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Shattuck, der auch das Drehbuch für die Adaption verfasste, gelingt das Kunststück, auf wenigen Seiten eine Dichte an Emotionen zu packen und eine große Geschichte über verpasste und genutzte Chancen sowie über ewige und erloschene Liebe mit poetischen, manchmal mehrdeutigen, aber nie überladenen und klaren Sätzen zu erzählen. Eigentlich sind es zwei Short Storys, die - separat aufbereitet, aber inhaltlich geschickt verwoben - zusammen eine Art Novelle ergeben. Die erste spielt weit in der Vergangenheit, die zweite näher im Jetzt, Letztere ergänzt Erstere und enthält Offenbarungen, die Vorherige betreffend.
"Ich sah aus dem Fenster auf die Straße, wo die bauschigen weißen Samen noch immer auf dem Bürgersteig hin und her geweht wurden und nach einem Ort suchten, wo sie aufgehen konnten", heißt es an einer Stelle. Im übertragenen Sinn trifft dieses Bild sowohl auf Lionel, aus dessen Ich-Perspektive der erste Teil verfasst ist, wie auch auf Annie zu, Hauptprotagonistin im zweiten Text. Lionel hat diesen Ort gefunden und wieder verloren, Annie glaubt ihn gefunden zu haben, denkt nun aber "zum ersten Mal darüber nach, dass das, was sie immer für den Anfang ihres eigentlichen Lebens gehalten hatte, möglicherweise das Ende gewesen ist".
Lionel lernt mit 17 David im Schatten des Ersten Weltkriegs in Cambridge, Massachusetts, kennen. Die zwei Musikstudenten, bald ein Liebespaar, begeistern sich für traditionelle Musik Amerikas, ziehen einen Sommer lang durch das Land und zeichnen Gesänge und Volkslieder mit einem Phonographen auf Walzen auf. Danach verlieren sich ihre Wege. Jahre später findet Annie, die ihre Karriere für eine Ehe aufgegeben hat, die Wachszylinder im Haus, das sie und ihr Mann gekauft haben und in dem sich Annie eigentlich ebenso wenig wohl fühlt wie in ihrem unaufgeregten Leben. Im hohen Alter erklingt für Lionel aber so noch einmal die große Liebe.
Es ist beeindruckend und wunderbar zu lesen, wie viel vom Leben und den Gefühlen seiner Figuren Shattuck auf knapp 100 Seiten preisgibt. Beschreibungen von Klang und Natur spiegeln Emotionen wider, in scheinbaren Nebensächlichkeiten - etwa in einer flüchtigen Beobachtung eines Paares in einem Café - liegt oft eine tiefe Bedeutung. Der Autor, der mit seiner Frau und seiner Tochter an der Küste Massachusetts lebt und die älteste Gemischtwarenhandlung Amerikas aus 1793 betreibt, sei ein "Wortmagier, der in der Tradition von Joy Williams und John Cheever die Rätsel der menschlichen Seele erkundet", so der Verlag. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
(Von Wolfgang Hauptmann/APA)
(S E R V I C E - Ben Shattuck: "Die Geschichte des Klangs", Hanser Verlag, aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, 104 Seiten, 20,60 Euro)