Wie wir lernen, mit Corona zu leben

Auch wenn Omikron vorbei ist, das Virus bleibt. Je früher wir anfangen, mittelfristig zu denken und die wichtigsten Gesellschaftsbereiche für ein Leben mit dem Erreger zu rüsten, desto besser werden wir damit umgehen können. Was in Bildung, Pflege, Forschung und Medizin geschehen muss, erklären Expertinnen und Experten.

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Maske Menschen © Bild: iStockphoto

Good News schauen anders aus: Auch zu Weihnachten 2022 werden wir noch Masken tragen und uns vor dem Coronavirus schützen müssen, erklärt Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein, während die Österreicher gerade den aktuellen Christbaum abräumen. Der Minister spricht damit aus, was ohnehin schon zu befürchten war. Das Coronavirus mit seinen laufenden Mutationen wird auch nach der Omikron-Welle nicht verschwunden sein. Wir müssen lernen, mit Corona zu leben.

In ganz Europa steigen die Fallzahlen drastisch an. Selbst ein Lockdown wie derzeit in den Niederlanden scheint Omikron nicht einzubremsen. Und sogar Österreichs Vorbild Israel, das bisher auf jede Welle rigoros reagiert hat, scheint dieser Tage auf das "Durchrauschen" zu setzen. Denn da Omikron eine sogenannte "Fluchtmutation" ist, können sich auch doppelt und dreifach Geimpfte sowie Genesene deutlich leichter anstecken und das Virus verbreiten. Allerdings gibt es auch eine gute Nachricht: Erste Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass sich die Eigenschaften des Erregers verändert haben. Er befällt nun hauptsächlich die Oberen Atemwege, nur mehr in selteneren Fällen gibt es verheerende Lungenschäden. Behält er diese Eigenschaften, könnte Corona mittelfristig eine endemische Erkrankung mit geringerer Hospitalisierungsrate werden. Aber dennoch würden saisonale Wellen erhöhte Vorsicht und Aufmerksamkeit erfordern.

Brennglas Corona

Politik und Gesellschaft müssen langfristig Wege finden, mit dieser Situation umzugehen. Doch wie kann das gelingen? News befragte Expertinnen und Experten aus verschiedenen Bereichen - von Schule bis Pflege -, was sich ändern muss. Dabei stellt sich heraus, dass viele Vorschläge auch ohne Corona wichtig sind. Die Pandemie zeigt bestehende Probleme nur noch deutlicher auf.

BILDUNGSSYSTEM

Kinder an das Lernen heranführen

Bildungsforscherin Christiane Spiel sieht für die Zukunft mit Corona folgende Anforderungen an das Bildungssystem: "Schulen müssen so lange wie möglich offenhalten." Die letzten bald zwei Jahre haben gezeigt: Schule strukturiert den Alltag der Kinder, sie brauchen den Kontakt zu Gleichaltrigen, und Lehrpersonen können schneller erkennen, wo es Probleme gibt. "Vor allem bei älteren Jugendlichen wurde völlig unterschätzt, welche Entwicklungsaufgaben sie in diesem Alter bewältigen müssen", erklärt die Psychologin, "Ihre Beziehung zu den Eltern wird unabhängiger, sie müssen ihre Identität finden, sich erproben und dazu auch einmal an ihre Grenzen gehen. Das geht zuhause nicht." Untersuchungen in der Zeit des Distance Learnings haben gezeigt: "Die Jugendlichen arbeiten sehr viel, aber sie sind viel frustrierter und pessimistischer als jüngere Kinder." Spiels zweite Anregung: Corona fächerübergreifend stärker zu thematisieren. "Man kann dabei zeigen, wie wichtig die Unterrichtsfächer sind: von Mathematik, über Geschichte, Biologie, Psychologie und Geografie usw." Und Corona hat uns gezeigt, welche Kompetenzen wirklich wichtig sind: Selbstorganisation und Strategien beim Lernen, Entscheidungs-und Bewertungskompetenz bei der Suche nach Lösungen, soziale Kompetenz, wenn es darum geht, Gruppen bei gemeinsamen Projekten zu motivieren. "Dafür gibt es keine Noten, aber genau das war jetzt wichtig und wird in Zukunft noch wichtiger sein." Die klassischen Lehrpläne hingegen, meint die Bildungsexpertin, müsse man neu sortieren. "Derzeit gibt es Maximallehrpläne, und viele Lehrpersonen glauben, sie müssen alles machen. Man sollte den Stoff in Pflicht und Kür trennen, also in Grundkenntnisse, die jeder braucht, und Bereiche, in denen Kinder das machen, was sie interessiert und wo sie besonders gut sind. Das steigert auch die Motivation beim Lernen."

