Der Aufstand der Frauen

Eine der größten Protestwellen trifft die Führung im Iran in einem heiklen Moment: Die Wirtschaft kriselt, der Atomdeal mit den USA stockt und der Spirituelle Führer ist schwer krank.

von Iran, Frauen protestieren © Bild: IMAGO/ZUMA Wire

Universitäten im Ausnahmezustand. Schülerinnen, die ihre Direktoren aus den Schulen jagen und in ihren Klassenzimmern das Sagen übernehmen. "Tod dem Diktator" auf die Tafel schreiben. Frauen, die ihre Haare demonstrativ offen tragen, sie öffentlich abschneiden, ihre Kopftücher in Brand setzen. Die Videoaufnahmen aus dem Iran verbreiten sich derzeit wie ein Lauffeuer über soziale Medien.

Es ist offensichtlich: Die Islamische Republik verliert ihre Töchter. Ein Aufstand der Frauen droht das Fundament des Regimes zu zersetzen. Frauen und Mädchen sprengen ihr Alltagskorsett und verweigern trotz des brutalen Vorgehens der Sicherheitskräfte den Gehorsam. "Frauen, Leben, Freiheit" - lauten ihre Parolen. Mehr und mehr mischen sich klare Kampfansagen an das Regime dazu. Symbole der Iranischen Republik werden zerstört; Poster des eben noch allmächtigen spirituellen Führers Ali Chamenei werden zerrissen und angezündet.

Proteste in Iran gegen repressives Regime
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Überrascht ist von der Wucht dieser Wut nur, wer Land und Leute aus dem Blick verloren hat. 40 Prozent der 86 Millionen Menschen im Iran sind jünger als 24 Jahre. Die Islamische Revolution 1979 kennen sie nur aus den Geschichtsbüchern. Was sie erleben, ist ein sklerotisches Regime schiitischer Geistlicher, angeführt von dem schwer kranken und hochbetagten 83-jährigen Chamenei. Als sein Vorgänger Ruhollah Chomeini vor 44 Jahren an die Macht kam, konnten zwei Drittel der Iranerinnen kaum lesen und schreiben; heute stellen Frauen zwei Drittel der Studienanfängerinnen an den Universitäten.

Als Mahsa starb

Eine dieser vielen Frauen hätte in diesen Tagen die 22-jährige Mahsa Amini sein können. Mitte September reiste sie in Begleitung ihres Bruders von der Provinzstadt Saqqez in die Hauptstadt Teheran, um den Start ihres Mikrobiologiestudiums vorzubereiten. Als sie am 13. September eine U-Bahn-Station im Zentrum der Hauptstadt verließ, wurde sie von einem Trupp der Moralpolizei angehalten, weil ihr Kopftuch ihre Haare nicht ordentlich verdeckte.

Die junge Frau wurde verhaftet und in eines der berüchtigten Umerziehungszentren der Ordnungshüter gebracht, wo sie schwer misshandelt worden sein dürfte. Zwei Tage später lag sie bewusstlos und mit einem Kopfverband auf der Intensivstation der Kasra-Klinik in Teheran, wo sie drei Tage nach ihrer Verhaftung starb. Offizielle Todesursache: Herzversagen. Eine Autopsie wurde verweigert, doch der Anwalt der Familie Saleh Nikbakht betont: "Mir haben namhafte Ärzte versichert, dass sie massiv auf den Kopf geschlagen wurde."

»Du wirst nicht sterben. Dein Name wird Symbol«

Schon am Tag nach ihrem Tod formierten sich erste kleine Proteste vor der Klinik. Zum Zündfunken wurde aber schlussendlich das Begräbnis in Mahsa Aminis Heimatstadt, gelegen in einer mehrheitlich von Kurden bewohnten Region. Ihre weiblichen Verwandten rissen sich ihre Tücher vom Kopf und skandierten vor ihrem Grab: "Du wirst nicht sterben. Dein Name wird Symbol." Das Bild der Unruhen, die seither den Iran in seinen Grundfesten erschüttern, ist nur in Bruchstücken zu erfassen. Immer wieder blockiert die Führung den Zugang zum Internet, Medienleute sind in Scharen verhaftet worden. Doch es ist eindeutig: Mittlerweile haben die Proteste das gesamte Land erfasst, fast zweihundert meist junge Menschen sind gestorben. Mit Schlagstöcken, Tränengas, aber auch scharfer Munition wird versucht, den Aufstand zu brechen.

