Um einen Konflikt so zu argumentieren, wie es seitens des Musikdirektors der Staatsoper unternommen wurde, braucht es eine Art taktischer Tollkühnheit, die man nur auf dem Stehplatz erworben haben kann. Nicht, dass der von mir geschätzte Philippe Jordan dort je geweilt hätte. Aber sein Agent kennt die Reflexe, die heute so verlässlich anspringen wie vor 50 Jahren. Die Zielgruppe ist stark gereift, aber dank dezibelstarker Überzeugungswucht und konkurrenzloser Vergleichsmöglichkeiten durchaus meinungsbildend: Die leider letzten Opernnarren (denen ich mich in skeptischer Geschwisterlichkeit zugehörig weiß) haben es nicht mit der Regie.
Tollkühn, in der Tat: Spätestens im August wusste jeder Informierte, dass Jordans Vertrag auf dringliche Anregung der Philharmoniker nicht über 2025 hinaus verlängert worden war, und das schon im Juni. Daraufhin gab der gekränkte Maestro dem "Kurier" ein Interview, das ich nicht so erregend fand wie der Operndirektor. In dem er aber zentral das Wort platzierte, dessen Gebrauch ihm bei der kommenden "Meistersinger"-Premiere womöglich die ersten Ovationen seit Amtsantritt einbringt: "Regietheater" nämlich, mein heutiges Thema. Das Wort ist in sich unsinnig, weil Theater ohne Regie nicht einmal bei der Stegreifbühne Tschauner möglich ist. Zur Debatte steht bloß der Umgang des Regisseurs mit dem Werk. Für mich, den jeder Takt einer Partitur mehr interessiert als alle Bühnenbilder seit Benennung der Gattung Oper anno 1639, sind die Prioritäten klar: An erster Stelle steht das, was aus dem Orchestergraben kommt. Das Gelingen dort trägt die Leistungen der Sänger. Und das Ganze in Theater zu verwandeln: Das ist die Aufgabe der Regie.
Nur wie das zu geschehen hat, darüber bestehen diametrale Ansichten. Zerstörend ist jedenfalls die Überschätzung der Regie im Feuilleton. Die Sänger werden gerade noch mit Mantra-artigen Stereotypen in Nebensätze verräumt, wobei man dem Dirigenten zusehends sogar die Nebensätze verweigert. Aber die Regie! Die frisst unheilvoll den schwindenden Platz auf den Kulturseiten.
Wenn Sie nun wissen wollen, was ich unter idealer Opernregie verstehe, so verweise ich auf Wieland Wagner und Patrice Chéreau. Beide haben die Bühne radikal vom Sperrmüll befreit, beide ihr gesamtes, unermessliches Können den Wahrheiten auf leerer Szene verschrieben. Nie vergesse ich Chéreaus "Totenhaus", in dem jeder Einzelne aus den Chormassen motiviert, geführt war. Wagner wie Chéreau wurden anfangs übrigens tollwütig bekämpft.
Diese Schule ist mir die liebste. Christof Loy verkörpert sie idealtypisch. Herbert Fritsch hat für die aktuelle Staatsopern-Inszenierung den Rossini-"Barbier" auf die pure Commedia dell 'arte, die entfesselte, zugleich hoch präzise Spiellust reduziert. Auch Barrie Kosky folgt dem Prinzip im Staatsopern-"Giovanni". Nicht minder schätzenswert sind die Geschichtenerzähler. Sie heben, oft über gegenwärtige Kostümierung, die Ereignisse in die Zeitlosigkeit großer Theaterkunst. Andrea Breth ist hier schon beinahe konkurrenzlos, weil so viele Gleichgesinnte aus der Mode verschwunden sind. Jedes Mal, wenn die Staatsoper eine Inszenierung aus der Ära Holender ins Programm hebt, begeistert man sich an der gebotenen Qualität. In diesen Tagen betrifft das David Pountneys "Jenufa", zuvor bewunderte man Willy Deckers "Tote Stadt". Christine Mielitz, einst Hauptregisseurin des Hauses, wurde in keinem Fall zufriedenstellend ersetzt.
Womit ich bei der dritten, der vertracktesten Kategorie bin, den Verrätslern und Metaphorikern. In den Partituren verbirgt sich nämlich wesentlich mehr, als sich der am Textsystem Mitbuchstabierende träumen lässt. Die Libretti sind in der Mehrzahl drittklassig, also forscht man nach Subtexten, Botschaften jenseits des Gesagten. Ruth Berghaus und Hans Neuenfels (ein Privileg für die Staatsoper, dass er sich mit Mozarts "Entführung" aus einem singulären Lebenswerk verabschieden konnte) waren hier unerreicht. Romeo Castellucci fällt einem heute unter diesen Wundertätern ein. Oder Calixto Bieitos Wiener "Tristan" mit seiner Sehnsuchtsmetaphorik. Was ich denn zu dem vielen Wasser und den Nackerten zu bemerken habe, fragte mich ein erboster Besucher. Mein Hinweis, das Werk habe nach meinem Informationsstand durchaus ursächlich mit Wasser und Erotik zu tun, ließ den Mann in Verblüffung verstummen.
Abzulehnen ist nur Kategorie vier: die unmusikalische, die antimusikalische Regie. Wenn Simon Stone "La Traviata" in die Geisteshohlheit heutiger Influencer-Blasen transferiert, ist das durchaus plausibel. Wenn er aber die Arie "E strano", bei der die Welt zu verstummen und jeder Blick sich auf die Protagonistin zu richten hat, mit Videobombardements auf entfesselter Drehbühne vernichtet: Dann ist das ebenso barbarisch wie die Zermalmung der Paminen-Arie durch die krachende Drehbühne in der Salzburger "Zauberflöte" seitens der Regisseurin Lydia Steier. Da waltet auch Stones Spezialität, die Banalisierung und plump anbiedernde Aktualisierung, unter deren Einfluss etwa die Menschheitstragödie "Wozzeck" beim Würstelstand verendet. Warum sich jemand unter solchen Umständen vom "Dschungelcamp" Richtung Oper bewegen soll, muss mir erst einer erklären.
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