So böse ist Österreich

Wie kaum ein anderer kann Reinhard Haller die Abgründe des Bösen ausloten und vermessen. Der Gerichtspsychiater und -gutachter saß Schwerverbrechern schon tausende Stunden lang gegenüber und hat durch sie erfahren, wie das Böse menschliche Gestalt annehmen kann. Im Interview spricht er über das Böse in Österreich und über die alltäglichen Herausforderungen seiner Berufung.

von Kriminalität - So böse ist Österreich © Bild: istockphoto.com

Herr Haller, was sagt die aktuelle Kriminalstatistik über unsere Gesellschaft aus?
Auf der einen Seite leben wir in Österreich eher in einem kriminalitätsarmen Land. Wir haben bei den Tötungsdelikten einen kleinen Anstieg, international gesehen befinden wir uns aber immer noch auf niedrigem Niveau. Auf der anderen Seite verlagern sich die Tötungsdelikte immer mehr in den zwischenmenschlichen Bereich. Die Gewalttaten werden immer motivärmer, bei Kleinigkeiten wird maximal reagiert, etwa eine Messerattacke. Auch findet eine eine Verlagerung der Kriminalität ins Internet statt.

Um sich auf Ihr neues Buch „Das Böse“ zu beziehen: Ist Österreich also unterdurchschnittlich böse?
Ich glaube schon, dass das so ist, wenngleich wir von fatal großen Einzelfällen betroffen sind, die die Statistik natürlich trüben. Generell stehen wir, was schwere Delikte wie Mord oder Sexualmord betrifft, im internationalen Vergleich gut da. Das hat aber auch damit zu tun, dass keine großen kriminellen Strukturen im Land exisiteren, also keine Gangs oder eine Mafia wie in Mexiko oder in Russland. Es spielt sich vielmehr im zwischenmenschlichen Bereich ab, vor allem in der Partnerschaft: Eifersucht und Kränkungen sind in Österreich die Hauptmotive.

Weil Sie die Einzelfälle erwähnt haben: Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass es da draußen noch weitere Fritzls und Priklopils gibt?
Man muss von statistischen Zufällen ausgehen, dass sich das in Österreich abgespielt hat und nicht etwa über der deutschen oder tschechischen Grenze. Aber wir haben zweifelsohne innerhalb der Kriminalgeschichte ein paar enorme Verbrechen erlebt, das ist keine Frage. Ich hoffe, dass diese Fälle statistischer Ausreißer bleiben und sich kein Trend entwickelt.

»Unzweifelhaft wandelt das Böse sein Gesicht«

Hat sich das Böse über die Jahre verändert? Wie würden Sie das mit Ihrer Erfahrung als Kriminalpsychologe einschätzen?
Unzweifelhaft wandelt das Böse sein Gesicht. Manche Verbrechen verschwinden, manche kommen neu hinzu, die man nicht für möglich gehalten hätte. Um ein skurriles Beispiel zu nennen: Zopfabschneiden war einmal ein großes Verbrechen. Aber auch Verbrechen, die in den 1980er Jahren eine große Rolle gespielt haben, etwa Flugzeugentführungen, sind dank entsprechender Maßnahmen völlig verschwunden.

Andere Delikte wiederum sind neu aufgekommen, wie etwa Schulamokläufe, Internetkriminalität oder alle Formen von Mobbing. Das hängt mit dem Aufkommen neuer gesellschaftlicher Erscheinungen zusammen, aber auch mit der Gesetzgebung. Homosexualität und Suizid waren in Europa einmal strafbar, das kann man sich heutzutage zum Glück nicht einmal mehr vorstellen.

Glauben Sie, dass unsere Gesellschaft dem Bösen gegenüber schon abgestumpft ist?
Das ist eine umstrittene Frage, da gibt es zwei Thesen dazu. Die einen sagen, Gewalt in der Unterhaltung diene dazu, dass die Menschen das Aggressive in sich in einer weniger gefährlichen Form ableiten können. Die anderen behaupten, das rege eher zur Nachahmung an, also ein Lernen am Modell. Dieser wissenschaftliche Streit ist noch nicht entschieden.

Ein ganz entscheidender Punkt ist meiner Ansicht nach schon, dass wir in der modernen Gesellschaft mangels Bewegung nicht mehr so viele Möglichkeiten haben, mit den überschüssigen Kräften umzugehen. Das Konzert der Hormone und das hohe Aggressionslevel in der Jugend und im jungen Erwachsenenalter sind aber nach wie vor vorhanden. Und dann kann es doch zu diesem Aggressionsleerlauf kommen, dass bei Kleinigkeiten alles durchbricht und sich entlädt. Generell bin ich dennoch Meinung, dass die Menschen zumindest in Europa gelernt haben, mit Aggressionspotenzial weitgehend umgehen zu können. Dadurch wird wenigstens diese primitive Form des Bösen ein wenig gemildert.

