Zu alt fürs Autofahren?

Den Führerschein gibt es in Österreich auf Lebenszeit. Ob Senioren fit für die Straße sind, wird nicht kontrolliert. Aber es gibt freiwillige Angebote. Besuch bei einem Fahrsicherheitstraining für Pensionisten.

von Stoppschild © Bild: iStockphoto.com/ronniechua

Der rote Kleinwagen prescht auf die Wasserwand zu. Am Steuer sitzt die 76-jährige Eveline Rumpler, auf der Nase eine runde Sonnenbrille. Das senkrecht hochschießende Hindernis hat sie fest im Blick. Eveline drückt aufs Gas, das Auto beschleunigt auf 60 km/h. 100 Meter weiter steht Michael Mungitsch am Straßenrand. Schwarze Hose und dunkelblaues Poloshirt erinnern an eine Polizeiuniform. "Bremse durchtreten!", ruft er in sein Funkgerät. Reifen quietschen, ein paar Zentimeter vor dem Hindernis kommt der Wagen samt Seniorin zum Stillstand. "Das war schon gut!", sagt Michael Mungitsch. Er ist der ÖAMTC-Trainer. "Versuch, nächstes Mal schneller zu reagieren. Was ist, wenn dir ein Kind auf die Fahrbahn springt?"

In diesem Jahr gab es eine ganze Reihe von Unfällen, bei denen Pensionisten am Steuer saßen. Salzburg, 21. August: ein Pkw rast in einen Gastgarten. Ein zweijähriges Kind wird schwer verletzt. Der Lenker hat das Bewusstsein verloren, er ist 73 Jahre alt. Steiermark, 20. Juli: ein 75-Jähriger prallt gegen einen Baum, er verstirbt noch am Unfallort. Tirol, 19. Juli: eine 86-Jährige verwechselt beim Einparken Gas und Bremse. Der Pkw rammt einen Kinderwagen, ein einjähriger Bub stirbt. Nach dieser Unfallserie ist in den Medien eine Diskussion entbrannt. Muss die Fahrtauglichkeit von Seniorinnen und Senioren kontrolliert werden?

Ohne Gesundheitschecks am Steuer

An diesem Augusttag stehen außer Eveline Rumpler drei weitere Senioren samt Auto am Verkehrsübungsplatz Teesdorf in Niederösterreich. Hier organisiert der ÖAMTC monatlich zwei bis drei Fahrsicherheitstrainings für Menschen über 60 Jahre. Je nach Wohnort kostet das 110 bis 150 Euro. In sechs Stunden üben die Pensionisten trockene Theorie ebenso wie Notbremsen und Kurvenfahren. Es folgt ein Reaktionstest am Computer. Der prüft, wie gut sie auf Geräusche und Lichtpunkte reagieren. Wenn ihr Ergebnis im grünen Bereich liegt, sind die Teilnehmer weiterhin fit für den Straßenverkehr. Wenn nicht, wird ihnen die Empfehlung des ÖAMTC ausgesprochen, nicht mehr Auto zu fahren. Verbieten können das die Experten nicht. Die Fahrpraxis selbst spielt für das Testergebnisüberhaupt keine Rolle. Dafür gibt es nur ein mündliches Feedback.

"Ich fahre viel mit meinen Enkelkindern", erklärt Eveline Rumpler. "Da will ich mit gutem Gewissen sagen, ich kann es mir zumuten." Den Führerschein hat sie mit 19 Jahren gemacht. Hörgerät oder eine optische Brille trägt sie nicht. Dass Augen und Ohren in knapp 60 Jahren nicht schlechter geworden sind, musste sie allerdings nie belegen. Verpflichtende Gesundheitschecks gibt es nicht.

Die größte Risikogruppe im Straßenverkehr sind Fahranfänger zwischen 15 und 24 Jahren. Sie sind an 23 Prozent der Unfälle Schuld. An zweiter Stelle stehen Senioren: Menschen über 65 Jahre sind in 14 Prozent der Fälle Hauptverursacher. Der Fahrtrainer beim ÖAMTC, Michael Mungitsch, sagt, dass junge Fahrer tendenziell besser würden. Bei älteren Verkehrsteilnehmern sei eher das Gegenteil zu erwarten.

