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Die Grundsatzreden Van der Bellens sind mittlerweile zu einer Art "fester Bestandteil" der Bregenzer Festspiele geworden. Im Vergleich mäßig launisch, betont gelassen, aber auch vorsichtig optimistisch und mit einem Schuss Humor führte er durch seine Gedankenwelt, in der die liberale Demokratie, Europa (der Begriff "Österreich" fiel nicht), am meisten aber das "Mindset" im Mittelpunkt standen. Aktuell herrschten so viele Krisen, "man kommt ja gar nicht mehr nach mit dem Wegschauen", sagte er. Wie aber damit umgehen?
Der Bundespräsident erinnerte an drei Prinzipien: anerkennen, was ist, lebenslang dazulernen und die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln. Halte man sich an diese, habe man eine Hilfe, "die Zukunft zu navigieren", betonte Van der Bellen. Er setzte fort: "Und, das ist mir wichtig, selber zu bestimmen, wohin die Reise geht, und das nicht andere bestimmen zu lassen." Ohne eine Antwort zu geben, fragte der Bundespräsident: "Wollen wir, dass sich in einer Herrschaft der wenigen über die vielen das Geld, die Technik, die Macht in einem kleinen elitären Kreis konzentriert?"
In Bezug auf Europa stellte Van der Bellen die Frage in den Raum: "Wollen wir, dass unser Kontinent souverän ist, digital souverän und auch sicherheitspolitisch souverän?" Warum beginne man nicht mit einem Projekt wie "Airbus", das eine unglaubliche Erfolgsgeschichte sei? So konnte sich der Bundespräsident ein großes europäisches Eisenbahnprojekt ebenso vorstellen wie ein gemeinsames europäisches Rüstungsprojekt oder eine europäische KI. Man habe in Europa "ein unvergleichlich großartiges, strahlendes Friedensprojekt" geschaffen. Das sei eine zivilisatorische Großtat, "die wir verteidigen sollen", so der Bundespräsident bestimmt.
Kulturminister Babler sah in seiner Eröffnungsrede die Demokratie auf zwei Säulen stehen, nämlich einer liberalen und der sozialen Demokratie. Allerdings sei die soziale Säule schwächer geworden. Damit meine er, dass eine Gewissheit abhandengekommen sei - "die Gewissheit, dass die Art und Weise, wie unsere Gesellschaft funktioniert, uns allen gemeinsam nützt", so der Vizekanzler. Die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung in Österreich besäßen so viel wie die übrigen 95 Prozent. Zur Jahrtausendwende seien in Österreich rund 960.000 Menschen armuts- oder ausgrenzungsgefährdet gewesen, heute seien es mehr als 1,5 Millionen. "Sie sehen: Es hat sich etwas gewaltig verschoben", stellte Babler fest.
Die ungleiche Verteilung führe dazu, dass immer mehr Menschen das Gefühl hätten, das Land habe sie vergessen. Zugleich bedeuteten ungleiche Lebensverhältnisse, "dass uns die Gemeinsamkeiten abhandenkommen", sagte der SPÖ-Bundesparteivorsitzende. Letztlich verliere die Gesellschaft ihr Mitgefühl. Wer die liberale Freiheit aufrechterhalten wolle, sollte sich auch um die soziale Freiheit kümmern, zeigte sich Babler überzeugt - "die Freiheit, ein Leben ohne Armut zu führen. Die Freiheit, sich zu entfalten. Die Freiheit, teilzuhaben", so der Vizekanzler. "Unsere Demokratie wurde aus dem radikalen Gedanken geboren, dass jeder Mensch gleich viel wert ist und gleich viel mitbestimmen kann. Diesen radikalen Gedanken sollten wir ernst nehmen", betonte er. Die Zukunft unserer Demokratie hänge davon ab, "wie wir miteinander umgehen, ob wir aufeinander schauen und ob wir solidarisch sind".
Die Bregenzer Festspiele stünden seit ihrer Gründung für Aufbruch, erinnerte wiederum Festivalpräsident Hans-Peter Metzler. Kunst und Kultur stifteten Sinn, förderten Resilienz und Zusammenhalt. "Sie stärken unsere Gemeinschaft in Zeiten von Unsicherheit - und sie sind ein unverzichtbarer Bestandteil einer positiven gesellschaftlichen Entwicklung", sagte Metzler. Mit der neuen Intendantin Lilli Paasikivi übernehme eine "ebenso erfahrene wie visionäre Persönlichkeit" die künstlerische Leitung der Festspiele. Sie stehe für eine offene, neugierige, forschende Kunstauffassung - und für das Vertrauen, dass große Qualität und große Publikumsnähe einander nicht ausschließen. "Wir freuen uns auf ihren Sinn für Qualität, ihren Blick für das Machbare und das Wesentliche", zeigte sich Metzler gespannt "auf ihre Handschrift". Paasikivi hat das künstlerische Zepter der Festspiele im vergangenen Herbst von Elisabeth Sobotka übernommen und führte als Conférencière in leuchtend gelber Robe durch die eineinhalbstündige Eröffnungsfeier. Sie freue sich auf einen Sommer "voller Musik, voller Bühnenmagie und voller inspirierender Begegnungen", sagte sie.
Bis 17. August stehen am und auf dem Bodensee etwa 80 Veranstaltungen auf dem Programm, für das rund 220.500 Karten aufgelegt wurden. 85 Prozent der Tickets waren zu Festspielbeginn bereits gebucht. Den künstlerischen Auftakt des Festivals bildete am Mittwochabend die Premiere von George Enescus "Œdipe" als Oper im Festspielhaus. Die Wiederaufnahme von Carl Maria von Webers "Der Freischütz" als Spiel auf dem See steht am Donnerstagabend an. Für die 27 "Freischütz"-Aufführungen gelangten etwa 192.000 Karten in den Verkauf. In der Auftaktsaison von Paasikivi als Intendantin gibt es mit dem Musiktheater "Emily - No Prisoner Be" und dem Schauspiel "bumm tschak oder letzte henker" zwei Uraufführungen zu sehen. Dazu kommen mit "Borrowed Light" und "Study for Life" zwei österreichische Erstaufführungen.
Abseits der Reden bestach die live im TV übertragene Eröffnung wie gewohnt durch die Darbietungen der Festspiel-Künstler, die auf höchstem Niveau in vielfältigen Auszügen das Festspielprogramm vermittelten. Nach dem Abschluss der Eröffnungszeremonie mit der Europahymne traf man sich - auch das ist Tradition in Bregenz - zum Empfang auf dem Vorplatz des Festspielhauses.
(S E R V I C E - 79. Bregenzer Festspiele von 16. Juli bis 17. August, Spiel auf dem See: "Der Freischütz" von Carl Maria von Weber; Hausoper: "Œdipe" von George Enescu. www.bregenzerfestspiele.com)