Christoph Leitl: "Mir tun besonders die jungen Menschen leid"

Ex-Wirtschaftskammer- und -Eurochambres-Präsident Christoph Leitl über die Folgen von Corona für die Gesellschaft, die Lähmung der EU durch das Einstimmigkeitsprinzip, die fehlende europäische Außenpolitik, die Machtpolitik Putins und den Ukraine-Konflikt.

von Christoph Leitl © Bild: Ricardo Herrgott/News

Christoph Leitl hat als langjähriger Wirtschaftskammer-und Eurochambres-Präsident die heimische und europäische Wirtschaftspolitik mitbestimmt. Anlässlich seines Wechsels in den Unruhestand hat sich News mit dem glühenden Europäer zum Gespräch über Österreich und die Welt getroffen.

Mit Ende 2021 haben Sie sich von Eurochambres zurückgezogen. Wie fällt die Bilanz Ihrer Präsidentschaft aus?
Die hat wie jede Bilanz gute Seiten und solche, bei denen die Erwartungen vielleicht nicht erfüllt wurden. Positiv ist die wirklich sehr gute Zusammenarbeit in Europa zur Bewältigung der Covid-Krise; all die bedrohlichen Forecasts mit Hunderttausenden Insolvenzen und mit Millionen zusätzlicher Arbeitsloser sind nicht eingetreten. Auch dank der Vorschläge der europäischen Wirtschaft, die zu 80 Prozent von der EU-Kommission gemeinsam mit den Einzelstaaten und den Regionen umgesetzt wurden. Ebenfalls gelungen ist, aus einer Defensivhaltung beim Green Deal mit der Philosophie einer Kreislaufwirtschaft und den darin liegenden Chancen in die Offensive zu gehen. Auch beim Bewusstsein, dass in einer Zeit des weltweiten Fachkräftemangels eine Qualifikation nach dem dualen österreichischen Modell (Kombination aus schulischer und beruflicher Ausbildung, Anm.) gut ist, wurde viel erreicht.

Was war weniger positiv?
Beim Single Market, einer der großen Stärken Europas im internationalen Wettbewerb, haben wir - das möchte ich ganz offen sagen - nicht erreicht, diesen in den Bereichen Energie, Digitalisierung und Finanzmarkt weiterzuentwickeln. Im Gegenteil, er wurde durch die Covid-Krise sogar zum Teil abgeblockt, denken Sie nur an die Grenzkontrollen. Es wäre möglich gewesen, das Gesundheitswesen in der nationalen Verantwortung zu lassen und der EU dennoch in Krisenfällen eine Koordinationskompetenz einzuräumen. Wir sehen hier ein Schauspiel der Nationen, bei dem die eine nicht weiß, was die andere tut. Das gilt im Übrigen auch für Österreich -in beiden Fällen ist das ein Fleckerlteppich.

»Es gut meinende Beamte und Politiker sind mit der Covid-Krise hoffnungslos überfordert«

Wie könnte das besser gemanagt werden?
Zur Bewältigung der Covid-Krise, die ja noch lange nicht ausgestanden ist, bedarf es sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene mehr Professionalität. Da sind es gut meinende Beamte und Politiker hoffnungslos überfordert - auch wenn man in Österreich zuletzt versucht hat, gegenzusteuern. Die Politik muss Ziele setzen, die Umsetzung aber an Profis vergeben und die Ergebnisse dann kontrollieren. Die Kommunikation der Verantwortlichen reduziert sich derzeit ja nur auf die Aussage: "Liebe Leute, wir tappen im Dunklen." Nicht umsonst schwingt derzeit in der Diskussion so viel Aggressivität mit.

Hat das nicht auch mit der Impfpflicht zu tun?
Ich bin weit davon entfernt, für Impfverweigerer Verständnis zu haben. Aber das Management der Pandemie gibt viele Angriffsflächen für Leute, die angreifen wollen. Ich möchte niemandem einen Vorwurf machen, denke aber, die Pandemie hinterlässt nicht nur in der Ökonomie Spuren, sondern auch in der Gesellschaft. Mir tun besonders die jungen Menschen leid, die können seit zwei Jahren nicht mehr wirklich zusammenkommen und miteinander feiern. Das ist für die Jungen eine Ewigkeit. Wir Älteren reden uns da leicht, wir müssen aber für die Jungen eine neue Dimension an Verständnis aufbauen.