Falsche Selbsteinschätzung

Ob die Fahrtauglichkeit mit zunehmendem Alter überprüft wird, ist in jedem Land der EU unterschiedlich. In Italien ist die Gültigkeitsdauer nach Alter gestaffelt. Für jede Verlängerung braucht es ein ärztliches Attest. In Portugal wird ab 50 Jahren ein Gesundheitszeugnis verlangt, in Großbritannien reicht eine Selbstauskunft. Neben Österreich stellen Deutschland, Frankreich und Polen eine unlimitierte Fahrerlaubnis aus. Laut der österreichischen Straßenverkehrsordnung dürfen nur Menschen ein Fahrzeug lenken, wenn sie geistig und körperlich in der Lage sind, das Auto zu beherrschen und die Rechtsvorschriften zu befolgen. Das kann bei jedem Menschen unterschiedlich sein. Bei einem Fahrer beginnt die Fahruntauglichkeit bereits beim Schnupfen, beim anderen erst mit der Demenz. Ärzte können Empfehlungen aussprechen, verbindlich sind die aber nicht.

Dass Verwandte den Opa oder Ärzte die Patientin bei der Behörde melden, passiert selten. In Österreich kann nur die Polizei den Führerschein abnehmen oder den Lenker zu einer Überprüfung der Fahrtüchtigkeit verpflichten. Für Letzteres ist Edith Grünseis-Pacher zuständig. Seit 2007 ist sie gerichtlich beeidete Sachverständige. Sie hat schon Tausende Menschen am Lenkrad überprüft. "Wenn die Polizei jemanden aufgreift, ist es schon zu spät", sagt Edith Grüneis-Pacher. "Dann haben diese Menschen die Allgemeinheit bereits gefährdet."

Sie ist die Einzige, die im Gespräch mit News reguläre Gesundheitschecks fordert. "Eigenverantwortung funktioniert nicht", sagt sie. Das greife nur bei gesunden Menschen. "Wer Defizite hat, realisiert das oft nicht." Falsche Selbsteinschätzung sei Teil vieler Krankheitsbilder: Demenz oder sinkendes Seh- und Reaktionsvermögen schleichen sich nur langsam ein, oft, sagt Edith Grüneis-Pacher, fehle das kritische Bewusstsein "Über 99 Prozent der Untauglichen halten sich für gute Fahrer." Das hat sie statistisch untersucht. Von 1.000 Untauglichen, die bei ihr einen Fahrcheck absolvieren mussten, haben nur zwei Personen schon sehr früh eingesehen, dass sie nicht gut fahren. Das Alter ist dabei keineswegs der einzige Indikator. "Ein Herr war mit 98 Jahren noch immer fahrtauglich", sagt Edith Grünseis-Pacher. Gleichzeitig gebe es 50-Jährige, die nicht mehr ans Steuer sollten. "Das ist eine Frage der Gesundheit, nicht des Alters."

Fahrsicherheitstraining für Pensionisten
© News/Heinz Stephan Tesarek EIGENVERANTWORTUNG. Kurt und Eveline Rumpler wollen sichergehen, dass sie gut fahren
Fahrsicherheitstraining für Pensionisten
© News/Heinz Stephan Tesarek KONZENTRATION. Die Senioren versuchen sich in Aquaplaning- und Notbremsmanövern

Routine als Risiko

Vor der Mittagspause wiederholt ÖAMTC- Trainer Michael Mungitsch die Vorrangregeln. Dafür steht er vor einem Tisch, darauf liegt ein Verkehrsspielteppich, der aussieht wie aus einem Kinderzimmer. Mit einem Spielzeugauto fährt er eine Strecke bis zu einer Kreuzung, dann fragt er die Gruppe, wer hier warten muss. Das kann jeder der Teilnehmer beantworten. Den erhobenen Zeigefinger will Michael Mungitsch auch dann vermeiden, wenn eine Frage falsch beantwortet würde. "Wir sind ein Autofahrerclub", sagt er. "Wir sind da, um den Lenkern zu helfen. Bestrafen und Führerschein einkassieren ist Aufgabe der Behörde." Von verpflichtenden Fahrtüchtigkeitsprüfungen hält er nichts. "Das verursacht Stress und ist nur eine Momentaufnahme." Wer heute noch gut unterwegs sei, könne in einem Monat schon Demenzerscheinungen haben. Sinnvoller fände er verpflichtende Trainings für Senioren nach Vorbild des Mehrphasenführerscheins. Wer seit 2003 in Österreich den Schein macht, muss innerhalb von zwölf Monaten nach der Fahrprüfung zwei Perfektionsfahrten und ein Fahrsicherheitstraining absolvieren. Zusätzlich gibt es ein verkehrspsychologisches Gruppengespräch.