Sie gehen in einem Kapitel auch auf Schoolshootings ein. Wie kann das Böse schon bei Kindern bzw. Jugendlichen greifen? Unterliegt das Böse nicht einem gewissen Reifungsprozess?
Es ist auf der einen Seite so, dass in dieser Phase viele Risikofaktoren zusammenkommen. Die Körperkräfte nehmen enorm zu, man will seine Grenzen ausloten, man ist in einer schwierigen Lebensphase, man ist der Kindheit entwachsen aber als Erwachsener noch nicht anerkannt und eingebunden.

Auf der anderen Seite ist es schon so, dass Kränkung der meistunterschätzte Faktor ist bei Amokläufen. Die Täter suchen sich deshalb Schulen aus, weil es häufig der Ort der meisten Kränkungen ist. Schlechte Noten, Schulverweis, keine Freundin zu haben, nicht zu Partys eingeladen werden: All das sind vielleicht Kleinigkeiten, können den einzelnen Jugendlichen aber subjektiv in eine Krise stürzen, in eine Art Zermürbungsprozess, den sich der Betroffene nach außen hin nicht anmerken lässt, weil er sich bemüht nach außen hin die Maske der Coolheit zu bewahren. Mit fatalen Konsequenzen. Das ist und bleibt beunruhigend.

»Wir Männer sind leider die Böseren«

Ist der Mann böser als die Frau?
Die Frage ist ganz eindeutig zu bejahen. Der Mann ist von Natur aus aggressiver, er hat viel mehr aggressive Hormone in sich, er ist ganz anders sozialisiert. Auch ertragen Männer Spannungen nicht so gut und wollen immer rasche Lösungen. Letztlich ist der Mann auch weniger dazu bereit, auf eine Psychotherapie einzugehen. All diese Faktoren führen dazu, dass die Kriminalitätsrate von Mann zu Frau ungefähr bei 7:1 liegt, bei Tötungen ist das Verhältnis sogar noch größer. Wir Männer sind leider die Böseren.

Sie erwähnen den Fall eines sadistischen Sexualmörders, der in Haft davon berichtet sich schon auf sein nächstes Opfer zu freuen, um es „vivisezieren“ zu können. Wie schaffen Sie es, als Kriminalpsychologe „cool“ zu bleiben?
Das gelingt mir nicht immer. Diese Tätigkeit ist natürlich eine sehr spannende, weil es Psychologie pur ist, immer eingebettet in eine spannende Geschichte. Das wollte ich auch in meinem neuen Buch „Das Böse“, nämlich Psychologie in Kriminalgeschichten zu vermitteln. Würde man das mit Statistiken und Tabellen machen, wäre das langweilig.

Wenn man nun Fälle hat, wo auch Kinder mit im Spiel sind, das belastet einen, das nimmt man mitunter auch mit ins Wochenende, keine Frage. Ein gewisser Schutz davor ist, dass man die wissenschaftliche Brille aufsetzt und die Emotionalität so gut es geht außen vor lässt. Dann verliert das Ganze auch ein wenig seinen Schrecken.

Gab es Fälle, in denen Sie die Contenance bzw. Ihre professionelle Distanz verloren haben?
Das ist für einen Gutachter eben die große Herausforderung, weil er ja auch ein Mensch ist (lacht). Auf der einen Seite muss er ja auch eine gewisse Empathie haben, sonst könnte er seinen Auftrag ja nicht erfüllen, wenn er sich in den Täter und dessen Welt nicht hineinversetzen kann. Auf der anderen Seite darf er sich natürlich nicht von Gefühlen wie Mitleid oder Sympathie treiben lassen, weil er ja nicht neutral wäre. Da ist es auch hilfreich mit Kollegen oder Supervisoren darüber zu reden.

Man staunt natürlich auch darüber, was alles möglich ist. Wenn man den Fall Fritzl als Krimiautor geschrieben hätte, hätte jeder Verleger gefragt, wie man sich so einen übertriebenen Plot ausdenken kann. Ich habe mich Tätern immer mit einem gewissen Respekt genähert. Nicht vor ihren Taten oder ihren bösen Seiten, aber ich habe immer gewusst, ich darf nicht als Fachmann auftreten.

Sprechen Sie auch mit Ihrer Familie über Fälle?
Nein, in der Familie spreche ich so gut wie nicht darüber. Das ist auch nicht erwünscht, aber dass man Erlebnisse nach Hause mitnimmt, ist gar nicht anders möglich.

