Im Namen der Lutherrose

500 Jahre Reformation haben ihre Spuren hinterlassen: Die evangelische Kirche wird zunehmend für Frauen attraktiv. Warum wollen junge Menschen heute Pfarrer werden?

von Pastorenseminar © Bild: Lukas Ilgner

"Beten Sie mit mir! Bitte." Auf diesen Wunsch einer Sterbenden war die junge Medizinerin nicht vorbereitet. Rahel Hahn war 25. Ein Praktikum hatte die Studentin auf die Intensivstation eines Krankenhauses geführt und an das Bett der todkranken Frau. Dort stand sie nun. Gemeinsam mit zwei weiteren Studenten. Die Sterbende hatte nach einem Geistlichen verlangt, aber die Studenten konnten keinen erreichen.

"Dann beten Sie mit mir!", bat die Dame. Und ohne sich abzusprechen, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, erfüllten ihr die drei jungen Menschen den letzten Wunsch. In Rahel löste diese Erfahrung etwas aus. Etwas, das sie schon seit Längerem in sich trug. Es war der Wunsch, Menschen zu begleiten. Ihnen neben der medizinischen Hilfe noch etwas anderes mitgeben zu können, was sie in ihrer Rolle als Medizinerin eigentlich nicht tun konnte und durfte. "Rückblickend waren sicher die in mir ausgelösten Fragen angesichts von Leid, Sterben und Tod ein wesentlicher Faktor, um meinen Lebensentwurf zu überdenken", sagt Rahel heute.

Der Wunsch, seelsorgerlich tätig zu werden, ließ sie nicht mehr los, und so beschloss Rahel, im Alter von 28 Jahren noch einmal ein neues Studium zu beginnen. Neben Latein noch Griechisch und Hebräisch zu lernen und sich auf den langen Ausbildungsweg zur Pfarrerin zu machen. Heute ist Rahel 42 und arbeitet in der Weinbergkirche in Wien-Döbling. Sie ist eine von derzeit elf Vikarinnen und Vikaren in Österreich. Als Vikare bezeichnet die evangelische Kirche Theologen in der praktischen Ausbildungsphase, bevor sie zu Pfarrern ordiniert werden.

Luthers Vermächtnis

Dass Frauen wie Rahel überhaupt Pfarrerinnen werden können, verdanken sie einem Ereignis, das sich am Dienstag zum 500. Mal jährt. So will es zumindest die Überlieferung. Am 31. Oktober 1517 soll Martin Luther höchstpersönlich seine 95 Thesen an die Türe der Kirche von Wittenberg geschlagen haben. Thesen, in denen der Augustinermönch damals gängige Kirchenpraktiken und die schamlose Lebensweise zahlreicher Geistlicher auf das Schärfste verurteilte.

Ob Luther seine Thesen tatsächlich in einem theatralischen Akt mitten in stürmischer Nacht angenagelt oder nur per Brief verschickt hat, ist umstritten. Klar ist aber, dass er eine religiöse Revolution in Gang setzte. Aus der Reformation ging die evangelische Kirche hervor.

Eines ihrer Grundprinzipien ist bis heute, dass ihre Form und Legitimation einzig in der Bibel begründet ist. Durch die Erforschung der Bibeltexte ließ sich irgendwann nicht mehr verschweigen, dass auch Frauen im Neuen Testament hohe Ämter bekleidet haben. Es dauerte allerdings noch einige Jahrhunderte, bis sich die evangelischen Kirchen in Europa dieser Einsicht öffneten und auch Frauen als Pfarrerinnen zuließen.

Die Frauenordination und die Ablehnung von Papsttum und Zölibat gehören wohl zu den sichtbarsten Unterscheidungsmerkmalen gegenüber der katholischen Kirche.

