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Essays aus "Zeiten der Scham": Martin Pollacks Vermächtnis

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Martin Pollack, gestorben am 17. Jänner
©APA, GEORG HOCHMUTH
"Europa, präziser gesagt: die Europäische Union, steckt in der Krise, vielleicht der tiefsten und gefährlichsten seit ihrer Gründung." So beginnt das Buch, das am 22. Juni im Akademietheater präsentiert wird - und man möchte kaum glauben, dass diese Zeilen von Martin Pollack 2018 erstmals erschienen sind. Nun steht seine Dankesrede bei der Entgegennahme des Johann-Heinrich-Merck-Preises am Anfang eines Bandes von Essays und Reportagen des am 17. Jänner Verstorbenen.

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"Zeiten der Scham" hat der Herausgeber Gerhard Zeillinger, Verlagslektor, Literaturwissenschafter, Historiker und langjähriger Freund Pollacks, die Auswahl genannt. Der Titel geht ebenfalls auf das Jahr 2018 zurück, als Pollack bei der Verleihung des Staatspreises für Kulturpublizistik darüber sprach, dass "in Europa die Zeit der Scham angebrochen" sei, in der man sich für die Machthaber schämen müsse, die sich selbst nicht schämten, "für nichts und niemand, für keine Entwicklung, die sie verantworten, und sei sie noch so schändlich".

Die Lebensthemen des engagierten Reporters, Übersetzers und Autors sind hier versammelt und schlüssig gegliedert. "Zwischenrufe nach Europa", "Gewalt und Gedächtnis", "Im Abgrund der Familie", "Landschaften mit Erinnerung" und "Auf dem Land" heißen die Kapitel. Es sind Reportagereisen in den Osten und Tierbeobachtungen im eigenen Garten im Burgenland, Sondierungsbohrungen in den "kontaminierten Landschaften" Ostmitteleuropas und in die eigene Familiengeschichte, bei denen er immer wieder Verstörendes und Verdrängtes zutage förderte.

Wer diesen nüchternen Beobachter, der hellwachen Verstand, uneitle Formulierungsgabe und unverbrüchliche Hoffnung auf die Verbesserungsfähigkeit des Menschen vereinte, kennenlernen durfte, war von ihm beeindruckt. Wem die persönliche Begegnung nicht vergönnt war, kann das nun bei der Lektüre nachvollziehen. Pollack ließ persönliche Betroffenheit zu, ließ aber nicht zu, dass sie ihn zerstörte. Das galt für den Umgang mit seiner Familie genauso wie mit seiner Krankheit, gegen die er am Ende - viel später, als seine Ärzte prognostiziert hatten - unterlag.

Mit der Aufarbeitung der Leerstelle, die sein Vater hinterlassen hatt, der als hochrangiger Gestapobeamter und SS-Offizier an der NS-Vernichtungsmaschinerie mitgewirkt hatte ("Der Tote im Bunker"), hatte er 2004 ein exemplarisches Buch vorgelegt. Sein letzter Text, im September 2024 geschrieben und nun erstmals abgedruckt, befasst sich mit seinem Großvater, von ihm "Opsi" genannt. Ausgehend von einer Krankenakte, die ihm Zeillinger über dessen letzte Lebenstage als hilfloser Pflegefall in der Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling besorgt hatte, beschreibt er die ganze Ambivalenz seiner persönlichen Beziehung zu ihm.

Der Mann war nicht nur herrisch und unnahbar, von allen gefürchtet, sondern auch ein überzeugter Nationalsozialist und Mittäter, der stolz darauf war, am gleichen Tag wie Adolf Hitler Geburtstag zu haben. Seinem Enkel gegenüber war er jedoch voll Liebe und Zuneigung, und die gemeinsamen Wanderungen durchs Mostviertel, zum "Hamstern" bei den Bauern, zählen zu den schönsten Kindheitserinnerungen Pollacks, der bei der Lektüre des Pflegeberichts ehrlich erschüttert ist: "Wenn ich diese Berichte lese, krampft sich mir buchstäblich das Herz zusammen." Zeillinger, der nicht nur diesen Text mit einer Vielzahl von Fotos ergänzt hat, schreibt in seinem lesenswerten Nachwort: "Ich kann mir vorstellen, dass er beim Lesen des Berichts an seinen eigenen Krankheitszustand, an sein eigenes Zu-Ende-Gehen dachte. (...) Der Krankenakt des Großvaters konfrontierte ihn mit seinem eigenen Sterben."

Das Buch erscheint in der kommenden Woche. Bei einer Matinee im Akademietheater am 22. Juni spricht Gerhard Zeillinger mit Pollacks Freund und Kollegen Christoph Ransmayr. Es lesen die Burgschauspieler Stefko Hanushevsky, Sabine Haupt, Philipp Hauß, Markus Meyer und Barbara Petritsch.

(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)

(S E R V I C E - Martin Pollack: "Zeiten der Scham. Essays und Reportagen". Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gerhard Zeillinger, Residenz Verlag, 288 Seiten, 28 Euro, Buchpräsentation zum Gedenken an Martin Pollack: 22. Juni, 11 Uhr, Akademietheater)

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