"Mein Opa, der NS-Verbrecher"

Die Enkelin des NS-Verbrechers Otto Wächter über ihr Leben mit dem braunen Erbe

Otto Wächter gehörte zu Österreichs mächtigsten Nazis, der Bau des Krakauer Ghettos und die systematische Deportation von Juden wurden von ihm voll mitgetragen. Nun erzählt seine Enkelin Friderica Magdalena Wächter-Stanfel erstmals, was diese verdrängten Gräuel mit ihr und ihrer Familie machten.

von Nazi-Enkelin als Muslima - "Mein Opa, der NS-Verbrecher" © Bild: Matt Observe/News

Immer wieder fragt sich die Frau mit dem sanften Blick und der ruhigen Stimme, was mit ihr wohl passiert wäre, wenn sie das umfassende Schweigen in der eigenen Familie nicht gebrochen hätte. Heute ist Friderica Magdalena Wächter-Stanfel, 43, als Malerin und Lebensberaterin erfolgreich. Doch unmittelbar nach der Matura verfiel sie in eine tiefe Depression, war ein Jahr lang völlig handlungsunfähig. Heute ist sie zutiefst davon überzeugt: Ihre schwere Krankheit hatte mit der Rolle ihrer eigenen Großeltern Otto und Charlotte Wächter im Dritten Reich zu tun: Er trug als Gouverneur von Krakau und Galizien die Gräuel, die an der jüdischen Bevölkerung verübt wurden, vollumfänglich mit. Sie gab in all dem Elend die in Saus und Braus lebende Gesellschaftsdame.

Doch von alldem, sagt Wächter-Stanfel, habe sie bis vor fünf Jahren nicht explizit gewusst. Erst die Nachforschungen des britischen Rechtsprofessors Philippe Sands, der die Verbrechen und die Flucht ihres Großvaters im Rahmen einer Kino- Dokumentation und nun eines Buches aufarbeitete, hätten ihr so richtig die Augen geöffnet.

Diffuse Ahnungen und Befürchtungen seien zwar da gewesen, aber nichts Konkretes, nichts, was sie hätte aufarbeiten können. Nun erzählt sie erstmals, was das große Schweigen mit ihr und ihrer Familie machte. Und plädiert eindringlich für einen offeneren Umgang Österreichs mit seiner historischen Schuld.

1 Fridericas Großvater Der 1901 in Wien geborene Otto Wächter war bereits als junger Anwalt ein glühender Nazi, der maßgeblich am tödlichen Attentat auf Bundeskanzler Engelbert Dollfuß beteiligt war. Danach flüchtete er nach Deutschland, das große Bild oben zeigt ihn schräg hinter Hitler an der sogenannten "Reichsführerschule", einer Art Sommercamp für die künftige braune Elite. Nach dem Überfall auf Polen avancierte Wächter zum Gouverneur des Distrikts Krakau, die Errichtung des dortigen Ghettos geht auf ihn zurück. Danach wurde Wächter Gouverneur des Distrikts Galizien mit Sitz in Lemberg: Seine Herrschaft überlebten gerade einmal drei Prozent der jüdischen Vorkriegsbevölkerung. Seine "Abteilung Arbeit" selektierte die galizischen Juden, entweder zur Arbeit als Zwangsarbeiter oder zur Deportation in Vernichtungslager.

2 Fridericas Großmutter Otto Wächters 1908 geborene Frau Charlotte Wächter stammt aus der Industrie-Dynastie der Bleckmanns, die in Mürzzuschlag Stahl produzierte. An der Seite ihres Mannes gab sie in Krakau und Galizien die braune Salondame, die immer wieder wertvolle NS-Raubkunst in ihren Besitz brachte. Heinrich Himmler schickte ihr zur Geburt ihrer sechs Kinder Glückwunschkarten und Geschenke. Nach dem Krieg versorgte sie ihren Mann, der sich fast vier Jahre lang in den österreichischen Alpen versteckte, im Rahmen konspirativer Treffen mit "Überlebenspaketen". Nach Otto Wächters Tod in einem römischen Hospital überführte sie seine sterblichen Überreste nach Österreich -und hielt bis zu ihrem Tod im Jahr 1985 den Mythos am Leben, ihr Mann habe nichts mit NS-Verbrechen zu tun.