In Österreich können Frauen seit 1965 Pfarrerinnen werden. Erst seit 1980 sind sie ihren männlichen Kollegen völlig gleichgestellt. Vorher durften sie zum Beispiel - im Gegensatz zu männlichen Pfarrern - nicht heiraten. Mit einer Heirat endete ihr Dienst als Pfarrerin automatisch. Seit diese Zeiten überwunden sind, wird der Pfarrberuf für Frauen zunehmend attraktiv. Von den rund 250 aktiven Pfarrern in Österreich - bei rund 300.000 Protestanten - sind ein Drittel Frauen.

"In der Ausbildung zum Pfarrberuf haben wir heute ungefähr gleich viele Frauen wie Männer", sagt Oberkirchenrätin Ingrid Bachler, die in der evangelischen Kirche für Personalfragen zuständig ist. Dass sich die Kirche unter dem weiblichen Einfluss verändert, findet Bachler nicht. "Ich sehe keine wesentlichen Unterschiede in der Arbeit von Frauen und Männern im Pfarrberuf. Jeder und jede bringt seine und ihre Fähigkeiten ein."

Mehr als fulltime

So auch Rahel. Ohne die völlige Gleichstellung wäre aus Rahels Wunsch, der damals am Krankenbett der sterbenden Frau immer drängender wurde, nichts geworden. Denn auch sie ist verheiratet - mit einem praktizierenden Katholiken. In Österreich ist das heute kein Problem mehr. Und so bricht sie morgens aus der gemeinsamen Wohnung auf und fährt in ihren Pfarrerinnenalltag. Der ist oft stressiger, als sich das so mancher vorstellen mag: "Gemütlicher Job - wenn man nur sonntags arbeiten muss" - solche Vorurteile hört Rahel häufig.

Die Realität sieht anders aus. Der Sonntag ist für Pfarrer nur einer von sechs offiziellen Arbeitstagen. Mindestens acht Stunden pro Woche verbringen Pfarrer in der Schule und unterrichten evangelische Religion. Trauer- und Tauf-, Trau- und Seelsorgegespräche gehören ebenso zum Job wie die Organisation von Veranstaltungen und Reisen, Konfirmandenunterricht, das Managen der Pfarrkanzlei und natürlich die Vorbereitung der Gottesdienste. Mit bis zu 70 Wochenstunden beziffern Pfarrer ihre Arbeitszeit.

Für Rahel ist es das wert. Ihr Weg führt oft direkt von der Schule zum Friedhof, wo sie nicht nur Verstorbene beerdigt, sondern vor allem Angehörigen Trost und Halt gibt. Und da sind sie wieder, diese Fragen von Leid, Sterben und Tod, die die Medizinerin in den Pfarrberuf gebracht haben.

Aber nicht nur diese Fragen, sondern auch die intimen Momente von Liebe und Glück, die sie mit fremden Menschen teilen darf, sind es, die diesen Beruf für sie bis heute so besonders machen. Immer dann, wenn Paare ihr im Traugespräch Einblicke in ihre ganz persönlichen Liebesgeschichten geben. Wenn die Großeltern Tränen in den Augen haben, sobald Rahel den Bund für das Leben segnet, oder wenn junge Eltern ihr im Taufgespräch von dem Moment erzählen, als sie ihr Baby zum ersten Mal in den Armen hielten.

"Schönster Job der Welt"

Auch für Oberkirchenrätin Bachler ist der Beruf der Pfarrerin genau wegen solcher Erfahrungen "der schönste der Welt". "Pfarrer haben das Privileg, Menschen in allen Situationen des Lebens zu begleiten und Hoffnung zu geben. Sie ermutigen, trösten, stärken und begleiten. Sie beten am Krankenbett, singen mit der Seniorenrunde, beantworten die Lebensfragen der Schüler und segnen Menschen. Sie sind ganz bei Gott und ganz bei den Menschen und wissen, aus welcher Kraft sie leben. Sie sind Botschafter des Evangeliums, Übersetzer der frohen Botschaft in Fragen der Gegenwart."

