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Reinhard Haller: „Bei einem Amoklauf geht es um Rache an der Institution, an der Gesellschaft“

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12 min

Reinhard Haller

©IMAGO / Rudolf Gigler

Die Grazer Psychotherapeutin und News-Autorin Monika Wogrolly im Gespräch mit dem Gerichtspsychiater Reinhard Haller über den Amoklauf in Graz.

Monika Wogrolly: Wir alle sind nach dem Amoklauf wie gelähmt von Fassungslosigkeit und Bestürzung. Da ist die verzweifelte Frage nach dem Warum. Eine Wahnsinnstat wie dieser Amoklauf geschieht aber nicht immer in einem Verwirrtheitszustand.

Reinhard Haller: Dieser Täter ist ganz gezielt vorgegangen. Das heißt, er hat die Tat genau geplant und dann ein Massaker angerichtet. Man kann sich das Ganze folgendermaßen vorstellen: Diese Menschen sind, genauso wie alle anderen, innerlich sehr empfindlich, sehr verletzlich. Sie zeigen das aber nach außen eben nicht, es bleibt hinter der Maske der Coolness verborgen. Heute ist nach außen hin alles cool, cooler, megacool und da wird ein Heranwachsender nicht zugeben, dass ihn eine Kleinigkeit sehr irritiert hat. Aber zu solchen kleinen Stichen kommt es natürlich – besonders in der Schulzeit. Man wird vielleicht ungerecht behandelt oder ungerecht benotet. Es könnte sein, dass man der Schule verwiesen wird. Es ist auch möglich, dass man zu keiner Geburtstagsparty eingeladen wird oder noch keine Freundin hat wie die anderen.

Der Täter war ein Ex-Schüler des Grazer Gymnasiums und nach aktuellem Wissensstand über zwanzig. Offenbar kann es eine lange innere Vorlaufphase haben, bis es zu einer solchen Tat kommt?

Wie gesagt, sammeln sich – von außen betrachtet – lauter Kleinigkeiten, die aber subjektiv die Welt bedeuten können, und das köchelt dann in der betroffenen Person lange, lange Zeit vor sich hin. Es wird nicht angesprochen, es wird nicht entschärft, es entwickelt sich wie ein Eiterherd, der sich unter einer scheinbar gesunden Haut immer weiter bohrt und bis dann, eines Tages, das von Kränkungen volle Fass zum Überlaufen kommt. Und dann passiert eben diese schreckliche Tat.

Der Täter in Graz war angeblich ein Mobbingopfer.

Hier darf man Folgendes nicht vergessen: Es handelt sich um eine narzisstische Kränkungsreaktion. Und Narzissmus ist sehr anhaltend. Es heißt ja so schön, Gott verzeiht, aber niemals ein Narzisst. Das bedeutet, dass in vielen Fällen Monate oder Jahre vergehen, wobei sich die Aggressivität ja nicht gegen einzelne Personen, wie etwa gegen „böse Lehrer“ richtet, sondern übergeordnet gegen die Schule als Institution.

Nicht jene, die die Kränkung zugefügt haben, sind die Hassobjekte, sondern ganz beliebige Personen und die Gesellschaft an sich.

Amoktaten richten sich nie gegen einzelne Personen, sondern immer gegen Gruppen und gegen Institutionen. Und zwar nicht gegen direkte Feinde, sondern eben gegen Menschen, die symbolisch sind für die jeweilige Einrichtung – in diesem Fall also für die Schule. In anderen Fällen für die scheinbar heile, gesunde, ihn ausschließende, als kalt erlebte Gesellschaft. Und dementsprechend kehren die Täter an den Ort der meisten Kränkungen zurück – das ist in diesem Lebensalter natürlich einmal die Schule – und verüben dort ihre grauenhafte Rache. Und wie gesagt, dazu braucht es immer auch eine gewisse Zeit, bis eben ein Fass, das langsam heranköchelt, erst nach einem gewissen Zeitraum, ohne einen bestimmten Auslöser, überzukochen beginnt.

Die Waffen, die verwendet wurden in Graz, sollen legal erworben worden sein. Das heißt, die Person war nach außen hin vorkommen unauffällig.

Das ist bei solchen Tätern meistens der Fall, dass man nach außen nichts merkt. Ich persönlich habe ja unter anderem den Amokläufer von Winnenden begutachtet. Auch da war es so, dass alle Personen, die ihm noch kurz vorher begegnet sind, gesagt haben: „Nein, nein, der war völlig unauffällig. Das war ein netter Kerl.“ Kollegen, die ihn noch vorher in der Bahn getroffen haben, haben gesagt, er habe aufgeräumt gewirkt und sei gut aufgelegt gewesen.