3 Fridericas Vater Horst Wächer wurde 1939 als viertes Kind von Otto und Charlotte geboren. Sein Taufpate war Arthur Seyß-Inquart. Horst Wächter verdingte sich als Sekretär des jüdischen Malers Friedensreich Hundertwasser, war gemeinsam mit seiner schwangeren Frau Jacqueline Teil von Hundertwassers großer Schiffsexpedition mit der "Regentag" nach Neuseeland: Friderica Magdalena Wächter wurde 1977 auf dieser Reise geboren. Horst Wächter kooperierte zwar mit Anwalt Philippe Sands bei dessen Nachforschungen über Vater Otto - dessen Schuld wollte er aber nie eingestehen.

Frau Wächter-Stanfel, wie würden Sie die Rolle einordnen, die Ihr Großvater Otto Wächter im Dritten Reich eingenommen hat?
Mein Großvater war ein Massenmörder, ganz bestimmt. Auch wenn nicht nachweisbar ist, ob er auch persönlich jemanden erschossen hat -durch seine Position als Gouverneur war er verantwortlich. Er war ja ein Nazi der ersten Stunde und von Anfang an Teil des Systems.

Als Hitler am Heldenplatz den "Anschluss" verkündete, standen Ihre Großeltern am Balkon in der zweiten Reihe. Heute würde man sagen, sie waren "VIP-Gäste".
Ja, und stellen Sie sich vor, ich habe von alldem nichts gewusst! Ich habe erst vor etwa fünf Jahren davon erfahren, als Philippe Sands' Kinodokumentation "What Our Fathers Did" herauskam. Als ich mit 16 Jahren im Kino "Schindlers Liste" gesehen habe, hat mich das unglaublich bedrückt -ohne dass ich um die Verstrickungen meiner Familie wusste.

Da stehen Ihre Großeltern also im Zentrum der neuen Macht, des hysterischen Jubels. Überlegen Sie sich manchmal, was so ein Hype mit Ihnen gemacht hätte?
Meine Oma war damals ja wirklich wie in einem Rausch - doch nachvollziehbar wird das Ganze für mich dadurch nicht. Ich bin auch ein ganz anderer Mensch, hatte nie das Bedürfnis, im Zentrum der Macht zu stehen. Aber meine Großmutter war eine gewaltige Narzisstin. Sie stammte aus der Dynastie der Bleckmanns, ist also in einer sehr reichen Familie aufgewachsen. Sie ist aber von Dienstboten aufgezogen worden, genoss nie so etwas wie Herzensbildung. Sie hat immer gemacht, was sie wollte, und das auch bekommen. Die Macht, das war ihr Ding.

Glauben Sie also, es gibt eine Zusammenhang zwischen der Lieblosigkeit ihrer Jugend und ihrer späteren Karriere als braune "Society- Dame"?
Ganz sicher. Für sie war es eine Selbstverständlichkeit, immer obenauf zu schwimmen. Motto: "Natürlich gehöre ich auf diesen Balkon, wohin denn sonst?" In Mürzzuschlag, wo sie aufwuchs, gehörte sie von klein auf zu den "Herrenleuten", ihrer Familie gehörte dort praktisch alles. Später wollte sie dann einen gut aussehenden Mann mit Macht. Heute würde man wohl sagen, die zwei waren ein "Karriere-Couple", sie nutzten die Chancen, wo und wie sie sich boten.

© Matt Observe/News

Und als Sie ein Teenager waren, hat niemand aus der Familie mit Ihnen über deren Vergangenheit gesprochen?
Oh nein, darüber hat niemand gesprochen, deswegen konnte ich auch nichts aufarbeiten. Damals war das ja noch nicht so, dass man auf Eigenregie im Internet recherchieren konnte. Bewusst mitbekommen habe ich nur dieses bedrückende Schweigen. Mein eigener Vater sagte immer: "Mein Vater war ein toller Mensch." Und meine Mutter und ich sagten darauf: "Das ist Blödsinn, wenn er ein Nazi war, kann er kein toller Mensch gewesen sein." Und bereits an diesem Punkt kam die Diskussion ins Stocken.