Schule heute schaut zu sehr auf Fehler und Schwächen statt auf die Stärken von Kindern. Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet das ein Umdenken: "Sie sollten mehr Aufgaben geben, deren Lösung auch sie nicht kennen und bei denen es darum geht, gemeinsam Lösungsstrategien zu entwickeln." Letzter wichtiger Punkt: Das Bildungssystem muss sich um jene Kinder kümmern, die das Lernen im Lockdown nicht geschafft haben. Summerschools alleine reichen da nicht, es braucht maßgeschneiderte Förderpläne, die Lehrpersonen, Eltern und Kinder gemeinsam festlegen, um diese wieder ans Lernen heranzuführen. Noch eine Erkenntnis sollte nach Corona reifen: "Investitionen in Bildung sind die besten Investitionen in die Zukunft. Denn Menschen mit höherer Bildung leben gesünder und länger, haben eine positivere Einstellung zu Demokratie, zahlen mehr Steuern, weil sie besser verdienen, und sie gehen später in Pension."

ALLGEMEINE MASSNAHMEN

Masken und Gebäudeplanung

Da Sars-CoV-2 überwiegend durch Aerosole übertragen wird, senkt das Tragen von Masken die Wahrscheinlichkeit einer Infektion. Virologe Christoph Steininger geht davon aus, dass Masken "noch mehrere Winter" notwendig sein werden. Ein weiterer Vorteil davon: Auch die Wahrscheinlichkeit, sich etwa in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln mit einem grippalen Infekt oder Influenza anzustecken, sinkt dadurch.

Eine Maßnahme, um Infektionsketten möglichst schnell zu unterbrechen, sind regelmäßige Tests. Ein flächendeckendes Testsystem ist daher unter anderem der Rat der Expertinnen und Experten der Forschungsplattform "Covid-19 Future Operations", der unter anderem der Komplexitätsforscher Stefan Thurner, der ehemalige Wifo-Leiter Christoph Badelt und Genetiker Ulrich Elling angehören. Sie fordern, ein solches österreichweit einzurichten, nach dem Vorbild Wiens, wo "Alles gurgelt" bereits seit Monaten angeboten wird.

Mittelfristig ist Steininger überzeugt, dass bei der Planung öffentlicher Gebäude gleich der Infektionsschutz mitbedacht werden sollte. "Es ist wichtig, indoor mehr Sicherheit zu bieten und schon bei der Planung die Lüftung und Personenströme in Hinblick auf die Ansteckungswahrscheinlichkeit in gewissen Bereichen zu beurteilen." So könnte beim Bau eines neuen Hotels gleich das Risiko eines künftigen Clusters unter Gästen minimiert werden.

BEHANDLUNG

Medikamente und Leitfaden für Erkrankte

Je mehr Medikamente auf den Markt kommen, desto besser können Covid-Patienten behandelt werden. Über 600 Wirkstoffe befinden sich derzeit in klinischen Studien. Die Zahl der zugelassenen Medikamente steigt daher stetig.

Mittlerweile sind fünf Medikamente zur Behandlung von Covid in der EU zugelassen. Darunter Antikörpertherapien, die vor allem für Risikopatienten und immunsupprimierte Patienten geeignet sind, aber auch bereits Tabletten, die nach einem positiven Test zu Hause eingenommen werden können. Darunter Molnupiravir, das vor allem für Menschen geeignet ist, die ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf haben. Das Pfizer-Medikament Paxlovid, das ebenfalls als Tablette eingenommen wird, hemmt die Vermehrung der Coronaviren im Körper und kann so die Zahl der schweren Verläufe drastisch reduzieren.

Covid-19-Positive fühlen sich oft zu Hause alleine gelassen. Nützlich wäre daher künftig eine Anleitung für das Verhalten zu Hause. Diese sollte beispielsweise gleichzeitig mit dem Testergebnis versandt werden. Darin sollten Leitlinien aufgelistet sein, etwa, bei welchen Beschwerden unbedingt die Rettung gerufen werden muss und welche Maßnahmen zu Beginn einer Covid- Erkrankung sinnvoll sind.

