Brennpunkt Jerusalem

"Das Restvertrauen ist komplett weg"

In Jerusalem befinden sich zentrale Stätten dreier Weltreligionen: des Judentums, des Islams und des Christentums. Markus Stephan Bugnyár, Rektor des Österreichischen Hospizes, erzählt über das fragile Zusammenleben in Zeiten des Krieges.

von Die Klagemauer in Jerusalem © Bild: IMAGO/Funke Foto Services

Wenn Sie auf der Dachterrasse des Österreichischen Hospizes in Jerusalem stehen, haben Sie wichtige Stätten des Judentums, des Islams und des Christentums im Blick. Was sehen Sie da in Tagen wie diesen?
Wenn man wie ich in Jerusalem lebt, kennt man seine Nachbarschaft, die Menschen und die Probleme dort. Der Ramadan war bisher ruhig, im Verhältnis dazu, dass das Land seit fünf Monaten im Krieg ist und Medien immer wieder über drohende Eskalationen berichten. Die hat es bisher zum Glück nicht gegeben. Es gab Überlegungen, den Zugang zum Tempelberg einzuschränken, aber auch viele arabische Stimmen, die gesagt haben: „Warum eigentlich?“

»Die Solidarisierung der Palästinenser im Land, auf die die Hamas wohl gehofft hat, ist nicht passiert«

Die Palästinenser in Ostjerusalem und Israel haben sich ja auch relativ ruhig verhalten angesichts der Ereignisse im Gazastreifen. Das, was die Hamas wohl gehofft hat, dass es zu einer Solidarisierung der Palästinenser im Land oder der Hisbollah im Norden kommt, ist nicht passiert. Für Palästinenser ist der Ramadan nicht so sehr damit verbunden, Aktionen zu setzen. Er ist eine Zeit des Gebetes, eine Zeit der Familie, wo man in Ruhe gelassen werden möchte. Daher ist es gut, dass man die Zugangsbeschränkungen wieder gelockert hat. Die Älteren dürfen auch ihre Kinder auf den Tempelberg mitnehmen. Vor Ort überwiegt die Hoffnung, dass es im Ramadan ruhig bleibt.

Zu Ostern kamen früher viele christliche Pilger nach Jerusalem. Wie ist es heute?
Es ist ruhiger, als mir lieb ist. Es ist aber angesichts des Krieges erstaunlich viel los. Es sind keine Gruppenreisen, sondern Einzelreisende. Wenn kein Attentat in der Nähe stattfindet, dann werden wir vielleicht nach Ostern ein relativ volles Haus haben. Wir hoffen auf den Herbst. Und hoffen davor noch, dass der Krieg bald endet.

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AUF ENGEM RAUM. Ein Blick auf die Altstadt Jerusalems. Die goldene Kuppel des Felsendoms prägt das Bild der Stadt. Nur ein paar Hundert Schritte entfernt befinden sich die Klagemauer und die Grabeskirche

Grafik zu der geteilten Stadt Jerusalem
© News

Sie leben seit 25 Jahren in Jerusalem. Wie hat sich das Zusammenleben in dieser Zeit verändert?
Es hat im letzten Jahr immer wieder Meldungen gegeben über Vandalismusakte gegen christliche Einrichtungen oder tätliche Übergriffe, etwa dass Kleriker bespuckt werden. Das ist oft in Verbindung damit gebracht worden, dass in der Koalitionsregierung Israels rechte Parteien vertreten sind, was es früher nicht gegeben hat. Da hört eine kleine, überschaubare Gruppe ihr Weltbild nun als Echo von der Regierungsbank und fühlt sich bestätigt. Ich glaube aber nicht, dass solche Phänomene verschwinden, wenn sich die Regierung ändert. Zudem hat es solche Übergriffe auch früher gegeben. Das kommt in Wellen und ebbt wieder ab. Ich bin in den 1990er-Jahren als Student hierhergekommen. Da habe ich ein ganz anderes Land erlebt.