Protest gegen iranisches Regime in Pisa
© IMAGO/NurPhoto SOLIDARITÄT. Frauen und Männer protestieren in Pisa gegen den Tod der 22-jährigen Iranerin Mahsa Amini

Schüsse auf Studierende

Als vergangenen Sonntag das Uni-Semester wieder begann, hätte dies ein großer Tag im Leben von Mahsa Amini werden sollen. Stattdessen wurde dieser Tag zu einer massiven Ausweitung der Proteste in ihrem Namen. Universitäten im ganzen Land wurden zu Epizentren des Aufstands. Dabei kam es an der Technischen Hochschule Scharif in Teheran zu den schwersten Unruhen. Nach dem Kursbeginn begannen circa 200 Studierende, vor dem Gebäude zu protestieren. Die Lage eskalierte, als Sicherheitskräfte die Jugendlichen einkesselten, sie am Parkplatz festhielten und angriffen. Schüsse waren zu hören und Sprechchöre aus den Fenstern der Wohnhäuser am Campus: "Tod dem Diktator, Tod für Chamenei."

Laut iranischen Menschenrechtsaktivisten sollen mindestens 17 Jugendliche getötet worden sein, die Kurse werden nun online abgehalten. Hier werden führende IT-Fachleute ausgebildet, die in den Topunternehmen der Branche weltweit gefragt sind. Eine Bastion des modernen Irans wurde da gestürmt, was den Aufstand nur noch mehr anfachte. "Der Tod von Mahsa Amini hat einen Nerv getroffen, der sowohl den Mittelstand als auch ärmerer Schichten massiv erzürnt hat", lautet die Analyse von Ali Fathollah-Nejad, einem der führenden Experten zur politischen Lage im Iran, der derzeit an der Amerikanischen Universität Beirut lehrt. Anders als vorhergehende Proteste, die von bestimmten Schichten getragen wurden, sei nun eine nationale Revolte im Gang, die sich zu einer Krise für das Regime auswachsen könnte. "Was wir jetzt erleben, sind die größten Proteste seit 2019", so Ali Fathollah-Nejad.

Iran, Frauen protestieren
© IMAGO/ZUMA Wire Proteste in Teheran

2019 trieben Preisanstiege bei Treibstoff die Menschen auf die Straße. Die Unterdrückung dieser Kundgebungen forderte einen hohen Blutzoll: 1.500 Menschen wurden getötet. Zuvor hatte sich 2009 eine größere Protestwelle formiert. Als grüne Bewegung ging sie in die Geschichte ein. Auslöser waren Unregelmäßigkeiten bei der Wiederwahl von Präsident Mahmud Ahmadinedschad. Auch dieses Aufbegehren wurde mit brachialer Gewalt gebrochen.

Ob es nun anders laufen könnte, ist offen. Doch nach bald einem Monat ungebrochenen Zorns zeigt sich, wie sehr die Kopftuchfrage über die Zukunft des Iran entscheiden könnte. Bereits vor fünf Jahren begannen Frauen mit Protestaktionen, genannt "weißer Mittwoch", gegen den Kopftuchzwang aufzubegehren. Nun brechen weitere Dämme.

"Es kann mein Leben kosten"

Mahsa Amini war Kurdin, gehörte also zu einer Volksgruppe, die im Iran besonders massiven Repressionen ausgesetzt ist. Gleichzeitig identifizieren sich viele mit ihr als angehender Studentin, die eine Perspektive in ihrem Leben haben wollte, frei sein wollte und deshalb starb. Es sei schwierig, eine Frau im Iran zu finden, die noch nie mit der Moralpolizei in Berührung gekommen sei, versucht die 29-jährige Banafsheh aus der Stadt Behbahan zu erklären, warum auch sie tagtäglich auf die Straße geht, obwohl zahlreiche Demonstrantinnen bereits umgekommen sind. Getötet durch Schüsse auf die Protestmärsche. Sie lasse sich nicht mehr aufhalten, sagt sie. "Auch ich wurde bereits verhaftet, weil mein Kopftuch nicht ,ordentlich' gewesen sei, und einmal bin ich bei einer Party erwischt worden." Das reiche jetzt, sagt Banafsheh unerschrocken: "Es geht jetzt aber um mehr: die Freiheit von uns Frauen im Iran. Es kann mein Leben kosten, aber zig andere Frauen befreien, wenn ich hier bin."