Anna Vinatzer, 33, Lehrvikarin in Wien-Floridsdorf

Pastorenseminar
© Lukas Ilgner
»Wir sind Zeugen der wichtigsten Momente des Lebens«

Ich bin Italienerin und war - wie fast alle Italiener - katholisch. Religiöse Fragen haben mich seit jeher beschäftigt, und so studierte ich katholische Religionspädagogik. Erst mit der Zeit und während meiner Tätigkeit als Religionslehrerin merkte ich, dass "ich und katholische Kirche" einfach nicht stimmig sind. Ich konnte mich mit der katholischen Haltung zu Fragen wie Homosexualität, Scheidung oder medizinischer Ethik einfach nicht identifizieren. So beschloss ich, zu konvertieren und noch einmal ein evangelisches Theologiestudium zu beginnen. Nach Wien kam ich mit meinem Partner und unserem kleinen Sohn, weil es in Italien keine Ausbildungsstelle für evangelisch-lutherische Pfarrer gibt. Als Lutheranerin bin ich die einzige in Italien. Pfarrerin sein bedeutet für mich ein unglaubliches Abenteuer. Wir sind Zeugen der wichtigsten Momente des Lebens. Das birgt auch eine unvermeidbare Unberechenbarkeit. Ich freue mich auf dieses Abenteuer, auf das ich mich getrost einlassen kann, im Wissen, dass Gott mich begleitet.

Slavomira Dobrotova, 37, Lehrvikarin in Perchtoldsdorf

Pastorenseminar
© Lukas Ilgner
»Wir versuchen, Antworten zu geben auf die Frage nach dem Wesen und dem Sinn des Lebens«

Ich bin in einer sehr religiösen slowakischen Familie aufgewachsen. Sonntag ohne Kirche war nicht vorstellbar. Ich habe das immer als sehr verbindend und bereichernd empfunden, und so studierte ich Theologie. Dann verliebte ich mich in meinen Mann - einen Katholiken. Eine Ehe mit einem "Andersgläubigen" ist für eine slowakische Pfarrerin nicht möglich. Daher musste ich mich von meinem Traumberuf verabschieden. Heute leben wir in Österreich, wo die evangelische Kirche offener und mein Mann kein Hinderungsgrund ist. Pfarrerin ist für mich einer der schönsten Berufe. Wir versuchen, Antworten zu geben auf die Frage nach dem Wesen und dem Sinn des Lebens, wir können Trost spenden und Freude teilen - was gibt es Schöneres?

Claudia Schörner, 49, Lehrvikarin in Mödling

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»Mit der ersten Kinderbibel meines Sohnes wuchs mein Interesse an Theologie«

Pfarrerin zu werden, war in meinem ursprünglichen Lebensentwurf nicht vorgesehen. Mein beruflicher Weg führte mich als Juristin bis ins Bundeskanzleramt, wo ich in einem politischen Büro tätig war. Dieser Job hat mein Berufsleben hinsichtlich Durchsetzungsvermögen und Flexibilität geprägt. Zeit für Privates gab es kaum. Dann lernte ich meinen Mann kennen. Unser Sohn Paul kam zur Welt und Familie bekam plötzlich einen neuen Stellenwert. Mit der ersten Kinderbibel, die ich Paul kaufte, wuchs mein Interesse an Theologie. Das Nachdenken über Gott und die Welt und mein Dasein in der Welt, die Fragen, die über unseren Alltag hinausgehen, und die Suche nach Tiefe und Sinn waren es, die mich dazu brachten, mit Anfang 40 noch ein neues Studium zu beginnen.