Wie war es damals?
Da war es völlig normal, dass Israelis und Palästinenser täglich miteinander zu tun gehabt haben. Da haben Leute als Taglöhner bei Renovierungen oder bei der Gartenarbeit mitgeholfen. Da ist es zu freundschaftlichen Verhältnissen zwischen Familien gekommen und man hat sich zu den Feiertagen eingeladen. Seither ist viel passiert, auch die Zweite Intifada, und mit jedem größeren Zwischenfall ist Vertrauen verloren gegangen. Das ist in meiner Wahrnehmung die schlimmste Konsequenz, die der 7. Oktober und der Krieg zeitigen werden: Das Restvertrauen, das es vor diesem Tag gegeben hat, ist komplett weg. Es hat sich herausgestellt, dass offenkundig einige der Palästinenser, die aus dem Gazastreifen zur Arbeit nach Israel kommen durften, ihre Arbeitgeber und die Dörfer rundherum über einen sehr langen Zeitraum ausspioniert haben. Die Hamas-Terroristen sind mit sehr konkreten Lageplänen gekommen. Daher überlegt Israel, ob es diese Work Permits in Zukunft noch geben soll oder ob man mehr Gastarbeiter aus asiatischen Ländern holt. Das wäre ein immenses Problem für die palästinensische Wirtschaft. Denn Palästinenser, die in Israel arbeiten, verdienen mehr.

Kann das Vertrauen je zurückkehren?
Im Moment nehme ich nur gegenseitiges Misstrauen wahr, das sehr tief sitzt. Der Krieg ist ja noch lange nicht vorbei. Ich sehe nicht, dass es schnell wieder zu diesem Vertrauensverhältnis kommen könnte, das man davor gehabt hat.

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Der Burgenländer studierte in Wien Theologie und Religionspädagogik und kam 1996 erstmals als Student nach Jerusalem. Im Jahr 2000 wurde er zum Priester geweiht. Seit 2004 ist er Rektor des Österreichischen Hospizes zur Heiligen Familie, einer Unterkunft für katholische Pilger an der Via Dolorosa.

Politisch liegt eine Zweistaatenlösung auf dem Tisch. Ist die realistisch?
Ich sehe nicht, wie sich eine solche im klassischen Sinn des Wortes umsetzen ließe. Eine Zweistaatenlösung setzt voraus, dass man ein einheitliches Siedlungsgebiet, definierte Grenzen und ein Volk hat – da scheitert es in allen drei Punkten. Da bräuchte es eine innerpalästinensische Aussöhnung zwischen dem, was von der Hamas übrig bleiben wird, und der Fatah. Ein einheitliches Siedlungsgebiet gibt es aufgrund der israelischen Siedlungen nicht. Das sind immerhin 500.000 Menschen, die mittlerweile in der Westbank und in Ostjerusalem wohnen. Die werden nicht einfach verschwinden. Vielleicht müsste man sich von der klassischen Definition des Staates verabschieden, ein international anerkanntes Völkerrechtssubjekt Palästina schaffen, mit Autonomieregelungen, wie es sie in anderen Ländern, siehe Südtirol, gibt. Israel spricht davon, dass Palästina entmilitarisiert werden müsste. Doch wer übernimmt dann die Aufgaben, die mit Polizei und Armee verbunden sind? Da stellen sich noch sehr, sehr viele Fragen.

Es heißt, man dürfe Religion und Politik nicht vermengen. Ist das beim Nahostkonflikt überhaupt noch möglich? 
Das ist kein Konflikt der Religionen. Wenn man das so formuliert, würde man ja behaupten, dass Religion oder religiöse Motive an dessen Anfang standen. Meine Wahrnehmung ist, dass Judentum und Islam nicht am Beginn dieses Disputs stehen. Diesen Beginn verorte ich mit den Anfängen der Einwanderung in den bestehenden Zionismus im 19. Jahrhundert – erst in ein Osmanisches Reich, dann in eine britische Mandatsmacht –, dem Antisemitismus in Europa, dem Zweiten Weltkrieg. Das sind politische Ursachen, doch das ist in der Region von religiösen Erzählungen oft nicht zu trennen. Die Frage ist nur: Was war zuerst? Natürlich gibt es auf beiden Seiten Menschen, die sich durch religiöse Argumente zusätzlich animieren lassen. Die Siedlerbewegung beruft sich auf biblische Erzählungen. Auf palästinensischer Seite argumentiert man mit dem goldenen Zeitalter des Islams und dem Rechtsstatus, den Christen und Juden damals in einem muslimischen Staatsgebilde hatten. Zudem ist in muslimischer Hinsicht eine Trennung zwischen Politik, dem öffentlichen Leben, dem Privaten und der Religion nicht vorgesehen. Das erklärt zum Teil die Probleme, die wir in Österreich und Europa haben, wenn es um Integration geht.