Solche Stimmen gibt es viele. Die Angst hat sich nicht verflüchtigt, aber sie scheint die Bevölkerung nicht mehr zu brechen. Basierend auf Botschaften in sozialen Medien hat der Musiker Shervin Hajipour einen Song komponiert, der zur allgegenwärtigen Hymne wurde. "Für das Tanzen auf der Straße. Für die Angst, wenn man sich küsst. Für meine, deine, unsere Schwestern. Für die Freiheit" - so der Text. Der Sänger wurde am 29. September verhaftet, aber 40 Millionen Mal wurde seine Aufnahme auf Instagram gesehen. Viele Prominente, auch Fußballstars, tragen auf dieser Plattform ihr Match gegen die Führung aus. Zwölf Millionen Menschen folgen etwa der iranischen Legende Ali Karimi, einst als "Maradona Asiens" tituliert. "Habt keine Angst vor starken Frauen. Vielleicht kommt der Tag, an dem sie unsere einzige Armee sind", konnte man hier von ihm lesen.

Wenige Wochen vor der Fußball-WM in Katar, wo der Iran in der ersten Runde gegen symbolträchtige Gegner wie die USA oder England antreten wird, sind solche Stimmen mehr als unangenehm für die Führung. Sie hat derzeit allerdings viele Flanken offen. Die in Wien stattfindenden Gespräche mit den USA, die den Atomdeal wiederbeleben und die Sanktionen lockern sollten, hätten im März beinahe zu einem Erfolg geführt. Seither allerdings stockt der Prozess. Das bedeutet, dass der von Krisen geschüttelten Wirtschaft dringend nötige Impulse fehlen. Eine Million Jobs müssten pro Jahr geschaffen werden, um die lernfreudige Jugend zu beschäftigen. Stattdessen steigt die Arbeitslosigkeit, die Inflation galoppiert. Lebensmittel sind derzeit um bis zu drei Viertel teurer als im Jahr zuvor.

Der Hardliner im Präsidentenamt

Für den 2021 neu gewählten Präsidenten Ebrahim Raisi steht somit eine Menge auf dem Spiel. Der 61-jährige Hardliner ist mit dem Versprechen angetreten, das Land wirtschaftlich zu sanieren. Die Misere hat sich aber verschlimmert. Die Justiz geht indessen unter der Führung des ehemaligen Scharfrichters brachial vor: 5.000 Menschen wurden seit seiner Amtsübernahme zum Tode verurteilt; darunter zuletzt zwei Frauen, weil sie sich in sozialen Medien für Rechte von Homosexuellen starkgemacht hatten. Um sich Legitimität zu verschaffen, verschärft Raisi die Gangart vor allem gegen moderne Frauen, kategorisiert die "Verwestlichung" als nationale Sicherheitsbedrohung.

»Die Verschleierung wurde direkt von Chomeini verfügt. Sie ist quasi Teil der DNA dieses Regimes«

Mitte Juli rief Raisi den "Kopftuch"-Tag aus, seither werden die Bekleidungsvorschriften hart kontrolliert. Im August erhöhte er den Druck. Mit Überwachungskameras wird das verpflichtende Tragen eines Kopftuchs im öffentlichen Raum kontrolliert. Damit will er sich nicht nur als Präsident der Islamischen Republik hervortun, sondern sich mit einer gezielten Reislamisierung in Stellung für die nächste Kür des spirituellen Führers bringen.

"Die Verschleierung von Frauen wurde bereits kurz nach der Gründung der Islamischen Republik direkt von Chomeini verfügt. Dass sie ihren Körper zu bedecken haben, ist quasi Teil der DNA dieses Regimes", beschreibt der Politologe Saeid Golkar die immense politische Bedeutung der Bekleidungsnormen.

Ausgerechnet am Frauentag 1979 wurde das Kopftuch verpflichtend vorgeschrieben. Am Tag davor wandte sich Chomeini mit einer flammenden Rede an die Bevölkerung. "Eine Frau, die unverschleiert bleibt, ist in meinen Augen nackt. Wenn sie in die Öffentlichkeit will, muss sie sich verhüllen." - Seine Unterstützer ahndeten danach diese Pflicht mit dem Slogan: "Ya roosari, ya toosari" - auf Deutsch: "Bedecke deinen Kopf oder er wird dir zerschlagen." Fast ein halbes Jahrhundert verspürten Frauen und zuletzt Mahsa Amini die Gewalt dieser Worte. Während 1979 Frauenproteste erfolglos blieben, wagt die neue, junge Generation nun den Aufstand.