Christoph Leitl
© Matt Observe/News Christoph Leitl sieht den Umgang der EU mit ihr nicht genehmen Regimen kritisch: "Anderen unsere Werte aufs Auge drücken zu wollen, ist geistiger Kolonialismus"

Beim Impfen liegt Österreich eher ziemlich weit hinten
Ich denke, im Europaschnitt liegen wir genau in der Mitte. Manche Länder liegen schlechter, manche besser. Interessant ist, dass Länder wie Italien, denen man unterstellt, weniger diszipliniert zu sein, im Moment der Gefahr disziplinierter sind. Während bei uns viele nach dem Motto "es wird schon nicht so schlimm sein und wer weiß, ob das wahr ist" manches auf die leichte Schulter nehmen. Schon Karl Kraus hat gesagt: Wenn der Weltuntergang kommt, gehe ich nach Wien, denn dort findet er fünf Tage später statt. Eine vielleicht positive Eigenschaft, die aber auch negativ sein kann.

Sind solche länderspezifischen Unterschiede nicht mit ein Grund, warum in Europa gemeinsame Entscheidungsfindungen so mühsam sind?
Ich bin der Meinung: Gebt den Regionen so viele Kompetenzen, wie möglich ist, denn sie sind bei den Menschen. Und gebt Europa so viel, wie nötig ist, damit es in der Welt auftreten kann.

Das heißt konkret?
Weg mit dem Einstimmigkeitsprinzip, das ja nur eine Blockade ist. Nur weil sich zwei querlegen, kommt der Zug zum Stillstand. Da fährt Europa an die Wand. Man muss Europa die Kompetenz geben, die es braucht, um handlungsfähig zu sein, also ein Mehrheitsprinzip. Bei wichtigen Fragen kann es durchaus eine qualifizierte Mehrheit sein. Entscheidungen sollen aber nicht von Einzelnen blockiert werden können. Etwa wenn Länder irgendwelche Interessen berührt sehen oder weil sie sich als Steueroasen fühlen und daher eine Mindeststeuer ablehnen.

Würde dann die EU nach dem Brexit nicht noch weiter auseinanderdriften?
Der Brexit war ein Schaden für alle, am meisten für Großbritannien selbst. Die Briten sind einem Demagogen, der mit falschen Argumenten arbeitete, auf den Leim gegangen. Und jetzt zündelt Boris Johnson weiter, statt konstruktive Gespräche zu suchen -und Irland ist nach wie vor in einer Frontlinie. Das sollte nicht unterschätzt werden. Auch die Weltpolitik, die diversen Sonderabkommen, die die Briten machen wollten, wie etwa mit den USA, sind bisher nicht von Erfolg gekrönt. Die nebulosen Weltpolitikpläne von Johnson, die noch aus der Kolonialzeit des vorvergangenen Jahrhunderts stammen, passen einfach nicht mehr in die heutige Zeit und sind nicht mehr realistisch. Aber sie sind eine Art Rauschgift für eine Nation, die sich in Schmerzen windet.

Ein Streitthema ist nach wie vor die Migrationsfrage ...
Da braucht es endlich eine europäische Lösung. Österreich hat eine Rot-Weiß-Rot-Card, andere Länder haben andere Cards. Europa muss sich zusammensetzen und auch hier nicht mit Einstimmigkeit eine kreative Lösung treffen. Ich verstehe, wenn die Polen sagen, sie haben viele Flüchtlinge aus der Ukraine. Flüchtling ist Flüchtling. Die soll man nicht zwingen, dass sie jemanden aus Afrika nehmen müssen. Ich bin überhaupt gegen Zwang, sondern für Anreize: etwa Integrationshilfen zu geben oder Betriebe zu fördern, die Integrationsarbeit leisten.

Also keine Verteilung von Asylsuchenden in Europa?
Nein, so ist das nicht gemeint. Nur wenn ein Land sagt: "Wir haben bereits viele Flüchtlinge aufgenommen", sollte das in der Beurteilung berücksichtigt werden. Grundsätzlich ist dabei auch zu unterscheiden zwischen Asylwerbern, die unsere Hilfe benötigen und die gemäß der Flüchtlingskonvention auch ein Recht darauf haben, und zwischen Migranten, die uns helfen können, weil wir gewisse Qualifikationen nicht im ausreichenden Maß haben. Wenn jemand nur ein besseres Leben sucht, muss man schauen, was er oder sie dazu selbst beitragen kann -für das Land, das ihnen dieses bessere Leben ermöglichen soll. Die müssen sich integrieren und die Hausordnung einhalten. Dann sollen sie eine Integrationschance erhalten. Wenn nicht, dann gehören sie nicht zu uns.