Ediana Kumpfmüller, 35, Lehrvikarin in Schärding und Ried

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»Ich liebe es, mit Menschen aller Altersgruppen 'unterwegs' zu sein«

Seit meiner Kindheit habe ich davon geträumt, Pfarrerin zu werden. Ich habe es geliebt, "Hochzeit" zu spielen und meine Freunde zu "trauen". Ich habe alle unsere Haustiere getauft und später würdevoll beerdigt und dazu alle Nachbarn eingeladen. Ich komme aus Vila Pavão, einer kleinen Stadt in Brasilien, wo viele Menschen noch bis heute pommersch sprechen und evangelisch sind. Bis heute fasziniert mich der Beruf der Pfarrerin. Ich liebe es, mit Menschen aller Altersgruppen "unterwegs" zu sein. Und niemand schreibt mir vor, wie ich selbst sein soll. Ich bin, wie ich bin, und das trage ich in meinen Beruf hinein. Die evangelische Kirche ist eine Institution, die nicht nur auf sich selbst schaut, sondern mit Verantwortung in die Welt blickt, und ich bin stolz, ein Teil davon zu sein.

Johannes M. Modeß, 31, Lehrvikar in Krems/Donau

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»Humor und Glaube gehören für mich eng zusammen«

Humor und Glaube gehören für mich eng zusammen. Beide haben es mir auch in Krisen immer wieder ermöglicht, mich selbst nicht so wichtig zu nehmen - diese befreiende Erfahrung möchte ich weitergeben. Als Kabarettist auf der Bühne und als Pfarrer im direkten Gespräch mit den Menschen. Das Material, mit dem ich es dabei täglich zu tun habe, reizt mich seit meiner Kindheit: die Sprache. Es ist eine unglaubliche Herausforderung, in Worte zu fassen und öffentlich auszusprechen, was Trauernde, Verzweifelte, junge Eltern und verliebte Paare bewegt. Das sehe ich als meine Hauptaufgabe: Gottes Trost, die Gelassenheit, die Gott schenkt, Gottes Lebensfreude, Gottes Aufrütteln und Gottes geteiltes Leid so zu formulieren, dass es bei konkreten Menschen ankommt. Wenn das gelingt, dann erlebe ich meine Arbeit als extrem sinnvoll.

Julia Schnizlein, 39, Lehrvikarin in Wien-Währing

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»Ich möchte am Leben der Menschen teilhaben und Teil ihres Lebens sein«

Schon als Journalistin bei der APA und später bei News war es mir wichtig, Missstände aufzuzeigen und jenen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden. Irgendwann genügte es mir nicht mehr, das, was ich sah, nur zu beschreiben, um dann unmittelbar zum nächsten Thema überzugehen. Ohne Bezug zum Großen und Ganzen. Und die Sehnsucht wuchs, nach einer Welt jenseits von Schnelllebigkeit und zeitbedingter Oberflächlichkeit. Ich möchte tatsächlich am Leben der Menschen teilhaben und Teil ihres Lebens sein. Ich möchte Halt geben, Trost spenden und Werte vermitteln. Und ich möchte mich auch selbst weiterentwickeln. Die evangelische Kirche ist für mich ein Ort, an dem man über sich hinauswachsen kann, ohne sich um sich selbst zu drehen. Ein Ort, an dem man frei ist und nur einem Rechenschaft schuldet - Gott.

Dace Dislere-Musta, 47, Lehrvikarin in Gmünd

»Ein Beruf, der den Menschen und das Leben in ihrer Fülle erfasst. Das kann nur der Pfarrberuf«

Als in Lettland die Frauenordination abgeschafft wurde, konnte ich meinen Beruf als Pfarrerin dort nicht mehr ausüben. Auf der Suche nach einer anderen beruflichen Erfüllung habe ich vieles ausprobiert. Ich war Krankenschwester, habe ein Literaturstudium begonnen, Soziologie studiert, in der Diakonie gearbeitet Das alles war spannend - aber es war nie genug. Ich blieb auf der Suche nach einem Beruf, der die Welt und den Menschen nicht auf einen Teilaspekt reduziert. Einem Beruf, der den Menschen und das Leben in ihrer Fülle erfasst. Das kann nur der Pfarrberuf. Daher beschloss ich, Lettland den Rücken zu kehren, und kam nach Österreich, um hier Pfarrerin zu werden.