Ihre Großmutter Charlotte hat zur Geburt ihrer sechs Kinder Glückwunschkarten und Geschenke von Heinrich Himmler bekommen, in Krakau lebte sie als "Frau Baronin" in Saus und Braus, während Ihr Großvater praktisch nebenan das Ghetto errichten ließ. Haben Sie selbst sie als liebe Oma in Erinnerung?
Natürlich liebt man als kleines Kind seine Oma, mein Mann sagt, ich spreche sogar ähnlich wie sie. Als ich zwei Jahre alt war, kam ich mit meiner Mutter zu ihr nach Fieberbrunn bei Kitzbühel, wo sie damals ein Bauernhaus bewohnte. Aber meine Mutter, eine gebürtige Schwedin aus liberalem Hause, hat es dort nicht lange ausgehalten - weil mein Vater seiner Mutter zeitlebens hörig war. Er war wirklich alles für sie: ihr Berater, ihr Psychologe, ihr Ersatz für den Mann, den sie nicht mehr hatte. Sie benutzte ihn, aber auf den Gedanken, dass das vielleicht seine Frau stören könnte, ist sie nicht gekommen.

Und wie lange ging das gut?
Nicht lange, meine Mutter hat sich schließlich scheiden lassen und ist erst wieder zu meinem Vater zurück, als meine Oma tot war. Aber damals, im Rahmen der Scheidung, wollte meine Oma meiner Mutter das Sorgerecht für mich entziehen und hat mich ein halbes Jahr von ihr ferngehalten. Ich war sozusagen "Gefangene" bei meiner Oma, hatte sechs Monate keinen Kontakt mit meiner Mutter. Aber als kleines Kind will man bei seiner Mutter sein, sie ist mir extrem abgegangen. Einmal wollte sie mich abholen, da hat mich meine Oma auf der Toilette eingesperrt: "Jetzt kommt deine Mutter, und ich muss dich beschützen." Sie war eine Generalin, die einfach die Kontrolle behalten wollte. Ich sollte nach ihren Vorstellungen aufwachsen. Aber letztendlich hat mich zum Glück meine Mutter zurückbekommen.

Wenn Sie die Dinge heute zu rekonstruieren versuchen: Ging es Ihrer Oma darum, Sie zu indoktrinieren?
Ja, total, sie war ja mit einem Mal absolut katholisch. Wenn man sich ihre Korrespondenz durchliest, so sieht man, dass sie es schaffte, von einem Tag auf den anderen von einem System auf das andere zu switchen. Genauso, wie sie früher ihr Nazi-Leben inszenierte, inszenierte sie später ihr katholisches Leben. Und zwar so perfekt, dass es von außen jeder glaubte. Das war ja fast schon eine Geheimdienstleistung auf offener Bühne. Fast jeden Tag ist sie um sechs zur Messe, und mich hat sie so oft als möglich mitgenommen. Und immer, wenn mich einer ihrer neuen klerikalen Freunde fragte, was ich denn werden wolle, so antwortete ich brav: "Nonne." Nicht zufällig wurden zwei meiner Cousinen tatsächlich Nonnen.

Wie über sämtlichen Nazi-Greueltaten schwebt auch über jenen Ihres Großvaters die ewige Frage nach dem Warum. Haben Sie denn für sich eine Art Antwort gefunden?
Vor zwanzig Jahren hätte ich wahrscheinlich noch gesagt, dass ich das alles überhaupt nicht nachvollziehen kann. Mittlerweile kann ich es mir aber recht gut vorstellen: Man findet in der Sprache, die damals gegen die Juden verwendet wurde, nämlich einen ähnlichen Ungeist wie in jener Sprache, die man heute gegen Muslime gebraucht. "Orientalisch","nicht angepasst","passt nicht in unsere Kultur" - das hat seinen Ursprung in antisemitischer Polemik von damals und wird heute noch genau so verwendet. Ich sehe da deutliche Parallelen. Damals hat man die Geschichte nicht aufgearbeitet, deswegen ist es jetzt umso wichtiger, es endlich zu tun. Denn wenn da so ein Hass aufgebaut wird, entwickeln sich Eigendynamiken.

