel studierte Film in Oslo und feierte 2015 mit dem Kurzfilm „Bird Hearts“ (Nordisk Panorama: Best New Nordic Voice 2015) erste Erfolge. 2024 feierte sein Langfilmdebüt „Armand“ Premiere in Cannes und holte die Caméra d’Or für den besten Debütfilm.
An Kurzfilme haben Sie sich zuerst gewagt, mit „Bird Hearts“ 2015 und „Fanny“ 2018. Wie entstand die Idee zu „Armand“?
Ich hörte mal von einem Freund eine Story: Auf einem Campingtrip haben die beiden anderen Sechsjährigen, mit denen er im Zelt war, wohl etwas getan, was sonst nur Erwachsene tun. Ich habe in Gedanken sofort die Eltern verurteilt. Aber dann merkte ich, wie viel ich fantasiere, ohne überhaupt zu wissen, wer Kind und Eltern sind und was wirklich los war: Ich erfinde eine Geschichte, auf der Basis von wenig Information. Das war das Set-up für „Armand“: wie wenig Wissen wir brauchen, um große Geschichten über andere loszutreten.
Wie kamen Sie zu Ihrer formidablen Hauptdarstellerin Renate Reinsve, die Motor und Seele dieses Films ist und seit „Der schlimmste Mensch der Welt“ international Karriere macht?
Sie lebt in Oslo wie ich. Vor über zehn Jahren gab mir jemand den Tipp, dass sie gut wäre, und ich mailte sie an, ob sie einen Kurzfilm mit mir drehen möchte: Sie bekäme kein Geld, aber wahrscheinlich eine gute, intensive Erfahrung. Die zwei Tage Dreh waren fantastisch. Als würden wir alle, die Crew eingeschlossen, uns ein Leben lang kennen. Das war 2016, und damals schworen wir, dass wir zusammen einen Spielfilm drehen. Da sind wir nun!
Sie spricht von Ihnen jetzt als „Monolith“, einem selbstsicheren Kerl, der weiß, was er tut , was er will und das auch ausstrahlt. War Ihnen Ihre Veränderung bewusst?
Ich habe mich beim Drehen am Set wirklich lebendig gefühlt und ich glaube, das ist es, was sie meint. Ich fühlte mich kraftvoll, mächtig und wusste, was ich leisten kann. Ich finde es bewegend, wie 40 Leute am Set gemeinsam an einem Drehbuch von mir arbeiten und diese Welt zum Leben erwecken. (lacht) Ich glaube nicht, dass es gut für jemanden ist, das zu oft zu tun, weil du dich in gewisser Weise fühlst, als seist Du Gott.
Was Sie wohl nicht sein wollen.
Es ist ein Hochgefühl wie bei Extremsportarten, beim Fallschirmspringen erlebt man denselben Rausch. Wenn Renate also einen großartigen Take hinlegt, erreichen mich ich all diese Emotionen. Das ist pure Energie. Und wenn man diese Energie erhält, fühlt man sich stark.
In der stärksten Szene des Films bekommt Reinsve einen schier endlosen Lachanfall. Wie haben Sie Ihre Schauspielerin zu dieser unvergesslichen Leistung bekommen?
Im Drehbuch stand nur: „Sie lacht lange und fängt dann an zu weinen.“ Ich sagte Renate, dass die Szene über fünf Minuten lang dauern könnte. Sie meinte: „Das wird dann wohl die schwierigste Szene werden, die ich je drehe. Ich gebe mein Bestes.“ Wir probten nicht, wir sprachen auch nicht mehr darüber, aber an dem Tag kam sie ans Set, sie lachte, lachte, lachte, lachte, lachte, weinte und weinte. Das Meiste in einem Take. Danach war sie war so erledigt, dass sie fünf Tage Pause brauchte.
Pardon, aber quälen Sie Ihre Schauspieler nicht zu sehr? Sind Sie extrem, wie Ihr Großvater?
Nun, alle Schauspieler leben noch. Aber es stimmt, jeder bei uns wurde hart gefordert. Wir hatten viel Ehrgeiz, aber kein hohes Budget. Wir hatten nur 22 Drehtage. Das ist nichts.
Kommen Sie mit solch einem Druck klar?
Ich bin verrückt danach. Ich liebe das alles: das Chaos, die Verrücktheit und die Intensität, all das. Ich habe während der gesamten Drehzeit nicht geschlafen. Jeden Morgen hatte ich Nasenbluten. Ich geriet in einen fast manischen Geisteszustand, aber ich liebe es!
Jeden Morgen hatte ich Nasenbluten. Ich geriet in einen fast manischen Geisteszustand, aber ich liebe es!


Filmgeschichte bei der Oscarverleihung: Halfdan Ullmann Tondel mit seiner Großmutter Schauspielerin und Regisseurin Liv Ullmann.
© ANGELA WEISS / AFP / picturedesk.comWollen Sie wieder mit Renate Reinsve drehen? Wird sie Ihre Liv Ullmann?
