Rache! Warum die Welt
ohne nicht besser wäre

Rache ist ein Gefühl, das jeder von uns gut kennt. Und dennoch lässt es sich ganz schwer fassen. Wir haben beim Psychologen und Forensiker Reinhard Haller nachgefragt, wer besonders anfällig für Rache ist und wieviel Rachsucht heutzutage überhaupt noch sein darf.

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Sie fällt süß aus oder bitter, sie mag zutiefst befriedigend sein und kann doch auch Schuldgefühle auslösen. Ist die Seele verletzt, das Ego beleidigt, ist der Wunsch nach Rache nicht weit. Der Psychotherapeut und Bestsellerautor Reinhard Haller kennt die kleine, fiese, quälende innere Stimme, die nach Revanche schreit, die das vermeintliche oder tatsächliche Unrecht sühnen will. In seinem neuen Buch „Rache – gefangen zwischen Macht und Ohnmacht“ zeigt Haller, in welche Abgründe die Rachsucht führt und, dass auch die süßeste Rache einen bitteren Beigeschmack hat.

Reinhard Haller ist Psychiater und Psychotherapeut. Der Vorarlberger ist gefragter Experte und forensischer Gutachter. In dieser Rolle begegnete er einigen der spektakulärsten Schwerverbrecher, wie dem mehrfachen Prostituiertenmörder Jack Unterweger und dem Bombenleger Franz Fuchs. Der ehemalige Leiter der psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik Maria Ebene und Präsident der Kriminologischen Gesellschaft ist vornehmlich als Gutachter und Experte tätig, liebt das Wandern und die Berge. Im Verlag Ecowin sind von ihm „Die Macht der Kränkung“, „Nie mehr süchtig sein“, „Die Narzissmusfalle“ und "Das Böse. Die Psychologie menschlicher Destruktivität" erschienen. Sein neuestes Werk "Rache - zwischen Macht und Ohnmacht" ist ab sofort im Handel erhältlich.

Herr Haller, Sie bemängeln in Ihrem neuen Buch, dass Rache wissenschaftlich nur unzureichend beleuchtet ist. Wie erklären Sie sich das?
Ich erkläre es mir damit, dass Rache ein sehr komplexes und auch ein sehr widersprüchliches Gefühl und dadurch für die Forschung schwer zu fassen ist. Zudem geht es Forschern vermutlich gleich wie uns allen, dass wir uns im Umgang mit dieser Emotion sehr schwer tun. Rache ist süß, aber auch bitter, sie ist entlastend und löst Schuldgefühle aus, sie kann Schmach und zugleich Triumph sein.

»Rache wäre nicht so belastend, wenn man die Mechanismen dahinter besser verstehen könnte«

Kann man dieses Defizit noch aufholen – und wo sähen Sie in erster Linie den Nutzen darin?
Wenn ein Gefühl derartig verdrängt und tabuisiert wird, dann wäre es ganz wichtig, mehr darüber zu wissen. Je mehr Transparenz geschaffen wird, je besser man sich Rache erklären und je mehr man ihre Widersprüchlichkeiten ansprechen kann, desto weniger gefährlich wird sie. Die wissenschaftliche Beschreibung würde also gewissermaßen eine Entschärfung mit sich bringen.

Einerseits würden wir uns also für das Thema sensibilisieren, auch in der Therapie wäre es ganz wichtig, dass man mehr auf Rachegefühle und –zwänge eingeht. Andererseits wäre Rache bei weitem nicht mehr so belastend, wenn man die Mechanismen dahinter besser verstehen könnte.

Wenn man Rache sachlich nur als Reaktion auf empfundene Ungerechtigkeit bewertet – woher kommt dieses menschliche Bedürfnis nach Ausgleich?
Betrachtet man die Racheursachen, werden immer die üblichen Verdächtigen wie Eifersucht, Neid und Hass genannt, aber die eigentlichen Gründe liegen psychologisch tiefer. Zunächst geht es einmal um die Herstellung von Gerechtigkeit. Das ist ein unglaublich sensibles und wichtiges Gefühl, das meiner Meinung nach viel zu wenig beachtet wird. Zweitens war der Rächer immer einmal Opfer, was seinen Selbstwert angegriffen und Kränkungsgefühle ausgelöst hat. In der Rache will er diesen Selbstwert wiederherstellen.

Drittens hat instinktive Rache auch eine Schutzfunktion, um in Zukunft nicht mehr angegriffen zu werden. Viertens entsteht im Rächer ein Strafbedürfnis gegen denjenigen, der es gewagt hat, einem Wertschätzung oder gar die Liebe vorzuenthalten. Fünftens kann Rache als Gefühlsdiffusion aus Gekränktheit, Aggressivität, Depressivität, Machtanspruch aber auch Niederlage verstanden werden, von der sich der Rächer befreien möchte.