Wie ist in Israel der Einfluss der Religion auf die Politik? In der Koalition sitzen ultraorthodoxe Parteien.
Hier sitzen Parteien auf der Regierungsbank, die im Sinne ihrer Parlamentssitze und des Bevölkerungsanteils, den sie repräsentieren, übergewichtet sind. Zu Beginn des Krieges hat man der Koalition und den rechten Parteien die Mitschuld an dem Massaker gegeben, weil Sicherheitskräfte vom Gazastreifen abgezogen wurden, um Siedlereinrichtungen in der Westbank zu schützen. Machen wir uns nichts vor: Ein Großteil der Bevölkerung ist sehr einverstanden damit, dass dieser Krieg bis zum Ende geführt wird, sprich: keine weitere Bedrohung von der Hamas ausgeht. Wir sehen zwar einige Tausend bei Demonstrationen für Neuwahlen, aber das ist eine verschwindende Minderheit, eher die Freunde und Familien der Geiseln, die in Gaza gehalten werden. Es gibt Umfragen, die zeigen, dass die israelische Gesellschaft aufgrund des Massakers und des Krieges nach rechts driftet. Bei Neuwahlen würden unter Umständen genau diese rechten Parteien gestärkt werden.

Die Annahme, dass Benjamin Netanjahu das Massaker und den Krieg politisch nicht überstehen wird, ist falsch?
Netanjahu hält sich seit langer Zeit an der Macht. Er ist ein Taktiker, vielleicht nicht unbedingt ein Stratege, der sich durchaus noch weiter halten kann. Es kann Kalkül gewesen sein, dass er nach dem 7. Oktober nicht bereit war, Verantwortung zu übernehmen. Wenn es ihm gelingt, diesen Krieg zu einem aus israelischer Perspektive „herzeigbaren“ Ergebnis zu führen, kann es sein, dass er an der Macht bleibt. Dass nach allem, was geschehen ist, die Linke gewählt wird, ist unrealistisch.

Und aktuell?
Es haben sich etwa 700 Menschen in die Pfarre geflüchtet, in der Hoffnung, dass das Gelände nicht bombardiert wird. Neben den Katholiken sind da auch Griechisch-Orthodoxe und Mitglieder der kleinen anglikanischen Gemeinde. Diese Menschen müssen versorgt werden. Noch kann man aus Israel Geld überweisen. Es gibt einen Schwarzmarkt, wo alles drei- bis viermal teurer ist als früher im Supermarkt. Mittlerweile bricht aber auch dieser weg und man weiß nicht, wie es weitergeht. Wobei man sagen muss: Andere Menschen dort haben deutlich größere Probleme, die christliche Gemeinde ist ja noch relativ sicher. Eine humanitäre Katastrophe für die Menschen in Gaza muss unter allen Umständen verhindert werden. Die internationale Sorge ist groß, das ist auch Israel bewusst. Deswegen gibt es die Versorgungsbrücke von Zypern her und Lkw, die auf dem Landweg reinkommen. Israel lässt sich auch deshalb in der Kriegsführung Zeit, um präzise vorgehen zu können und die Leute zu erreichen, die für das Massaker verantwortlich sind. Man steht unter Beobachtung, im Land und international. Man kann nicht einfach so tun, also würde es die Zivilisten vor Ort nicht geben.

Es gibt im Gazastreifen eine christliche Minderheit. Wie geht es diesen Menschen? 
Die Pfarre in Gaza-Stadt ist dem Hospiz sehr verbunden, weil sie einer meiner Vorgänger 1879 gegründet hat. Wir versuchen zu helfen, und das gelingt auch. Die Pfarre besteht aus etwa 120 Menschen. Das wäre nach österreichischem Maßstab leicht handhabbar, wenn man aber von zwei bis drei Millionen Palästinensern und einer Hamas-Regierung umgeben ist, wird alles zum Problem. Die müssen alles selber organisieren, vom Kindergarten bis zur Altenbetreuung. Wenn man nicht möchte, dass die Kinder in einer Hamas-geführten Schule sind, muss man eben selbst etwas auf die Beine stellen. Das braucht Infrastruktur und Personal und verursacht Kosten.

»Ich vermisse ein ähnliches Maß an Verständnis für die israelische Perspektive«

Israel hat jedes Recht, sich zu verteidigen. Doch international verliert es aber den Kampf um die öffentliche Meinung. 
Medial hat Israel bereits im Oktober verloren, nachdem die ersten Bilder der Zerstörungen, der Einsätze in Krankenhäusern und von toten Kindern zu sehen waren. Es gibt Massendemonstrationen in europäischen Großstädten. Ich verstehe ja, warum Menschen auf die Straße gehen. Aber ehrlich gesagt vermisse ich ein ähnliches Maß an Verständnis für die israelische Perspektive. Der 7. Oktober gehört in meiner Wahrnehmung nur bedingt in den Kontext des Nahostkonflikts. Ich lebe hier seit 25 Jahren und weiß, wie er sich anfühlt – Gewalt und Gegengewalt, Attentate, Militäreinsätze. Aber was am 7. Oktober passiert ist, sprengt jede Vorstellungskraft. Die Brutalität, mit der die Terroristen vorgegangen sind, ist unbeschreibbar. Dieser Tag hat neue Fakten geschaffen, das ist auch den Palästinensern klar.