Wie sehen Sie im Kontext die Türkei, die ja einen Flüchtlingsdeal mit der EU hat?
Die Türkei hat Millionen Flüchtlinge im eigenen Land. Sie spielt bisher eine durchaus konstruktive Rolle, die sie sich auch bezahlen lässt. Mir gefällt viel nicht an der Türkei -aber ich bin dennoch massiv dagegen, die Brücken zur Türkei abzubrechen. Das würde auch für die fortschrittlichen Menschen dort keine Lösung bringen. Auch die Zeit Erdoğan wird einmal vorübergehen -und dann werden wir froh sein, noch tragfähige Brücken zu haben. Und die Wirtschaft ist da immer ein Brückenbauer.

Das gilt wohl besonders auch für Russland?
Ja, auf jeden Fall. Zu Russland muss uns eher schnell als langsam etwas Neues einfallen als die Fortsetzung der Sanktionen. Das ist so, wie wenn man gegen eine Krankheit ein Mittel nimmt, die Krankheit aber schlechter wird statt besser. Putin hat ja beim Treffen mit Biden die Interessen Russlands klar signalisiert -nämlich dass die Russen Sicherheit wollen. Es ist aus ihrer Geschichte nachvollziehbar, dass sie erklären, keine Nato-Raketen 400 Kilometer von Moskau entfernt haben zu wollen.

Derzeit sind aber angesichts des Ukraine-Konflikts eher noch schärfere Maßnahmen wahrscheinlich ...
Die sollte es nur geben, falls die Russen in der Ukraine einmarschieren. Aber ich rechne doch damit, dass es gelingt, mit Kreativität eine Lösung zu finden, die das legitime Sicherheitsbedürfnis Russlands, den Wunsch nach Souveränität der Ukraine und den Wunsch Europas nach Kooperation mit der Ukraine und Russland berücksichtigt. Mit gutem Willen ist das möglich. Drohungen, auf der einen Seite Manöver an der Grenze, auf der anderen massive Wirtschaftssanktionen, helfen dagegen nicht weiter.

Europa ist ja von Russland stark abhängig -man denke nur an die Energie ...
Genau. Wir brauchen Russland als natürlichen Partner, aber Russland braucht auch uns. Schließlich schenken sie uns ja nichts, sondern verkaufen uns etwas. Das heißt, es gibt ein wechselseitiges Interesse. Wenn dieses Konfliktszenario jetzt gelöst wird, dann ist auch der Zeitpunkt gekommen, die Sanktionen schrittweise wieder abzuschaffen.

»Ich habe Putin als begnadetsten politischen Schachspieler der Welt kennengelernt«

Sie haben Putin mehrfach getroffen -und er hat Sie in Anspielung auf Ihre lange Amtszeit als WKO-Präsident sogar als Diktator bezeichnet - wenn auch als guten ...

(Lacht.) Ich habe Putin als den begnadetsten politischen Schachspieler der Welt kennengelernt. Das bedeutet, dass er sofort eine Schwäche des Gegners zu seinen Gunsten ausnutzt. Das ist nichts Illegitimes, wir leiden allerdings an der Unfähigkeit der Europäer, ihm ein schlüssiges Konzept entgegenzusetzen. Es gibt keine Versuche, einen Neubeginn zu machen, so wie es Außenminister Lawrow vor einem Jahr vorgeschlagen hat. Und jetzt lassen wir Russland und die USA über die Ukraine - ein europäisches Land - entscheiden. Eine europäische Außenpolitik ist schlicht und einfach nicht vorhanden.

Woran liegt das?
Die Europäer sind getrieben von der Einstimmigkeit -eine Aufhebung der Sanktionen ist nur einstimmig möglich -und von nationalen Interessen. Wenn Europa Weltpolitik machen will, muss es gesprächsund lösungsfähig sein -statt sich einzubetonieren und stereotyp wechselseitig Klischees vorzubringen. Dann machen wir die Türen zu - und für China die Türen zu Russland auf. Putin hat zu mir gesagt: "Die Russen sind keine Asiaten, sie sind Europäer. Aber wenn uns Europa die Türen zumacht, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns Asien zuzuwenden."