DATENLAGE

Transparenz freut nicht jeden

Mittlerweile sind zwei Jahre seit den ersten offiziell gemeldeten Covid-Fällen in China vergangen -und dennoch wirken die Entscheidungen der Politik oft sehr überhastet und planlos. Der Virologe Christoph Steininger fordert daher längerfristiges Denken: "In den Kolchosen gab es Fünfjahrespläne. Bei uns wäre es schon gut, wenn wir einen Fünfmonatsplan hätten. Dann hätten wir schon viel gewonnen, auch wenn diese Pläne geändert und angepasst werden müssten."

Was die Planung nach wie vor erschwert: Österreich hat die Coronazahlen nicht im Griff. Oft melden mehrere Stellen unterschiedliche Zahlen, was Neuinfektionen und Bettenbelegung in Spitälern bzw. Intensivstationen betrifft. Anfang November gab es einmal sechs verschiedene Zahlen an neuen Fällen, die zwischen 5.500 und 7.000 lagen. "Welche Prognosen soll man da nehmen?", fragt Komplexitätsforscher Stefan Thurner. Er und seine Kollegen fordern schon länger, dass Österreich anonymisierte Gesundheitsdaten für die Forschung nützt, wie das andere Länder längst machen. Zwar gebe es bei verschiedenen Institutionen Daten über Krankheiten, Medikamente, Spitalsaufenthalte etc.,"aber sie wandern in Datensilos und bleiben dort. Sie sind im wahrsten Sinne des Wortes nutzlos", sagt Thurner. Würde man diese Daten verknüpfen, könnte man zum Beispiel das Krankheitsrisiko bestimmter Bevölkerungsgruppen oder bei gewissen Vorerkrankungen erkennen und gezielte Maßnahmen setzen. Man würde aber auch sehen, wo das Gesundheitssystem teure Leistungen mehrfach erbringt. Und genau da ist der Haken: "Gesundheitsdaten zu verknüpfen, brächte unglaubliche Transparenz. Und manche Stellen verdienen dann vielleicht weniger", sagt der Komplexitätsforscher.

Was Datenmanagement und Digitalisierung im Fall von Corona bringen könnten? Thurner erklärt das anhand eines positiven PCR-Tests: "Warum bekommt man da nicht sofort einen Absonderungsbescheid und die Kontaktpersonen gleich mit? Warum schaut man nicht sofort, was die Vorerkrankungen sind, ob man geimpft ist und wie hoch das Risiko ist, ins Krankenhaus zu kommen?" Das Einmelden von Daten müsse automatisiert und dadurch weniger fehleranfällig werden. Auch das Contact Tracing könne man so verbessern. Digitalisierung heiße nicht nur, dass man Glasfaserkabel verlegt und Schülern Laptops gebe, sondern dass man unstrukturierte Prozesse in eine Form bringe, in der sie automatisch ablaufen können: ohne Intervention und menschliches Versagen.

VAKZINE

Forschung an Impfstoffen der 2. Generation

Eine zentrale Rolle, um die Pandemie in den Griff zu bekommen, spielen Impfstoffe, sind sich alle Experten einig.

Vor etwas über einem Jahr wurde das erste Sars-CoV-2-Vakzin, der mRNA-Impfstoff von BioNTech/Pfizer, in Europa zugelassen. Es folgten mit dem mRNA-Vakzin von Moderna und den Vektor-Impfstoffen von AstraZeneca und Janssen sowie dem proteinbasierten Vakzin von Novavax vier weitere. Mittlerweile ist jener von Astra-Zeneca in Österreich bereits nicht mehr im Einsatz, auch die anderen haben die zu Beginn geschürten Hoffnungen auf ein baldiges Pandemie-Ende nicht erfüllt. Denn Sars-CoV-2 mutiert und kann so immer wieder den aufgebauten Immunschutz umgehen. Zwar wäre es möglich, die mRNA- Impfstoffe rasch anzupassen, doch ist die Entwicklung erst mit dem Auftauchen der neuen Variante möglich und kommt daher für jede Welle zu spät.