Woran machen Sie das fest? 
Die arabischen Muslime in der Westbank und in Israel halten sich derzeit möglichst zurück. Es hat drei Monate gedauert, bis es wieder ein Attentat in Jerusalem gegeben hat. Sie halten sich bei Demonstrationen und Ausschreitungen zurück. Ich glaube, das hat mit dem Erschrecken der Palästinenser selber über den 7. Oktober zu tun.

Grabeskirche in Jerusalem
© ALBERTO PIZZOLI / AFP / picturedesk.com

GRABESKIRCHE. Normalerweise drängen sich hier Christen aus aller Welt, um jenen Ort zu sehen, an dem laut Überlieferung das Grab von Jesus war. Die Kirche wird von sechs christlichen Konfessionen betreut. Wegen des Krieges wird es hier heuer ruhiger sein

Hat die Hamas bei den eigenen Leuten Vertrauen verloren?
Nach außen äußert man Solidarität mit dem eigenen Volk. Aber ich kenne privat genug Palästinenser, etwa Händler in der Altstadt, die sehen, die Touristen bleiben aus, sie haben keine Einnahmen, können das Schulgeld für die Kinder oder die Miete nicht bezahlen. Auch die Hisbollah in der Westbank verhält sich weitgehend ruhig. Niemand von uns vor Ort hat angenommen, dass sie sich massiv in den Krieg einmischen wird. Abgesehen davon, dass sie andere innenpolitische Ziele hat – das sind Schiiten, die werden nicht für Sunniten in den Tod gehen. Schon bald nach dem 7. Oktober haben Palästinenser in meinem Freundeskreis den Witz gemacht: „Wenn der Iran sich einmengen sollte, werden die kämpfen bis zum letzten Palästinenser.“ Der Orient hat ein sehr langes kollektives Gedächtnis, was diese Wahrnehmung von Religionskonflikten angeht.

Hat es Sie überrascht, wie stark nach dem 7. Oktober in Europa und den USA Antisemitismus sichtbar wurde? 
Mich hat das nicht überrascht. Es gibt Antisemitismus, der immer schon da war, und jenen, der durch Migrationsbewegungen dazugekommen ist. Die einschlägigen Demonstrationen haben den Vorteil, dass aufmerksame Beobachter endlich wissen, wer sind die Leute mit diesem Gedankengut. Machen wir uns nichts vor: Jeder von uns hat schon einmal Witze mit antisemitischem Unterton gehört. Das ist in diesem Land immer noch salonfähig. Man muss sich ja nur Wahlergebnisse der letzten Jahre anschauen. Also: Ich bin nicht überrascht. Bin ich beunruhigt? Ja, natürlich.

Ist das Feiern des Osterfestes unter diesen Umständen überhaupt möglich?
Wir haben schon die Weihnachtsfeiertage relativ übersichtlich gehalten. Natürlich können Sie nicht feiern, wenn rundherum gestorben wird und Krieg herrscht. Die Gottesdienste werden stattfinden, aber nach außen wird man sich zurückhalten. Die palästinensischen Christen machen das nicht nur aus Solidarität mit den muslimischen Palästinensern. Es ist auch Selbstschutz. Man will als christliche Minderheit innerhalb einer muslimischen Mehrheitsbevölkerung nicht unbedingt unangenehm auffallen. Das hat man im Hinterkopf.

Wie geht es weiter? Gibt es Hoffnung?
Die Frage der Geiselfreilassung ist der Schlüssel zum Frieden. Mahmud Abbas hat schon vor ein paar Wochen die Hamas aufgefordert, die Geiseln freizulassen, auch damit die Zivilbevölkerung im Gazastreifen endlich zur Ruhe finden kann. Die Geiseln sind ein Druckmittel der Hamas. Aus israelischer Perspektive ist es immens wichtig, sie nach Hause zu bringen. Daher wird der Krieg andauern, solange diese Menschen im Gazastreifen festgehalten werden. Meine Hoffnung ist, dass man möglichst rasch einen Weg findet, alle Geiseln nach Hause zu bringen. Dann kann sich nämlich auch innerhalb des Landes eine Opposition neu formieren. Aber solange Geiseln dort sind, ob tot oder lebendig, wird eine Regierung Netanjahu fest im Sattel sitzen.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 13/2024.