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Seit Büchern wie "Garp", "Das Hotel New Hampshire" oder "Owen Meany" versprechen neue Romane von John Irving reinstes Lektürevergnügen mit skurrilen Charakteren und absurden Plot-Twists. An das verschrobene Irving-Universum mit Bären und Ringern hatte man sich bald gewöhnt, denn die scheinbar immer gleichen Zutaten mischte der heute in Toronto lebende Autor, der mit den Trump-USA gebrochen hat, mit unterschiedlichen Gewürzen immer neu zu wohlschmeckendem Lesefutter. Diesmal aber wird so lange um den heißen Brei herumgeredet, bis dieser ausgekühlt ist und etwas fade schmeckt.
Die Hauptfigur Esther Nacht tritt erstmals auf Seite 108 auf, als große, breitschultrige, selbstbewusste 14-Jährige, die um zehn Jahre älter wirkt. Bis dahin haben wir schon eine ganze Menge über die Kleinstadt Pennacook in New Hampshire, die überaus belesene Familie Winslow, ihre Töchter und die wie Familienmitglieder behandelten Au-Pair-Mädchen erfahren. Für ihre Nachzüglerin Honor suchen die Winslows nach einer weiteren Betreuerin und finden diese in einem Waisenhaus in Maine. Dieses wird von Doktor Wilbur Larch geleitet, den Irving-Fans aus "Gottes Werk und Teufels Beitrag" kennen.
Zwischendurch erfährt man jede Menge über die Geschichte der Abtreibung in den USA, später in aller Ausführlichkeit vom Für und Wider der männlichen Beschneidung samt unterschiedlicher historischer Perspektiven darauf. "Königin Esther" ist abschnittweise so sehr von volksbildnerischem Ehrgeiz geprägt, dass die "Washington Post" boshaft anmerkte: "Das ist kein Storytelling - das ist Wikipedia." Auch über Hauptwerke der englischen Literatur oder über das Schaffen Arthur Schnitzlers erfährt man viel. Letzteres ist der Herkunft Esthers geschuldet, die 1905 in Wien in eine jüdische Familie geboren wird, die bald in die USA emigriert. Der Vater stirbt noch bei der Überfahrt, die Mutter wird - angeblich von Antisemiten - in Portland erschlagen. Esther wird mit dem Verweis auf ihr Judentum im Waisenhaus abgegeben und wird zeit ihres Lebens versuchen, ihre "jüdischen Angelegenheiten", wie sie es nennt, zu klären.
Er habe mit "Königin Esther" "sicherlich einen projüdischen und proisraelischen Roman geschrieben", sagte John Irving in einem Interview mit der "Welt am Sonntag", in dem er auch betonte, er habe sich schon lange mit dem Thema der ihr Volk rettenden biblischen Königin Esther beschäftigt und mit seinem Buch lange vor dem Hamas-Überfall begonnen. Wirklich nahe kommt uns seine Esther jedoch nicht. Die Beweggründe ihres Handelns bleiben ein Geheimnis, doch was sie will, legt sie offen und verfolgt sie unbeirrt. Dazu zählt: Ein Kind bekommen - und es von Honor erziehen lassen. Diese Winslow-Tochter möchte zwar ein Kind großziehen, aber dafür "keinen Penis in sich herumstochern" lassen. Der Pakt der beiden Frauen hält. Esther besucht ihre Geburtsstadt, macht den idealen Samenspender ausfindig, kehrt schwanger zurück - und verschwindet nach der Geburt nach Israel. Dort, munkelt man, kann man eine so kompromisslose, energische junge Frau im Militär oder im Geheimdienst gut brauchen.
Es geht in dem Roman also in mehrfacher Hinsicht um Herkunft, Zugehörigkeit und Identität - in religiöser wie geschlechtlicher Hinsicht. Daran wird auch Esthers Sohn Jimmy, der von Honor eines Tages erfährt, dass er zwei Mütter hat, seine leibliche Mutter aber noch nie gesehen hat, ordentlich zu kiefeln haben. Nach manchem Zeitsprung landet Jimmy als Student in Wien und liefert als Alter Ego des Autors Irving diesem erneut manche Gelegenheit, Erinnerungen an seine 1962/63 in der österreichischen Bundeshauptstadt verbrachten Auslandssemester einzubauen. Der in Sachen Sex völlig unerfahrene Jungautor soll sich hier nach Honors Willen nach einer Frau "zum Schwängern" umsehen - denn so könnte er einer Einberufung in den Vietnamkrieg entkommen, hofft seine Mutter. Das ganze ziemlich durchgeknallte Personal an Mitbewohnern, der Zimmerwirtin Frau Holzinger, ihrem Enkel Siegfried und Schäferhund Hard Rain ist in die Angelegenheit involviert. Simon Wiesenthal und Hedy Lamarr spielen Nebenrollen und am Ende wird der Sohn zweier Mütter schließlich zum Vater einer Tochter, die mit zwei Müttern aufwächst.
Ganz am Ende treffen Esther und Jimmy in Israel aufeinander, und John Irving zieht noch einmal alle emotionalen und politischen Register. Und es taucht ein Slogan auf, der in den vergangenen Monaten eine Spur des Hasses um die Welt zog: "From the river to the sea." - "Es klang nach einer Falle, selbst für Jimmy, der nur ein Junge aus New Hampshire war."
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - John Irving: "Königin Esther", Deutsch von Peter Torberg und Eva Regul, Diogenes, 554 Seiten, 33 Euro)