Und das ist eben das Problem an der ganzen Sache. Man kann das alles nicht so gut erkennen, aber das ist gleichzeitig auch die Macht der Kränkungen. Ich kann also letztlich in diesem Zusammenhang nur auffordern, dass man erstens nicht voreilige Schuldzuweisungen macht, denn dazu ist so eine Tat viel zu komplex, als dass man es Einzelnen anlasten könnte. Und zum Zweiten, dass wir vielleicht doch immer bedenken, dass es in unserer Gesellschaft Menschen gibt, die sich ausgeschlossen fühlen, die zurückgezogen sind, die sich als vereinsamt erleben. Und denen es vielleicht gut tun würde, wenn man sie anspricht und dadurch aus ihrer Isolation, in der diese schrecklichen Fantasien heranwachsen, befreien könnte.

Eine Möglichkeit solchen Amokläufen vorzubeugen, liegt in der Verschärfung des Waffenrechts

Reinhard Haller

Eine Amoktat ist ein Symptom sozialer Kälte, von Verrohungstendenzen in unserer Gesellschaft, dass man sich nicht mehr umeinander kümmert und dass das Interesse und die Empathie schwinden.

Ich glaube schon, dass das damit ganz eng zusammenhängt. Aber auch noch mit etwas anderem, dass die Menschen halt nach wie vor sehr empfindliche, sehr kränkbare Wesen sind, aber das eben nicht zeigen. Das ist das eigentliche Problem, dass man das von außen schwer erkennen kann, dass hier sozusagen ein Vulkan hinter einer unauffälligen Naturkulisse brodelt. Dementsprechend ist es auch sehr, sehr schwierig, solchen Amokläufen vorzubeugen. Eine Möglichkeit liegt in der Verschärfung des Waffenrechts. Und damit hat man ja durchaus auch Erfolge gehabt. Denn wir dürfen trotz der Schrecklichkeit dieser Tat nicht vergessen, dass es zum Glück sehr, sehr seltene Vorkommnisse sind, nach wie vor, gerade bei uns in Europa, und dass man auch schon viele derartige Fälle entschärft hat.

Die wirklich zentrale Frage, die sich ergeben wird, ist folgende: Hat dieser Täter sich geoutet, also hat er Hasspostings geschrieben und Botschaften an die kalte Welt gesandt, oder hat er das nicht getan? Denn im einem Fall würde es sich um jemanden handeln, der emotional sehr instabil ist, und im anderen Fall um Persönlichkeiten, die sich nicht ernst genommen fühlen, die das Gefühl haben, nicht richtig zu sein, die sich schwören: Euch werde ich es einmal zeigen, einmal werdet ihr für ein paar Minuten den Atem anhalten, wegen meiner Person und das weltweit.

Diesem Täter geht es jetzt nicht so sehr um Rache, sondern darum, ein Zeichen zu setzen, ein Zeichen der Macht.

Natürlich, es geht ihm schon auch um Rache, aber nicht um Rache an einer einzelnen Person, sondern an der Institution, an der Gesellschaft. Er trifft ja die Gesellschaft dort, wo man ihren höchsten Schmerz bereiten kann. Wenn Kinder zu Tode kommen, ist das das Furchtbarste, was man einem Menschen bereiten kann. Genau darum ist es ihm gegangen, nicht um eine Einzelperson, sondern um die Gesellschaft.

Wenn jetzt diese Tat narzisstisch motiviert ist, dann könnte man sich vorstellen, dass der Täter ja dann noch sozusagen den Genuss haben will, seinen Ruhm auszuschöpfen. Wieso ist dann oft eine suizidale Handlung des Täters die Folge von einem Amoklauf?

Die Täter haben mit ihrem Leben abgeschlossen Sie leben in einer Endzeitstimmung. Sie kalkulieren durchaus mit ein, dass sie selbst dabei zu Tode kommen. Ja, sie planen das geradezu. Aber das Bedürfnis der Wiedergutmachung, der Racheausübung auf ihre Kränkungen hinzuweisen, ist stärker als die Angst vor dem Tod.

Es wurde bereits angesprochen, wie schwierig es ist, Präventivmaßnahmen zu entwickeln. Der sichere Ort Schule ist nun erschüttert. Die Amoktat ist ein kollektives Trauma und macht Angst.

Angst muss man jetzt in erster Linie von Nachahmungstaten haben. Man weiß aus verschiedenen Untersuchungen, dass so schreckliche Taten zur Nachahmung anregen. Das muss man wirklich auch in der medialen Berichterstattung berücksichtigen. Ich kann nur ganz allgemein dazu auffordern, dass man dann, wenn jemand hart beurteilt wird an der Schule oder vielleicht von der Schule verwiesen wird, dass man bei ihm dann nachfragt, dass man sich dann wirklich dafür interessiert, wie es bei der Person weitergeht, ob sie eine andere Möglichkeit oder dergleichen hat. Weil die Täter, die überlebt haben, haben alle gesagt: „Am allerkränkendsten für mich war, dass die Gesellschaft nicht einmal erkannt hat, wie schlecht es mir geht.“

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