Ich werde sicher wieder mit Renate arbeiten, gerne sogar. Wir funktionieren gut zusammen. Wir inspirieren uns, auch wenn wir uns sehr gepusht haben.
Sie hat Sie also auch an Ihre Grenzen gebracht?
Ja, sie ist sehr klar in dem, was sie will und mag. Und gleichzeitig klug und intuitiv.
Können Sie gut mit starken Frauen arbeiten? Ihre Großmutter ist eine, sie zog Ihre Mutter alleine auf, ohne Ingmar Bergman ...
Ja, ich bin es gewohnt, von starken Frauen umgeben zu sein. Das hat leider zur Folge, dass ich keine starken männlichen Hauptfiguren schreiben kann. Ich kriege es nicht hin. Es fühlt sich natürlicher an, wenn ich über Frauen schreibe. Ich passe wohl besser zu Frauen. (lacht)
Einen Kurzfilm haben Sie auch noch gedreht, „Min elskede Løper“ („Mein liebster Läufer“) , der auf einer Insel spielt, den man aber nirgends zu sehen bekommt. Warum?
Es ist nur ein filmischer Gruß an meinen Großvater, ein sehr kleiner Film, sieben Minuten, aber sehr schön. Niemand hat ihn je gesehen. Es gibt ihn ausschließlich auf meinem Computer. Es ist ein persönlicher Gruß, ich möchte nicht, dass es mehr ist. Darum zeige ich ihn nicht.
Sie verbrachten mit Ingmar Bergman viel Zeit auf Fårö, die auch „ Bergman’s Island“ genannt wird.
Ja, das Haus dort war ein einfaches Strandhaus, als ich die Sommer dort verbrachte, bis ich 17 war. Er starb 2007.
Wie haben Sie als Kind Zeit mit ihm verbracht, sind Sie ins Kino gegangen?
An seinen Geburtstagen haben wir uns immer Chaplin-Filme angeschaut. „Modern Times“ kenne ich also sehr gut!
Welcher seiner Filme ist Ihr Favorit?
Ich denke „Fanny und Alexander“.
Welche anderen Filmemacher gehören zu Ihren Vorbildern?
Ich habe einen eklektischen Geschmack: Ich bin stark von Thomas Vinterberg beeinflusst, ich mag seine emotionale Erdung. Ich liebe Luis Buñuel, denn er versteht es, Satiren auf sehr ernste Art zu präsentieren. Und Andrea Arnold, in ihren Filmen steckt viel Mut und Herz. Mein Kurzfilm „Fanny“ war von ihrem „American Honey“ inspiriert.
Und wie gefiel Ihnen Cannes, als Phänomen und als Festival?
Das war sehr überwältigend, sehr verrückt. Und etwas absurd. Ein Zirkus! Es hat zwei Tage gedauert, bis ich mal einen Film anschauen konnte. Geht es nicht auch um die Filme? Es tat gut, zurück nach Oslo zu kommen, zu meinem vierjährigen Sohn, zurück ins echte Leben.
Wie war die Reaktion Ihrer Familie, als Sie, der Sie immer sagten, „das tue ich mir nicht an“, dann mit solch einem Werk daherkamen?
Meine Eltern besuchten die Premiere in Cannes, was ich schön fand. Es war das erste Mal, dass sie diesen Film sahen. Dass sie überhaupt irgendetwas von mir sahen. Sie waren sehr stolz, so wie alle Eltern es wären. Es hat sie nie gekümmert, ob ich nun Filmemacher werde oder etwas anderes. Sie haben mich nie in irgendeine Richtung gedrängt.
Eben: Sie wurden zu nichts gedrängt. Sie sträubten sich sogar. Und plötzlich kommen Sie mit einem Film von immenser Intensität.
Ich bin froh, dass Sie das sagen. Denn wenn ich schon einen Film mache, bei meiner Herkunft, musste ich einen Film machen, der vor allem mir selbst entspricht, so sehr wie möglich! Da muss so viel wie Mut aus meinem Inneren kommen und so viel meiner Seele drin liegen wie nur irgend möglich. Denn ich will nicht verglichen werden. Besser wäre es, wenn die Leute dann sagen: „Okay, der macht zumindest sein eigenes Ding.“
Der Film: „Armand
Im Zentrum steht ein schwer zu klärender Vorfall zwischen zwei sechsjährigen Jungen, Armand und Jon, an einer Volksschule. Armand wird beschuldigt, Jon sexuell bedroht zu haben. Die Eltern werden zu einem Gespräch geladen, das schnell eskaliert und zur gesellschaftlichen Zerreißprobe wird, bei der Wahrheit, Schuld und Vorurteil verschwimmen. Renate Reinsve brilliert als alleinerziehende Mutter Elisabeth. Ein forderndes, vielschichtiges Drama, das gesellschaftliche Konflikte und Wahrheitsfindung im Mikrokosmos Schule eindrucksvoll seziert.
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 24/25 erschienen.