Nach dem Schulmord von Graz wird über strengere Waffengesetze diskutiert und damit über die richtige Interpretation des Begriffs Waffenfreiheit. Wahr ist: Waffen sind ein Problem, aber keine Waffen sind auch keine Lösung.
In Graz hat vor einer Woche ein 21-jähriger ehemaliger Schüler im Bundesoberstufenrealgymnasium Dreierschützengasse neun Schülerinnen und Schüler, eine Lehrerin und sich selbst getötet. Es war ein geplanter Vielfachmord, der überall, auch auf Wikipedia, wo das Ereignis einen eigenen Eintrag hat, als „Amoklauf“ bezeichnet wird. Die Art und Weise, auf die dieses Ereignis in der öffentlichen Darstellung umgedeutet wurde und wird, erscheint mir einigermaßen bezeichnend. Wer Amok läuft, gerät von einer Sekunde auf die andere außer sich, er oder sie dreht durch, weil irgendetwas in dieser Person einen Schalter umlegt, ein Bedrohungsgefühl, eine Panikwelle, ein Angsterguss, eine Art innere Überwältigung.
Amokläufe sind, das ist der entscheidende Punkt, keine geplanten Taten. Das Schulmassaker in Graz war sorgfältig geplant, und der Plan wurde sorgfältig und mit grauenvoller Effizienz umgesetzt. Auch wenn man beides von außen nicht vorhersehen kann, weder den Amoklauf noch den still vorbereiteten Mordplan, ist der geplante Mord beängstigender als der Amoklauf, und das ist wohl der Grund dafür, dass man in der Regel bei allen Massentötungen von Amokläufen spricht. Die Verharmlosung findet aus Angst vor der Angst statt.
Generation Angst
Der amerikanische Psychologe Jonathan Haidt beschreibt in seinem 2024 erschienen Bestseller The Anxious Generation die seit etwa 15 Jahren voranschreitende, empirisch sehr gut belegte Verschlechterung der seelischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, und er bringt diese Entwicklung mit der seit dieser Zeit verstärkten Nutzung von Smartphones und dem Phänomen der elterlichen Überbehütung in Verbindung. Um diese Epidemie an psychischen Erkrankungen der jungen Generation zu bekämpfen, fordert Haidt Dinge, die auch nach dem Grazer Schulmord gefordert werden: Keine Smartphones für Kinder bis zum 10. Lebensjahr, keine sozialen Medien für Jugendliche bis zum Alter von 16 Jahren, keine Smartphones in Schulen. Kinder und Jugendliche, sagt Haidt, müssen durch freies Spiel lernen, Verantwortung für ihr Handeln in der realen Welt zu übernehmen.
Haidt hat sicher recht, aber ich fürchte, dass diese Zahnpasta, typisch Zahnpasta, nicht in die Tube zurückkehren wird. Die Rückeroberung einer Kindheit, die unsere nächsten Generationen nicht in eine von Ängstlichkeit und Überforderung dominierte Existenz führt, sondern zu selbstbestimmten, realitätstauglichen und Verantwortung übernehmenden Individuen heranwachsen lässt, ist keine Einbahnstraße. Erziehung bedeutet Beziehung, und wenn Kindern und Jugendlichen einfach das Smartphone weggenommen und die App abgedreht wird, während Eltern, Bekannte und Lehrer so weitermachen wie bisher, wird sich nicht rasend viel ändern. Die Überbehütung, die Haidt als Teil des Problems beschreibt, ist die korrespondierende Ängstlichkeit der Elterngeneration, die in den knapp zwei Jahren seit Erscheinen des Buches nicht gerade zurückgegangen sein dürfte: Wenn gefühlt jeden Tag irgendwo auf der Welt ein Krieg begonnen wird, der das Potenzial zum Weltkrieg in sich birgt, wird Angst zum generationsübergreifenden Gefühl, und zwar einigermaßen zurecht.
Angst oder Ängstlichkeit, das weiß jeder aus persönlicher Erfahrung, bekämpft man am besten durch Aktivität, wer Angst hat, sitzt nicht still. So muss man auch die Diskussionen über notwendige Maßnahmen und politische Konsequenzen nach dem Schulmord von Graz einordnen: Selbst wenn sie tatsächlich zu Gesetzesänderungen führen werden, geht es in den Debatten über Smartphone- und Waffenverbote, über Sicherheitsschleusen in Schulen und die Bewaffnung von Lehrern nicht um die Verhinderung solcher Taten in der Zukunft – es weiß jeder, dass man solche Taten nie verhindern kann. Es geht einfach darum, die Angst und Unsicherheit, die solche Ereignisse auslösen, kollektiv zu bearbeiten, die Psychologen nennen das den Coping-Mechanismus.
Waffen sind ein Problem, aber keine Waffen sind auch keine Lösung
Am deutlichsten zeigt sich das in der Debatte über die Waffengesetzgebung. Alle sind sich einig, dass im Rahmen der bestehenden Gesetzeslage ein junger Mann, der bei der Stellung aus Gründen der psychischen Instabilität als wehrdienstuntauglich eingestuft wird, nicht kurz danach legal eine Waffe erwerben können sollte. Ob aber überhaupt jemand, der nicht beruflich eine braucht, privat eine Waffe erwerben können soll, darüber herrscht alles andere als Einigkeit. Es geht um die beiden Bedeutungen des Wortes Waffenfreiheit. Die Advokaten der Freiheit von Waffen argumentieren, dass es keinen vernünftigen Grund gebe, privat eine Waffe zu besitzen. Die Anwälte der Freiheit für Waffen betonen das Recht jedes Einzelnen, sein Hab und Gut, seine Sicherheit und sein Leben mit den Mitteln zu verteidigen, die er für angemessen hält.
Wahr ist: Waffen sind ein Problem, aber keine Waffen sind auch keine Lösung. Weil zum Beispiel jemand, der eine Waffe braucht, um damit eine Straftat zu begehen, immer eine bekommt.
Als vor 35 Jahren der Kalte Krieg endete, begann eine Illusion zu entstehen, die sich in den vergangenen drei Jahren in Rauch aufgelöst hat: die Illusion, dass es keine Abschreckung mehr braucht, und also auch keine Waffen. Es ist wohl Zeit für einen neuen Realismus.
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Dieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 25/2025 erschienen.