»Das Böse ist ein unbestimmter Begriff, bei dem dennoch jeder weiß, was damit gemeint ist.«

Glauben Sie an das Übernatürliche oder hat Ihr Berufsbild keinen Platz dafür?
Wir können das Böse ja nicht wirklich beschreiben. Die Psychiatrie hat da ihre eigenen Vorstellungen und drückt sich auch oft um die Frage. Es haben auch Theologen keine wirkliche Erklärung, die Soziologen und die Philosophen nicht. Es ist kurzum ein unbestimmter Begriff, bei dem dennoch jeder weiß, was damit gemeint ist.

Mich interessieren natürlich schon auch die Erklärungen, die es aus der Religion, der Philosophie oder der Verhaltensforschung gibt, aber in der rein gutachterlichen Arbeit geht es natürlich um andere Kategorien, um juristische, da haben diese Modelle keinen Platz.

Welcher der Fälle, zu denen Sie hinzugezogen worden sind, war bislang die größte Herausforderung für Sie?
Es sind in der Regel gar nicht die spektakulären Fälle, weil die relativ einfach sind. Dass ein Jack Unterweger ein maligner Narzisst war, ist meiner Ansicht nach nicht schwer zu erkennen gewesen. Gutachter werden ja auch für so seltene Störungen ausgebildet. Oft schwieriger sind Fragen zu beurteilen, ob ein erfahrener Trinker mit drei Promille nun einen Vollrausch hatte oder eher nicht.

Rein fachlich der schwierigste Fall war schon das Bombenhirn Fuchs. Das ist ja ein Verbrechen, wo alle Personen, die für so ein enorm großes Verbrechen notwendig sind, in einer Person vereint waren. Er war der Täter, er war der Chemiker, der Physiker, der EDV-Experte, die Bajuwarische Befreiungsarmee. Er hat sich selbst gejagt, er hat sich selbst zur Strecke gebracht, selbst bestraft, indem er sich die Hände abgesprengt hat und er hat sich letztlich selbst gerichtet und exekutiert. Das ist das Außerordentliche an diesem Verbrechen.

»Es ist keine falsche Romantik, dass die Todesstrafe des Menschen einfach nicht würdig ist«

Wie stehen Sie zur Todesstrafe?
Ich bin schon von meinem Menschenbild her ein strikter Gegner der Todesstrafe. Ich glaube, dass man nicht Gleiches mit Gleichem vergelten sollte, da begibt man sich ja auf die gleiche Stufe. Ich bin auch durch meine Befassung mit dem Kränkungsthema ein Anhänger des Verzeihens. Das ist keine falsche Romantik, die Todesstrafe ist einfach des Menschen nicht würdig.

Dass man Menschen ein Leben lang wegsperren muss, um die Gesellschaft zu schützen, das glaube ich schon. Es gibt Menschen, die einfach extrem gefährlich, nicht besserungsfähig und keiner Therapie zugänglich sind. Da gibt es keinen Weg um die Verwahrung in einer Anstalt herum. Ich befürworte auch die Strafe an sich, weil die Bevölkerung auch ein Sühne-Bedürfnis hat.

Das letzte Argument gegen die Todesstrafe sind besonders die Fehlurteile, dass wir immer wieder auch Justizirrtümer haben und dass das unschuldige Leute mit dem Leben bezahlen müssten.

»Man kann das Böse nicht wegtherapieren, so illusorisch bin ich nicht«

Glauben Sie Österreichs Rechtssystem gerecht genug ist um das Böse bestrafen zu können?
Das ist eine Aufgabe, die man natürlich nie ideal lösen kann. Ich glaube schon, dass wir in Österreich relativ gut damit zurechtkommen. Wir haben niedrigere Kriminalitätsraten als im internationalen Vergleich. Was ich mir wünschen würde, wäre die Verbesserung der Therapiemöglichkeiten. Nicht, weil man das Böse wegtherapieren könnte, so illusorisch bin ich nicht. Aber unter den Tätern sind doch sehr viele Personen mit psychischen Störungen und da bräuchte man einfach mehr therapeutische Betreuung, auch in präventiver Hinsicht.

Zur Person: Reinhard Haller ist Psychiater und Psychotherapeut. Der Vorarlberger ist gefragter Experte und forensischer Gutachter. In dieser Rolle begegnete er einigen der spektakulärsten Schwerverbrecher, wie dem mehrfachen Prostituiertenmörder Jack Unterweger und dem Bombenleger Franz Fuchs. Der ehemalige Leiter der psychiatrisch-psychotherapeutischen Klinik Maria Ebene und Präsident der Kriminologischen Gesellschaft ist vornehmlich als Gutachter und Experte tätig, liebt das Wandern und die Berge. Bei Ecowin sind von ihm „Die Macht der Kränkung“, „Nie mehr süchtig sein“ und „Die Narzissmusfalle“ erschienen. Ab 15. Oktober erscheint sein neuestes Werk "Das Böse. Die Psychologie menschlicher Destruktivität".

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