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Laut einer Abschätzung dürften in Österreich rund 50.000 Menschen an milder Alzheimer-Demenz leiden. Von leichter kognitiver Beeinträchtigung sind etwa 200.000 Personen betroffen. Nur für diese beiden Gruppen kommt die neue Behandlungsform mit regelmäßigen Infusionen überhaupt theoretisch infrage. Mit Voruntersuchungen, dem Berücksichtigen von Gegenanzeigen etc. könnten schließlich fünf bis 20 Prozent dieser Betroffenen die Therapien erhalten, welche im Gehirn zur Beseitigung der krank machenden Plaques des Proteins Amyloid-Beta führen sollen. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass sich dadurch der Krankheitsverlauf um 27 Prozent verlangsamen lässt. Es gibt aber mittlerweile Hinweise darauf, dass der Effekt mit der Zeit zunimmt.
Doch die Bedingungen für die Anwendung dieser Medikamente mit monoklonalen Antikörpern sind kompliziert: Zunächst muss eine Frühdiagnose der Alzheimer-Demenz stattfinden. Während der Therapie müssen regelmäßig Magnetresonanz-Untersuchungen des Gehirns erfolgen, weil es als potenziell gefährliche Nebenwirkung bei etwa einem Fünftel der Betroffenen zu Schwellungen und/oder Ödemen im Gehirn kommen kann. Eine Umfrage unter neurologischen und psychiatrischen Krankenhausabteilungen in Österreich, die erst vor kurzem publiziert worden ist, hat ergeben, dass viele von ihnen einen Mangel an administrativem und ärztlichem Personal sowie an Engpässen bei der Magnetresonanz-Tomografie etc. aufweisen.
In Deutschland hat jetzt das Zentralinstitut für kassenärztliche Versorgung eine Abschätzung über den Aufwand für die neue Alzheimer-Therapie (Lecanemab) durchgeführt. "Auf Grundlage der Zahl neu diagnostizierter Patientinnen und Patienten mit Demenz oder leichter kognitiver Beeinträchtigung (mild cognitive impairment - MCI) im Jahr 2023 (460.000) wurde ein mögliches Mengengerüst für die zukünftige Versorgung im Zusammenhang mit einer Therapie mit Lecanemab erstellt", zitierte jetzt der Medizin-Informationsdienst "Gelbe Liste" die Berechnungen.
Im ersten Schritt der Modellrechnung wurden Personen ausgeschlossen, die Blutverdünner (Antikoagulanzien) einnehmen, da für diese Gruppe eine Behandlung mit Lecanemab wegen Blutungsgefahr im Gehirn nicht erfolgen kann. "Nach diesem Ausschluss verbleiben rund 303.600 potenziell geeignete Patientinnen und Patienten. Für diese Gruppe sind zunächst standardisierte diagnostische Verfahren bei Demenzverdacht sowie der Nachweis einer Alzheimer-Erkrankung mittels Lumbalpunktion (Punktion von Rückenmarkflüssigkeit; Anm.) notwendig. Verglichen mit den bisherigen Fallzahlen in der Diagnostik führt diese Entwicklung zu einer voraussichtlich deutlichen Ausweitung der erbrachten kassenärztlichen Leistungen, insbesondere in den Fachrichtungen Neurologie und Psychiatrie", hieß es in der speziell für Ärzte gedachten Information.
Nach Schätzung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft entfallen etwa zwei Drittel aller Demenzerkrankungen auf die Alzheimer-Demenz, was rund 202.400 Personen entspricht. Für diese Patientengruppe ist zusätzlich ein Bluttest zur Bestimmung des ApoE4-Gens erforderlich. Das Vorliegen einer ApoE4-Genvariante als vererbliches Alzheimer-Risiko stellt eine weitere Kontraindikation für die Behandlung mit dem Wirkstoff Lecanemab dar. Unter der Annahme, dass ca. 85 Prozent der Patientinnen und Patienten nur eine oder keine Kopie dieser Genvariante aufweisen und sich ca. 50 Prozent in dem für die Behandlung erforderlichen frühen Demenzstadium befinden, verbleiben in Deutschland 73.000 potenzielle Patientinnen und Patienten, für die eine Therapie mit Lecanemab in Frage kommt.
"Diese Zahl ist als optimistische Schätzung zu verstehen: Sie basiert auf festen Ausschlusskriterien und bildet somit das theoretische obere Limit der Behandlungsberechtigten - etwa im Hinblick auf weiterführende Maßnahmen wie Infusionen und Magnetresonanz-Tomografie-Kontrollen. Die regelmäßige Verabreichung von Lecanemab (alle 14 Tage per Infusion über einen Zeitraum von derzeit bis zu 18 Monaten) sowie die nötigen MRT-Kontrollen zur Überwachung möglicher Nebenwirkungen führen ebenfalls zu einem erheblichen Anstieg der benötigten Leistungen", schrieb das Zentralinstitut der kassenärztlichen Vereinigung in Deutschland.
Hausärzten sowie den neuropsychiatrischen Fachärzten käme hier eine besondere Rolle zu. Das Neue an der Situation mit der anstehenden Etablierung der Antikörper-Alzheimer-Therapie: "Bisher stand die Auswirkung einer Arzneimittelinnovation auf den zusätzlichen Bedarf an ärztlicher Diagnostik und Beratung nicht im Fokus der Betrachtung. Tatsächlich entsteht aber erheblicher zusätzlicher Zeitbedarf in den Praxen. (...) Vor allem aber müssen regulierende Einschränkungen auf die Leistungsmenge beseitigt und eine ausreichende Vergütung der Praxen gewährleistet sein, damit dem Interesse der Patientinnen und Patienten, die viel Hoffnung in die Behandlung mit Lecanemab legen, im Versorgungsalltag auch entsprochen werden kann", sagte der Chef des Zentralinstituts, Dominik von Stillfried.
In Österreich dürfte die Problematik vor allem die Krankenhäuser mit ihren neurologischen und psychiatrischen Abteilungen treffen. Innovative und speziell kostenaufwendige Therapien werden seit Jahrzehnten - auch bei zum Teil heftiger Kritik und Diskussionen zwischen Spitalserhaltern (Bundesländer) und Krankenkassen - vor allem dort etabliert.
WIEN - ÖSTERREICH: FOTO: APA/APA/dpa-tmn/Heiko Wolfraum/Heiko Wolfraum