Weltweit wird deshalb weiter an neuen Vakzinen geforscht. "Noch nie sind so viele Impfstoffe gleichzeitig entwickelt worden wie derzeit", sagt Virologe Christoph Steininger. Für ihn ist eine der relevanten Fragen: "Wie lange schützt uns eine Impfung? Das wussten wir bei den aktuell zugelassenen nicht exakt und wissen es natürlich auch bei jenen nicht, die sich gerade in Entwicklung befinden."

Laut WHO laufen aktuell 331 Projekte zur Entwicklung von Covid-19-Impfstoffen. Darunter sind solche der 2. Generation, die für noch besseren Schutz und auch dafür sorgen sollen, dass geimpfte Menschen das Virus nicht mehr übertragen können. Die US-Firma Codagenix arbeitet in Zusammenarbeit mit dem Serum Institute of India etwa an einem Lebendimpfstoff. Bei diesem werden abgeschwächte Viren verwendet, verabreicht wird er per Nasenspray. "Ja, dieser Impfstoff hat Potenzial", so Steininger. Allerdings müssten zuvor einige Herausforderungen gemeistert werden. "Es ist schwierig, die richtige Balance zwischen ausreichend viel Virus und zu wenig zu finden." Denn ist die Dosierung zu schwach, reagiert das Immunsystem nicht stark genu, es wird kein ausreichender Schutz aufgebaut. Enthält das Vakzin aber zu viele Viren, so kann es vor allem bei älteren und immungeschwächten Menschen die Krankheit auslösen und damit gefährlich werden. Da allerdings gerade erst Phase 1 der Studien abgeschlossen wurde, ist noch völlig unklar, wann und ob dieser Impfstoff erhältlich sein wird.

PFLEGE

Kürzere Arbeitszeiten würden den Beruf attraktiver machen

Wir haben einen Notstand in der Pflege", sagt Ingrid Reischl, leitende Sekretärin des ÖGB, "und zwar nicht nur in den Krankenhäusern, sondern auch bei der Alten-und Langzeitpflege und in Behinderteneinrichtungen." Mit Corona und den Nachrichten über ausgebrannte Pflegekräfte an den Intensivstationen wurde ein Problem verstärkt sichtbar, unter dem das Personal im Gesundheitswesen schon lange leidet: die langen und unregelmäßigen Arbeitszeiten, die physisch und psychisch belastend sind. "Es gibt extremen Stress, instabile Dienstpläne, die Kolleginnen und Kollegen müssen oft einspringen", schildert die Gewerkschafterin den Arbeitsalltag.

Um die Versorgung auch in schwierigen Corona-Zeiten zu gewährleisten, bekräftigt Reischl daher eine Langzeitforderung der Pflegegewerkschaften: die "Verkürzung der Arbeitszeiten, damit die Menschen länger im Job bleiben". Da das allerdings die Personalknappheit in der Krise noch einmal verstärken würde, muss es wenigstens eine klare Perspektive geben: "Arbeitgeber und Politik müssen ein Zeichen setzen: Die Arbeitszeit wird sich bis zum Zeitpunkt X garantiert verändern."

Das würde nicht nur den Druck von bereits überlasteten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern nehmen, sondern würde den Beruf auch für junge Menschen oder jene, die an eine Umschulung denken, attraktiver machen. Eine weitere Maßnahme gegen den Pflegenotstand: "Die Leute müssen es sich auch leisten können, diesen Beruf zu ergreifen." Eine Pflegestiftung könnte etwa bei Berufsumsteigern das Arbeitslosengeld aufstocken, sodass diese mindestens 1.300 Euro netto monatlich bekommen. Zudem könnten Menschen in der Ausbildung schon bezahlt werden, wie das etwa in der Polizeiausbildung passiert. Und, so Reischl, man dürfe bei der Pflegeausbildung nicht nur auf die Akademisierung des Berufs setzen. Wer schon den Bachelor in der Pflege erlangt hat, wird eher weiter studieren und den Pflegestationen irgendwann verloren gehen.

Auch ohne Coronakrise ist der Mangel an Pflegekräften eklatant. Bis 2030 fehlen in Österreich mindestens 76.000 Menschen in diesem Beruf. "Es muss diesem Land die Pflege in Zukunft mehr wert sein. Wenn wir das in der Pandemie nicht gelernt haben, ist uns eh nicht zu helfen", sagt Reischl.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin (Nr. 01/02 2022).