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Leitartikel: Das Ende eines bequemen Selbstbilds

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6 min

Kathrin Gulnerits

©Matt Observe

Ein Amoklauf. Ein bewaffneter 21-Jähriger. Zehn Tote. Und ein Land, das sich zunehmend selbst bewaffnet. Was folgt auf die Betroffenheit? Welche Lehren ziehen wir aus dem, was wir lange übersehen haben? Es geht um das Bild, das wir von uns haben. Und um die Wirklichkeit, die nicht mehr dazupasst

Irgendetwas stimmt in der Erzählung nicht. Hat wahrscheinlich noch nie gestimmt und trotzdem liebt man dieses Bild von sich selbst und erzählt es gerne – und in Teilen völlig zu Recht – weiter: Österreich ist ein sicheres Land. Mehrheitlich gut verwaltet. Schön. Gemütlich sowieso. Ein Land, das sich mehr raushält als einmischt – aus guten Gründen, aber auch aus Bequemlichkeit und der Unlust anzuecken. Ein Land, das ziemlich oft weit weg von den Sorgen, die andere in ihren Ländern haben, durch die Zeiten gleitet und dabei allzu oft vor Veränderungen zurückschreckt.

Vieles in diesem Land funktioniert, ist stimmig – und wird im täglichen Klein-Klein gelegentlich zu selten gewürdigt. Das andere sorgt dafür, dass das Land zu oft im Mittelmaß steckenbleibt. Weil Veränderung als Bedrohung gilt. Nicht als Chance. Weil vieles schon immer so war, wie es eben ist. Kurzum: Österreich, die viel zitierte Insel der Seligen. In diesen Tagen aufgerüttelt durch einen Amoklauf am Grazer Gymnasium Dreierschützengasse – und aufgewacht mit einer überraschenden, für viele erschreckenden Erkenntnis: Dieses Land hat sich in den vergangenen zehn Jahren zunehmend selbst bewaffnet.

Bewaffnetes Misstrauen

1,5 Millionen Revolver, Pistolen und Gewehre sind in Österreich registriert – Tendenz steigend. Bei Schusswaffen pro Kopf führen naturgemäß die USA – wir sind aber unter den Top Ten. 374.000 Menschen hierzulande haben eine Waffenbesitzkarte. Einer von ihnen war der 21-jährige Steirer, der an der Grazer Schule zehn Menschen tötete – und sich selbst. Die Dunkelziffer ist hoch. Viele Waffen sind nicht registriert. Dass man in Österreich legal zur Selbstverteidigung bewaffnet sein darf, ist bekannt. Neu ist: Immer mehr Menschen machen davon Gebrauch, eine Waffe zu kaufen. Nicht wegen der Jagd. Nicht wegen des Sports. Sondern scheinbar aus Angst. Angst vor Einbrüchen. Vor dem Kontrollverlust. Vor „Zuständen“? Vor „denen da draußen“? Für das gute Gefühl? Weil es ein Recht ist? Was sagt das über uns aus? Ist das bloß ein Trend? Oder längst ein stiller gesellschaftlicher Alarmruf?

Die Regierung plant, das Waffenrecht deutlich zu verschärfen. Der private Waffengebrauch soll „auf ein Minimum reduziert“ werden. Wünschenswert wäre auch ein kritischer Blick auf den Datenschutz: Der Amokläufer war psychisch zu instabil fürs Bundesheer – durfte aber zwei Waffen legal besitzen.

Doch das größere Problem liegt tiefer. Die steigende Zahl an Waffenbesitzern ist kein Zufall. Sie ist ein stiller Vertrauensentzug. Wer sich bewaffnet, glaubt offenbar nicht mehr daran, dass der Staat schützt. Das ist die andere Seite der Erzählung über die „Insel der Seligen“. Die Politik trägt Mitschuld. Wer ständig von Kontrollverlust redet, muss sich nicht wundern, wenn Menschen beginnen aufzurüsten. Andererseits: Ganz so einfach ist es nicht. Studien liefern keine Belege für ein weitverbreitetes Unsicherheitsgefühl.

Das subjektive Sicherheitsgefühl schwindet. Die bröckelnde Solidarität in der Gesellschaft wird als Bedrohung wahrgenommen

Eine aktuelle Erhebung im Auftrag des Innenministeriums, die das subjektive Sicherheitsgefühl, Erfahrungen mit Kriminalität im Alltag und erlebte Bedrohungssituationen abgefragt hat, zeigt: 84 Prozent der Bevölkerung fühlen sich in Österreich sehr oder eher sicher. Am sichersten in ihrem eigenen Wohnort (91 Prozent). Auch an öffentlichen Plätzen, in öffentlichen Verkehrsmitteln, Park- und Grünanlagen. Das Vertrauen in die Polizei ist hoch. Das ist die eine Studie. Eine andere zeigt ein anderes Bild: Das subjektive Sicherheitsgefühl schwindet – im Rückblick auf Finanzkrise, Zuwanderung, Pandemie, den Terror von Wien. Bemerkenswert: 57 Prozent empfinden die bröckelnde Solidarität in der Gesellschaft als Bedrohung. Hinzu kommt ein wachsendes Gefühl der Orientierungslosigkeit. Die globalisierte Welt wirkt zunehmend ungeordnet. Soziale Ängste greifen Raum. Viele Ängste vor Veränderung werden dabei auf Zuwanderung projiziert.

Was bleibt nach den Worten?

Nach dem Amoklauf von Graz ist wieder viel von „Gemeinschaft“ die Rede. Von Zusammenhalt. Von Solidarität. Zu Recht – und, wie so oft an solchen Tagen danach. Ennio Resnik, Schülersprecher des BORG Dreierschützengasse, plädiert für Zusammenhalt – unabhängig von Religion, Geschlecht oder politischer Haltung. Der Bundespräsident sagt: „Mehr Liebe, weniger Hass, mehr Hinschauen, weniger Wegschauen, bessere Regeln, weniger Widersprüchliches, weniger Trennendes, mehr Gemeinsames.“ Es ist nicht das erste Mal, dass Alexander Van der Bellen an den gesellschaftlichen Zusammenhalt appelliert, vor Feindbildern warnt, fordert: „mehr miteinander als übereinander zu reden“. Und der Elternvertreter Mirza Candic erinnert mahnend: „Wir dürfen Kinder nicht verlieren, weil wir zu spät hingeschaut haben, zu schnell bewertet, zu rasch aufgegeben haben.“

All das ist richtig. Aber es darf nicht bei Betroffenheitsrhetorik bleiben. Vertrauen entsteht nicht durch Worte, sondern durch Haltung. Durch Konsequenz. Wir – als Gesellschaft, als Politik – suchen in diesen Tagen Antworten. Wir haben viele schon gefunden. Aber wir dürfen sie im Alltag nicht wieder aus den Augen verlieren.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir: gulnerits.kathrin@news.at

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 25/2025 erschienen.

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