Europa-Figur im Büro von Christoph Leitl
© Matt Observe/News Eine künstlerische Darstellung Europas in Leitls Büro, die der glühende Europäer anlässlich einer Auszeichnung als Geschenk erhielt

Wie beurteilen Sie die Rolle von US-Präsident Biden im Ukraine-Konflikt?
Ich würde mir wünschen, dass Biden mit seiner jahrzehntelangen internationalen Erfahrung so flexibel ist, dass es zu einer Lösung des Konflikts kommen kann. Aus den weiteren Gesprächsrunden kann sich sicher eine für alle tragfähige und akzeptable Lösung ergeben.

Agieren die USA jetzt anders als unter dem umstrittenen Präsidenten Trump?
Biden ist versöhnlicher, berechenbarer und diplomatischer - aber "America first" gilt für ihn ebenso. Das ist gar kein Vorwurf. Er versucht nun in einer Art Panikreaktion, den Chinesen das Wasser abzugraben, was ihm aber nicht gelingen wird. Das wird vielleicht Entwicklungen in China etwas verzögern, das wird aber stattdessen auf Autarkie setzen und weniger auf weltweiten Handel und Arbeitsteilung. Das ist gefährlich, weil die Chinesen in der Folge weltweit etablierte und vom Westen begründete Institutionen wie UNO, WTO oder Weltbank langfristig in Frage stellen könnten.

Und das Verhältnis USA-EU?
Biden versucht, die Europäer zu vereinnahmen. Gelingt das, würden wir unsere Eigenständigkeit und die Rolle der Mitgestaltung verspielen. Dann wären wir nur noch ein Anhängsel der USA und auf Gedeih und Verderb mit ihnen verbunden. Die USA sind unser wichtigster Wirtschaftspartner und wir stehen uns auch bei den Wertsystemen sehr nahe - eine Abhängigkeit darf es dennoch nicht geben. Europa muss selbstständig, eigenständig und vielleicht sogar vermittelnd zwischen China und den USA handeln.

Sie haben auch ein Buch über China geschrieben - was ist von China zu erwarten?
Im Buch geht es in erster Linie um Europa und um die Competition of Governances, also um die Frage, ob ein autoritäres System wie China besser geeignet ist, Zielsetzungen zu erfüllen, oder ob das auch mit unserer Demokratie möglich ist? 2049 haben wir zwei 100-Jahr-Jubiläen - 100 Jahre Mao-Machtübernahme und 100 Jahre Europarat. Da wird sich zeigen, wer vorne ist. Europa hat die Chancen: weil China es bisher nicht verstanden hat, den Faktor Humanität zu integrieren - siehe Uiguren, Tibet oder Hongkong. Aber Europa hat es nicht verstanden, die Demokratie, die es wie eine Monstranz vor sich herträgt, effizient zu machen. Wir werden gelähmt von Bürokratie und der Handlungsunfähigkeit des Einstimmigkeitsprinzips. Dadurch sinken wir ab. Das ist die Analyse in dem Buch, und die bestätigt sich immer mehr.

Das Buch von Christoph Leitl "China am Ziel! Europa am Ende?" kann hier erworben werden.*

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Wie schätzen Sie die weitere Entwicklung in Europa ein?
Deutschland wird nach dem Wechsel von Merkel zu Scholz weiter ein stabiler Faktor in der EU sein. Scholz ist Hanseat - und die Hanseaten zeichnen sich durch pragmatische Nüchternheit aus. Das stimmt mich zuversichtlich. In Frankreich rechne ich damit, dass es Macron erneut schaffen wird. Und wer hätte gedacht, wie stabil Italien einmal ist. Die Italiener haben offenbar selbst erkannt, dass sie mit ihrer unendlichen Streiterei nicht weiterkommen. Sie haben sich um den Technokraten Mario Draghi -einen überzeugten Europäer -geschart, der einen spannenden und interessanten Kurs verfolgt, der erste wirtschaftliche Erfolge zeigt. Auch die Griechen haben ihre Hauptprobleme, die für sie schmerzhaft und schwer genug waren, hinter sich. Sie sind nun wieder ein Partner in Europa, um den man sich keine unmittelbaren Sorgen machen muss.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der Printausgabe von News (04/2022) erschienen.