Barbarische Strafen

Seit 1983 verfügt der Iran über Gesetze, die das Tragen des Kopftuchs und die "regulären" Strafen festlegen. Demnach kann eine Frau, die ihre Haare in der Öffentlichkeit zeigt, mit bis zu 74 Peitschenhieben bestraft werden. Heute kann das um eine Haftstrafe von 60 Tagen ergänzt werden - Regeln, die nun erstmals gelockert werden könnten. Am Tag nach der Eskalation an der Eliteuniversität in Teheran trat Ali Chamenei an die Öffentlichkeit, um ebenfalls in der Hauptstadt an den Abschlussfeiern einer Polizeieinheit teilzunehmen. Es war sein erster Auftritt nach dem Beginn der Proteste. In seiner Rede wies er die Schuld an den Demonstrationen der Einmischung durch Israel und die USA zu, doch dann ließ er aufhorchen: "Es könnte auch sein, dass eine Frau, die ihr Kopftuch nicht richtig trägt, trotzdem die Islamische Republik unterstützt", sagte der greise spirituelle Führer.

Ali Khamenei
© Majid/Getty Images Der spirituelle Führer Ali Chamenei ist schwer krank. Wer ihm nachfolgen könnte, ist noch unklar.

Es wäre ein historisches Zugeständnis. Vor allem zeigt die Reaktion aber, wie sehr das Regime in Bedrängnis geraten sein dürfte. Der Politikwissenschaftler Golkar hat an der Universität Teheran gelehrt, forscht nun im Exil in den USA, doch er hält den Kontakt zu seiner Heimat: "Das Regime verliert den Rückhalt. Ich stamme aus einer kleinen, sehr konservativen Stadt im Zentrum des Irans, hier ist auch Ruhollah Chomeini geboren", erzählt er. "Sogar dort bröckelt die Legitimität des islamischen Systems, der Wille, sich dieser sozialen Kontrolle zu unterwerfen."

Letzte Bastionen des Regimes

Am Ruder kann sich Chamenei mit seinem Regime derzeit nur halten, weil er neben Armee und Polizei über einen weiteren Sicherheitsapparat verfügt: paramilitärische Revolutionsgarden und die Freiwilligenmiliz der "Basidsch". Diese sind treue Mitstreiter der Führung, und solange sie Ali Chamenei den Rücken stärken, gilt ein Umsturz im Iran als wenig wahrscheinlich.

Das größte Risiko ist allerdings die Führungsclique selbst. Anfang September kursierten Gerüchte über eine dramatische Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Chamenei. Er leidet seit Jahren an Prostatakrebs, nun dürfte eine Notoperation am Darm ihn nahezu das Leben gekostet haben. Doch er ist wieder kräftig genug für öffentliche Termine. Die Frage, wer ihm nachfolgen wird, bleibt noch unbeantwortet und wird immer dringlicher. Seit 33 Jahren steht er an der Spitze der Islamischen Republik. Er wird ein Vakuum hinterlassen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine noch größere Krise sorgen wird als die derzeitige Revolte.

Für seine Nachfolge kursieren zwei Namen: Präsident Ebrahim Raisi und Chameneis 53-jähriger Sohn Mojtaba, der das Büro seines Vaters leitet und dessen Amt mit eiserner Hand orchestriert. Beide sind Zielfiguren des Hasses der Jugend. Auf Demonstrationen sind sehr deutliche Warnungen auf den Schildern zu lesen. "Mojtaba, versuche es nicht. Wir werden dich nicht als Führer akzeptieren."

Keiner der beiden wird die Lücke als spiritueller Führer füllen können, ohne das Land zu destabilisieren. Formal entscheidet ein Expertenrat aus 86 Klerikern, wer den Iran nach Chamenei regieren wird. Tatsächlich ist es Realpolitik, bestimmt von der Frage, unter welcher Figur die Islamische Republik fortbestehen könnte. Und da taucht ein Name auf, der schon als chancenlos abgeschrieben war: Hassan Chomeini, der 53-jährige Enkel des Revolutionsführers.

Anders, als sein Name es nahelegt, gilt er als Vertreter des moderaten Lagers, dem momentan wenig Einfluss zugeschrieben wird. Ihm fehlt wie seinem Konkurrenten Chamenei der Titel "Ajatollahs", den ein spiritueller Führer tragen sollte. Doch er zählt zu jenen Teilen des Regimes, die aufbegehren und so das politische Beben bewältigen könnten. "Die Polizei muss sich für den Tod von Mahsa Amini verantworten", forderte er zu Beginn der Proteste. Sein Problem ist aber: Weder die mächtigen Revolutionsgarden noch der derzeitige spirituelle Führer wären von seiner Kür begeistert. Und ob der Name Chomeini tatsächlich den morschen Sockel der Islamischen Republik zementieren könnte, ist angesichts des unerschrockenen Aufstands der Frauen gegen das System seines Großvaters mehr als fraglich.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 40/2022 erschienen.