Der Untergang des Abendlandes austriakischer Prägung droht nicht mehr durch das Ende der papierenen "Wiener Zeitung", sondern durch die Zerstörung der Eigenständigkeit von Ö1. Dieser Zwischenstopp der Empörungskarawane hat mehr Berechtigung
Jetzt ist schon wieder was passiert. Während Wolf Haas in seinen Brenner-Krimis bereits vor 15 Jahren mit der Gewohnheit dieses ersten Satzes gebrochen hat, entspricht er der Empörungsverlässlichkeit von Österreichs veröffentlichter Intelligenz mehr denn je. Ein wenig ermattet vom absehbar erfolglosen Protest gegen das Ende der "Wiener Zeitung" in Papierform formieren sich nun Intellektuelle, Kunst- und Kulturschaffende gegen die Demontage von Ö1. Denn mit der Integration in den multimedialen Newsroom droht dem gewichtigen Radiosender die Unterjochung durch flache Fernsehansprüche.
Um den Unterschied zum Protest gegen die Print-Einstellung der "Wiener Zeitung" zu verstehen, genügen nackte Zahlen, wie sie kaum ein anderes geistiges Austro-Aushängeschild vorweisen kann: Ö1 lauschen täglich 755.000 Hörer. Das sind mehr, als Österreichs zweitgrößtes Tagblatt, die "Kleine Zeitung", (Papier-)Leser hat. Das Programm erzielt damit 9,4 Prozent auf dem Radiopublikumsmarkt. Das ist mehr, als der größte Privatsender, Kronehit, erreicht. Ö1 gilt als erfolgreichster Kultursender Europas. Zum TV-Vergleich: Arte hat in Deutschland 1,2, ORF III in Österreich 2,8 Prozent Marktanteil.
Neben diesem Erfolg des Gesamtpakets haben die Journale von Ö1 zwar nicht so viel Publikum wie "Zeit im Bild" und "ZIB 2", sind aber nach diesen und der "blauen Seite" die wichtigsten Nachrichten des gesamten ORF. Vor allem wegen ihres Multiplikatoreffekts als Pflichtsendungen für Politikinteressierte. Sie verhalten sich zur "ZIB"-Staffel ungefähr so wie X/Twitter zu Facebook, Instagram und TikTok. Ihr Info-Effekt via Umwegrentabilität ist weit überproportional zur Direkthörerzahl. Im Verein mit den vielen Nischenangeboten von Kultur bis Wissenschaft gerät Ö1 dadurch zur überzeugendsten ORF-Verdichtung von Public Value. Ein Angriff auf die Wesensart dieses Senders ist eine Attacke gegen den öffentlich-rechtlichen Medienauftrag insgesamt. Und - ja: Diese Identität ist aktuell gefährdet.
Die Zusammenführung von Online-, Fernseh- und Radioredaktionen im multimedialen Newsroom auf dem Küniglberg wirkt logisch. Zumindest wenn sie aufgrund dieser absehbaren künftigen Metier-Reihenfolge geschieht. Doch die Hackordnungen entstehen nicht aufgrund von Empfänger-Nutzung sondern Absender-Stärke. Fernsehen ist der aufwendigste, teuerste und personalintensivste Teil der trimedialen Uneinigkeit. Seine Bedürfnisse drohen jene von Online und Hörfunk zu dominieren. Und die eierlegenden Wollmilchsäue, die alle Kanäle ähnlich gut bedienen, werden eine verschwindende Minderheit bleiben. Ö1 braucht dagegen seinen bisherigen Status einer geschützten Werkstatt.
Solch Unterschutzstellung weckt den Verdacht betriebswirtschaftlicher Unbedarftheit. Doch das ist nicht der Fall. Seit der letzten großen ORF-Reform 1995 war der Ö1-Club ein ebenso großer Marketingerfolg wie das Pendant von Ö3. Mit dem unpopulären Unterschied, dass der Popsender wegen der Werbespots als "Cashcow" firmieren durfte (so Ex-Radiodirektor und -Generalintendant Gerhard Weis 2019), während dem Kulturprogramm seit jeher zu Unrecht der Ruf eines Minderheitenangebots anhaftete.
Wenn sich sonst zurückhaltende frühere Ö1-Chefs wie Alfred Treiber und Peter Klein neben üblichen Kulturverdächtigen wie Gerhard Ruiss und Peter Turrini im offenen Brief an ORF-General Roland Weißmann dagegen wenden, die "eigenständige und funktionierende Organisationseinheit zu zerstören", hat das auch enormes Kompetenzgewicht. Sie und viele honorige Mitunterzeichner müssen sich dennoch fragen lassen: Warum erst jetzt? Die absehbaren Folgen des multimedialen Newsrooms sind seit Jahren bekannt. Er blieb dann viele Monate ohne neue Führungsstruktur. Doch erst nun, zum Start der Ö1-Programmreform kommt ein Protest, der wesentlich mehr als diese Strukturveränderung des Angebots umfasst. Eine Zurücknahme von Entwicklungen zu erreichen, ist immer schwieriger, als diese im Keim zu ersticken. In Kombination mit kleinlichen Aufständen gegen Neuerungen droht mit der späten Reaktion zudem das Kind mit dem Bade ausgeschüttet zu werden. Denn ungeachtet seines Erfolges braucht auch Ö1 zur Zukunftsfähigkeit die ständige Veränderung.