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"Ausgangspunkt meiner Recherchen war ein Scheitel - eine Perücke, wie sie orthodoxe Jüdinnen tragen, wenn sie verheiratet sind - unter einer mysteriösen Porzellanpuppe, die mir hinterlassen wurde", schreibt die in Graz geborene und in Wien lebende ehemalige Journalistin, die 2018 ihren Debütroman "Die Unversehrten" vorlegte. In ihrer literarischen Fiktion stammt die Perücke von Rahel, der verwitweten Freundin der mit dem sozialdemokratischen Eisenbahner Bertl verheirateten, aus Tschechien stammenden weiblichen Hauptfigur Klara. Rahels Spur verliert sich nach dem "Anschluss" rasch. Bertl und Klara gab es wirklich, sie sind die Großeltern der Autorin, mit denen sie aufgewachsen ist.
Bei der Lektüre von "Am Semmering" denkt man unwillkürlich an mehrere Bücher. Zum einen kommen einem die literarischen Aufarbeitungen von zeitgeschichtlichen Dramen aus jener Gegend in den Sinn, die Martin Prinz ("Die letzten Tage") und Richard Weihs ("Zertrümmerte Erinnerung am Semmering", in Kürze folgt ein zweiter Band) vorgelegt haben, zum anderen hat man gerade Jacqueline Kornmüllers "6 aus 49" gelesen. In dem Buch erinnert auch sie sich an ihre Großmutter und arbeitet die NS-Vergangenheit ihrer Geburtsstadt Garmisch-Partenkirchen auf. "Am Semmering" hat einiges mit diesen Büchern zu tun.
Tanja Paar entwirft das Panorama des Zusammenlebens unterschiedlicher Schichten in einer außergewöhnlichen Umgebung und schwierigsten Umständen. Denn in den Jahren 1928 und 1929, denen im Buch der breiteste Raum gewidmet wird, halten Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit die Menschen fest im Griff. Wer einen Beruf und einen kleinen Garten zur zumindest teilweisen Selbstversorgung hat, darf sich glücklich schätzen - und hält sich am besten raus aus den politischen Auseinandersetzungen, die an Schärfe zunehmen. Das ist auch das Dilemma von Bertl und Klara: Sollen sie für ihre linke Gesinnung einstehen und damit ihr kleines Lebensglück gefährden?
Dieses Lebensglück wäre durch die Ankunft des heiß ersehnten Nachwuchses beinahe vollkommen - doch es will und will nicht klappen. Das ist einer der tragischen Aspekte einer Lebensgeschichte, die Tanja Paar sehr anschaulich zu vermitteln versteht. Auch das soziale Netzwerk des Paares, das neben der Jüdin Rahel auch das Postfräulein Negrelli, von dem man munkelt, sie sei mit dem Erbauer des Suezkanals verwandt, einen gewesenen Baron und einen aus Ungarn stammenden Filou umfasst, nimmt einen rasch gefangen.
Szabo ist Verwalter einer Villa, benimmt sich jedoch wie deren Besitzer. Allmählich begreift man, welche wichtige Rolle dieser selbstbewusst auftretende Charmeur, der nicht nur mit seinem virtuosen Klavierspiel allen den Kopf verdreht, in diesem Gefüge spielt. Paar hat ihn dazu auserkoren, mit kursiv gesetzten Rückblicken aus der Gegenwart immer wieder die fortlaufende Narration zu durchbrechen und zu hinterfragen.
Ist man "Am Semmering" in den 30er-Jahren angelangt, geht es rasch Richtung Tragödie, Richtung NS-Herrschaft, Judenverfolgung und Weltkrieg. Hier hätte man sich in der Erzählung weniger Tempo und mehr Ausführlichkeit gewünscht. Was aus den Menschen wird, die einem zuvor ans Herz gewachsen sind, hätte man gern im Detail erfahren. Obwohl man bereits ahnt: Für einige wird das nicht gut ausgehen.
(Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
(S E R V I C E - Tanja Paar: "Am Semmering", Residenz Verlag, 256 Seiten, 26 Euro)
WIEN - ÖSTERREICH: FOTO: APA/APA / Residenz Verlag