Sie selbst sind zum Islam konvertiert. War die Zuwendung zu einer neuen Religion eine Suche nach Trost?
Es war auf jeden Fall Teil einer Lösung. Ich bin ja schon vor knapp 15 Jahren konvertiert. Damals war es vielleicht wirklich ein Protest, weil ich diesen reaktionären Mief nicht mehr ausgehalten habe. Das Kopftuch -ja, vielleicht war das auch eine Art von optischer Rebellion. Nach einem Jahr habe ich dieses, wenn man so will, Experiment aber abgebrochen und wieder gelebt wie zuvor. Erst vor acht Jahren hatte ich dann so eine Art spiritueller Erleuchtung, das kam aus mir, da war keiner, der mich anlaberte. Von da an wusste ich, ich möchte Muslima sein. Nicht aus Protest wie zuvor, sondern aus meinem tiefsten Inneren. Die Enkelin eines Erz-Nazis wird ausgerechnet Muslima, das wirkt auf den ersten Blick vielleicht wie aus einem schlechten Drehbuch. Aber im zweiten Anlauf bin ich es dann geblieben, weil ich reif genug war, keinem zu folgen -nur meinem eigenen Herzen.

Wenn Sie so mit Ihrem Kopftuch durch die Stadt gehen, gaffen Ihnen wohl viele nach -ist das auch eine Art Buße, die Sie da tun, indem Sie sich bewusst ausgrenzen und exponieren?
Nein, mir war immer egal, was andere über mich denken. Ich begann einfach, mich in diesem Glauben zu Hause zu fühlen, denn ich sehe ihn als gänzlich unideologisch.

Gibt es heute etwas, was Sie Ihre Großeltern gerne fragen würden?
Ich könnte mit ihnen gar nicht reden -denn ich glaube, sie würden nicht mit mir reden wollen. Ich kenne das von anderen Nazi-Nachfahren, die erzählen, dass ihre Großeltern oder Eltern konsequent abblocken, wenn es um deren Rolle im Dritten Reich geht.

Dieses konsequente Abblocken - was hat das denn mit Ihnen gemacht?
Mein Körper, mein Gehirn, hat diesen Zustand der Bedrücktheit, dieses Schweigen, nicht mehr ertragen. Da war zunächst so ein Gefühl der Ohnmacht, das mich psychisch krank gemach hat. Es hat mich gelähmt, mich erschlagen: Als ich dann 18 Jahre alt war, ist es als schwere Psychose ausgebrochen. Ich war eine Woche auf der Intensivstation und auch danach noch monatelang im Spital. Ich war ein Jahr so depressiv, dass ich praktisch nichts tun konnte. Dabei war das unmittelbar nach der Matura, und ich hatte mir vorab noch gedacht: "Super, jetzt kann ich endlich große Dinge unternehmen." Was für eine trügerische Hoffnung! Ich habe dann therapeutisch an mir gearbeitet und bin im Zuge langwieriger Gesprächstherapien draufgekommen: Das, was mich krank gemacht hat, diese schreckliche Last, das sind diese unzähligen Juden, die mein Großvater, direkt oder indirekt, umbringen ließ. Es ist ganz typisch, dass solche Krankheiten mit 18,19 Jahren, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ausbrechen.

Aber zu diesem Zeitpunkt wussten Sie doch noch gar nicht um die Verbrechen Ihres Großvaters?
Nein, zunächst hatte ich nur dieses diffuse Gefühl, dass mich irgendetwas in der Familie bedrückt. Wenn da nicht darüber geredet wird, hockt das Ganze auf der Familie drauf, auf jedem Einzelnen. Auch wenn man von den Verbrechen des Großvaters noch nichts weiß, so spürt man sie. Man spürt diese Last irgendwann am eigenen Körper, und das wirkt sich bei jedem anders aus. Auch wenn der Vergleich jetzt seltsam klingen mag: Man empfindet wohl ähnlich wie eine Frau, die spürt, dass sie ihr Mann betrügt, auch wenn er es niemals sagen oder zugeben wird. Wenn mein Großvater nur für den Tod eines einzelnen Menschen verantwortlich gewesen wäre, wäre das schon schlimm genug. Aber diese unglaublich Zahl der Toten -die spürt man, auch wenn man noch nichts von ihnen weiß. Das ist eine Krankheit, ein Virus des Schweigens und Schönredens.