"Ein großes Risiko für ältere Menschen sind Automatikautos", sagt Michael Mungitsch. Mit Elektro-, Wasserstoff-und Hybridmodellen würden Schaltgetriebe aussterben. "Wer 40 Jahre lang mit einem Schaltgetriebe gefahren ist, wird davon überfordert sein."

Eigenverantwortung statt Kontrolle

Klaus Robatsch ist Forschungsleiter des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KfV). "Wir wollen, dass Menschen möglichst lange mobil bleiben", sagt er. Das Unfallrisiko sei zwischen 27 und 81 Jahren annähernd gleich. Aber ab 82 Jahren steige es pro Kilometer, und ab 85 Jahren liege der Wert sogar über den Fahranfängern. Dieses Manko würden die Senioren allerdings ausgleichen. "Es wird viel kompensiert", sagt Robatsch. Pensionisten pflegen einen angepassteren Fahrstil, und reaktionsschwächere Pensionisten fahren langsamer, wodurch der Anhalteweg kürzer wird. Wer nicht mehr gut sieht, fährt nur noch unter Tags auf trockener Strecke. Die Eigenverantwortung reiche aus, sagt Robatsch.


Ähnlich sieht das auch die Verkehrspsychologin des ÖAMTC. "Niederschwellige Angebote funktionieren besser als die Behördenkeule", sagt Marion Seidenberger. Statt gesundheitlichen Tests sei es Verantwortung der Angehörigen und Hausärzte, beeinträchtige Fahrer an die Behörde zu melden. "Dänemark hat 2017 ärztliche Tests für Senioren abgeschafft", sagt sie. "Dort hat sich gezeigt, dass Senioren dadurch nur in andere Bereiche gedrängt werden. So sind alte Menschen vermehrt als Fußgänger und Radfahrer verunglückt." Außerdem seien heutige Pensionisten wesentlich aktiver, weil sie mehr Geld und Zeit hätten als früher. Das mache sie zu einer interessanten Zielgruppe für die Automobilindustrie, sagt die Verkehrspsychologin. Tatsächlich wurden im Jahr 2021 knapp 28 Prozent aller Kfz-Neuzulassungen in Österreich werden an Menschen über 65 ausgestellt.

Politik gegen unpopuläre Regeln

Fest steht, Senioren sind vor allem wichtig für Politiker, denn sie stellen eine große Wählergruppe. 19,4 Prozent der Bevölkerung sind über 65 Jahre alt, und der Anteil steigt. Das könnte erklären, warum die meisten Parteien gegen eine Einschränkung der Fahrerlaubnis im Alter sind. Die rechtlichen Grundlagen reichten aus, sagen ÖVP und Grüne. Mobilität vor allem am Land sei nur mit einem Auto möglich, ergänzen FPÖ und SPÖ, die ein funktionierendes öffentliches Verkehrsnetz auch außerhalb der Stadt fordert. Nur die Neos zeigen sich offen für verpflichtende Gesundheitschecks im Alter. "Es gibt immer mehr ältere Führerscheinbesitzer. Diesem Risiko müssen wir entgegenwirken", sagt Verkehrssprecher Johannes Margreiter. Dabei verweist er auf das befristete italienische Modell.

Alles im grünen Bereich

Zurück auf den Verkehrsübungsplatz in Niederösterreich. Hier wartet Kurt Rumpler am Streckenrand, bis er mit seinem Fahrtraining an der Reihe ist. "Einige können nur noch mit Rollator gehen, dürfen aber ein Auto fahren", sagt er. "Das ist Wahnsinn." Rumpler ist 84 Jahre alt und hat erst vor zwei Jahren sein Motorrad verkauft. "Es ist einfach zu gefährlich geworden." Jetzt fährt der Pensionist Elektrorad. Das hält ihn fit. Im Auto fühlt er sich nach wie vor sicher. Trotzdem hat ihn seine Frau, Eveline Rumpler, dieses Mal überredet, das Fahrsicherheitstraining mitzumachen. "Sie will, dass ich weiß, was ich tue", sagt er und lächelt."

Nach seinem Training und dem Reaktionstest ist Kurt Rumpler stolz. Sein Ergebnis liegt im grünen Bereich und weist ihn als fit für die Straße aus. Wenn der Test nächstes Mal schlecht ausfällt, will er das Autofahren sein lassen. "Irgendwann muss Schluss sein", sagt der besonnene Herr.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 37/2022 erschienen.