»'Aug' um Aug' und Zahn um Zahn' ist gar nicht so brutal, wie es heute dargestellt wird«

Angelehnt an Verhaltensökonomie, wonach ein materieller Verlust das Doppelte an Gewinn nach sich ziehen muss, um ihn nicht mehr als solchen zu empfinden: Wie ist dieses Verhältnis von „Verlust“ und ausgleichendem „Gewinn“ bei Rache zu bewerten?
Das ist auch das Problem bei der Rache, dass sie letztlich immer mit einem Zuschlag ausfällt. So etwas löst im Extremfall Blutrache-Zyklen aus, die sich über Jahrhunderte ziehen können. Das Talionsprinzip „Aug‘ um Aug‘ und Zahn um Zahn“, das heutzutage verpönt ist, diente ursprünglich eigentlich dazu, dass Gleiches mit Gleichem vergolten wird und es eben nicht zu so einer Überrache kommen kann. Dieses Prinzip ist also bei genauerer Betrachtung gar nicht so brutal und archaisch, wie es heute meist dargestellt wird.

Wieviel Rache darf denn nach heutigen Maßstäben sein?
Wenn Rache schon sein muss und kein Weg daran vorbeiführt, dann sollte sie immer so ausfallen, dass sie ein Stück unter dem ursprünglichen Schaden liegt. Nur so kann sie mit der Zeit schwächer werden.

Um ein aktuelles Beispiel aus der Politik zu nennen: Als Gesundheitsminister Anschober zurückgetreten ist, hat er in seiner Abschiedsrede den Koalitionspartner nicht bedankt. Sollte er es nicht vergessen oder verdrängt haben, war es psychologisch die absolut ideale Form von Rache. Er hat ein Zeichen gesetzt, aber den anderen nicht über die Maße geschädigt.

Der Volksmund sagt, dass Zeit alle Wunden heilt. Warum funktioniert das bei der Rache nicht?
Das funktioniert vor allem bei zwanghaften Menschen nicht, weil die sich nicht vom Rachezwang lösen können. Und es funktioniert in allererster Linie bei narzisstischen Menschen nicht, da diese niemals vergessen und verzeihen können. Das Rachegedächtnis ist bei diesen zwei Persönlichkeitstypen besonders stark ausgeprägt.

Warum sind Narzissten besonders anfällig für Rache?
Der Narzissmus ist zum ersten Mal genau mit dem Begriff der „narzisstischen Kränkung“ von Sigmund Freud beschrieben worden. Narzissten sind deshalb so kränkbar und umso rachebedürftiger, weil sie es als enorme Ungerechtigkeit empfinden, nicht bewundert zu werden.

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Sehr gut gesehen hat man das auch beim Narzissten des Jahrhunderts, Donald Trump, der seine eigenen Gesetze geschaffen, sich über alles hinweg gesetzt hat. Und wenn jemand anderer Meinung war, hat er sich sofort gerächt, indem er ihn aus dem Kabinett geworfen oder einen bösen Tweet abgeschickt hat.

»Ein böser Tweet ist immer noch besser als ein Messer im Rücken«

Sie stellen unserer Gesellschaft das Attest aus, dass sie sich in einem Zeitalter des Narzissmus befindet und demnach auch der Nährboden für Rache besonders stark ist. Beflügeln soziale Medien das Gefühl der Rache mit falschen Hoffnungen, dass heutzutage jeder Superstar werden kann, und mit dem Neid auf die wenigen, die das geschafft haben?
Ich fürchte schon, dass das so ist. Früher war es nicht so einfach wie heute, sich anonym zu rächen, da ist man in der Regel sofort sanktioniert worden. Heute hat jedermann die Möglichkeit sich zumindest auf virtuelle Weise zu rächen, darum stehe ich dem Hass im Internet auch ambivalent gegenüber. Natürlich ist es furchtbar, Opfer zu sein, aber gleichzeitig muss man es auch als Puffer sehen, der das hohe Rachebedürfnis der Gesellschaft letztlich auch ein Stück weit abfängt. Und es ist immer noch besser, einen bösen Tweet über sich zu lesen, als ein Messer in den Rücken gerammt zu bekommen.

Beim Tatbestand einer Racheaktion geht man prinzipiell davon aus, dass der Gekränkte eine falsche Handlung setzt. Tappt man in eine Falle der Täter-Opfer-Umkehr, wenn man den Fehler auch beim Kränkenden suchen würde?
Nein, denn der Rächer war ja ursprünglich Opfer und das nunmehrige Racheopfer der primäre Schädiger.