Sein Vater Otto habe ja nach Möglichkeit gegen das System opponiert, aber oft seien ihm eben die Hände gebunden gewesen: Ihr Vater Horst lässt nichts unversucht, um Ihren Großvater als guten Menschen darzustellen. Ist es verständlich und zu einem gewissen Grad legitim, wenn man sich weigert, den eigenen Vater als Verbrecher zu sehen?
Das ist eine Immunisierungsstrategie, die ich zwar nicht gutheißen, aber in Ansätzen nachvollziehen kann. Und ich bin fast schon "froh", dass mein Großvater der Verbrecher war, nicht mein Vater -sonst wäre das Ganze noch schwieriger für mich.

Glauben Sie eigentlich, dass Österreichs unleugbare Mitschuld Österreichs am Holocaust gut genug aufgearbeitet ist?
Nein, sicher nicht, ganz sicher nicht. All die Filme und Dokumentationen sind natürlich wichtig und richtig -aber es reicht nicht. Für unsere Gesellschaft wäre es so immens wichtig, dass das auch -und vor allem -innerhalb der Familien aufgearbeitet wird. Ich habe das Gefühl, in Österreich würde noch heute kaum wer sagen: "Mein Vater war ein Nazi" oder "Mein Großvater war ein Nazi". Das alles wird noch immer totgeschwiegen. Ich glaube auch, dass ganz viele Menschen Therapie bräuchten, um das aufzuarbeiten. Das ist wie eine kollektive Krankheit, die auch kollektiv verdrängt wird. Aber um sie irgendwann zu eliminieren, muss man sie direkt an der Wurzel packen. Und die Wurzel, das sind die Familien. Gott sei Dank hat ja nicht jede Familie so viele Leichen im Keller wie meine.

Was antworten Sie denen, die sagen, es dürfe keine Sippenhaftung geben?
Es ist eine wahnsinnige Schuld, die sich Österreich damals aufgeladen hat -und nein, es gibt keine Sippenhaftung. Aber indem wir als Nachfahren weiter schweigen, machen wir uns mitverantwortlich.

Ergibt sich aus diesem Kontext heraus für Sie persönlich irgendeine spezielle Rolle?
Doch, die sehe ich. Ich würde gerne in Schulen gehen und über meine Familie reden. Bislang ist noch keiner auf mich zugekommen, aber ja, das würde ich gerne machen. Wenn ich anderen davon erzählen könnte, was ich durchgemacht habe, wäre mein Leid nicht umsonst gewesen und hätte irgendwie einen Sinn. Wissen Sie, irgendwie sehe ich mich auch als Überlebende -nicht des Holocausts, nein, natürlich nicht. Aber als Überlebende eines Familientraumas. Mittlerweile gibt es ja Studien über generationale Traumata, nicht nur bei den Opfern, auch bei den Tätern. Indem man seine Eltern und Großeltern liebt, fühlt man sich mitschuldig -oder man verdrängt eben. Wenn man das nicht aufarbeitet, gibt man es an die eigenen Kinder und Enkel weiter.

Und ist dieses Familientrauma jetzt durchbrochen?
Das wird sich noch herausstellen, aber ich hoffe es. Mein Sohn ist jetzt 17, also etwa so alt, wie ich damals war, als ich erkrankte. Meine Tochter ist jetzt 21, und ich sehe, dass es sie nicht belastet. Ich glaube, sie schätzt, wie ich mit der Familiengeschichte umgehe.

Empfanden Sie selbst je so etwas wie Schuld?
Früher habe ich mich wirklich schuldig gefühlt, daran habe ich dann im Rahmen einer Gesprächstherapie gearbeitet.

Schuld woran?
Daran, was mein Großvater gemacht hat. Diese Schuld ist über die Generationen weitergegeben worden -in Form dieses umfassenden Schweigens. Und dieses Schweigen wollte ich unbedingt durchbrechen, weil ich dessen Folgen meinen eigenen Kindern nicht antun will. Ich habe ja an mir gesehen, was das anrichten kann.