»Rache ist die Waffe des kleinen Mannes gegen Entwertungen«

Sie sprechen in Ihrem Buch die sogenannte Workplace Violence an, die Gewalt am Arbeitsplatz. Wie stark und in welcher Form tritt dieses Phänomen in Österreich auf?
Die häufigste Form ist natürlich das Mobbing. Das sind diese vielen, vielen kleinen Stiche im Alltag, die einzeln für sich gesehen gar nicht so dramatisch wirken müssen, aber in Summe eine gigantische Last darstellen. Das wäre z. B. Mitarbeiter nicht zu grüßen, ihnen ständig ins Wort zu fallen, sie nicht zu informieren oder sie bei einer Beförderung nicht zu berücksichtigen. Zwei Prozent der Berufsunfähigkeitspensionen gehen ja in Österreich immerhin auf Mobbing zurück.

Die tätliche Gewalt am Arbeitsplatz ist zum Glück weniger häufig, aber dafür umso spektakulärer. Ich glaube, da dient die Angst vor der Rache noch ein bisschen als soziales Regulativ, weil es die einzige Gefahr ist, vor der sich rücksichtslose Chefs noch fürchten. Ich habe oft Anfragen von Vorgesetzten bekommen, die einen Mitarbeiter gekündigt hatten und dann befürchteten, dass er ihnen etwas antun könnte. Insofern ist Rache die Waffe des kleinen Mannes gegen massive Übergriffe, Entwertungen und Kränkungen.

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Gibt es bei Workplace Violence erste Warnzeichen, die man im Hinterkopf behalten oder bei denen man überhaupt einschreiten sollte?
Es ist ganz in diesem Zusammenhang ganz wichtig, das Gefühl der Kränkung wieder zu entdecken, das in unserer „coolen“ Gesellschaft zu kurz gekommen ist. Man bedenkt zu wenig, dass jeder Mensch auch ein sehr kränkbares Wesen ist. Dafür müssten insbesondere Führungskräfte mehr Sensibilität entwickeln.

Menschen, die später zu Workplace-Attentätern werden, neigen zuerst dazu, sich zurückzuziehen, Dienst nach Vorschrift zu leisten und die innere Kündigung anzutreten. Sie greifen auch zur Radikalsprache der Intelligenten, indem sie ihrer Aggressivität in zynischen und sarkastischen Bemerkungen freien Lauf lassen. Dann tritt meistens eine gewisse Ruhe vor dem Sturm ein, bevor es zur vermeintlich überraschenden Attacke kommt.

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Wieviel Rache ist denn jetzt am Ende des Tages zulässig?
Das lässt sich nicht beantworten. Entscheidend ist immer, dass die Leidensgrenze beachtet wird. Wenn Rachegefühle den Betroffenen in eine depressive Reaktion stürzen, in eine Grübelsituation, aus der er nicht mehr herauskommt, muss Rache in einer gewissen Form möglich sein.

Wenn man im persönlichen Reifungsprozess Rachegedanken loslassen kann und sich in die innere Position des „Begnadigers“ begibt, kommt man über Rachebedürfnisse ganz anders hinweg. Warum? Weil nur Autoritäten begnadigen können, was wiederum den Selbstwert und die Gelassenheit durch das Loslassenkönnen steigert. Das ist die Idealform, mit Rache umzugehen und viel besser, als eine nicht endende Rachespirale in Gang zu setzen.

»Rache sollte intelligent sein und unterhalb der ursprünglichen Schädigung liegen«

Ist die Rolle des Begnadigers also das ideale Rezept gegen Rache?
Wichtig ist auf jeden Fall, dass man sich seiner Rachebedürfnisse bewusst wird und sich dazu bekennt. Durch das konkrete Ansprechen entschärft man sie ein Stück weit. Ferner ist es wichtig, einen anderen Standpunkt einnehmen zu können und sich die Beurteilung anderer anzuhören.

Wird die Rache ausgeführt, sollte sie intelligent sein und unterhalb der ursprünglichen Schädigung liegen. Wenn man die Rache letztlich in positive Energie umwandeln kann, dann kommt Verzeihen an erster Stelle. Verzeihen kann man nicht immer, aber man darf nicht vergessen, dass man letztendlich auch sich selbst verzeiht. Wenn man diesen ganzen Rattenschwanz aus Grübelei und Gekränktheit, aus Schlaf- und Freudlosigkeit abschneiden kann, tut man sich ja auch selbst etwas Gutes.

Ist eine Welt ohne Rache überhaupt erstrebenswert?
Das glaube ich nicht. Rache ist ein sehr vielfältiges Gefühl, darum hat mich auch die Auseinandersetzung damit interessiert. Jede Emotion wie Trauer, Freude oder Liebe können wir sehr gut beschreiben, bei der Rache gelingt dies nur schwer. Die Welt wäre ohne Rache nicht besser, weil sie auch für Ausgleich, Gerechtigkeit und psychische Entlastung sorgt.
Letztlich geht es darum, in unserer Gesellschaft die Rache zu kultivieren. Dass wir ihr nicht mehr diese schreckliche Form verleihen, wie das durch Jahrhunderte der Fall war, sondern in eine der zuvor erwähnten Formen bringen und nach Möglichkeit niemand zu Schaden kommt.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. News.at macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.