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5 Gründe, warum sich Hirschls und Kışlals „Content“ im Schauspielhaus lohnt

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6 min
Tala Al-Deenauf der Bühne im Wiener Schauspielhaus im Stück Content

Tala Al-Deen

©Ines Bacher

Content ohne Sinn – und doch sehenswert: Aslı Kışlals Bühnenadaption von Elias Hirschls Roman seziert Social-Media-Wahn, KI-Fiktion und Sinnsuche mit Skurrilität und Tiefgang. Fünf Gründe, warum sich der Theaterbesuch lohnt.

Schon bevor das Licht erlischt, gehen die Schauspieler:innen hinter dem durchsichtigen PVC-Streifenvorhang auf und ab. Gehört das zum Stück, fragt man sich. Natürlich gehört es zum Stück – und es ist vor Vorstellungsbeginn ziemlich sinnlos. Genauso sinnlos wie die Arbeit, die die Angestellten von Smile Smile Inc. verrichten. Die Firma produziert Content um des Contents willen: Videos und Listicles à la „Arnold Schwarzeneggers Top 3 feministische Momente“. Während die reale Welt wortwörtlich in sich zusammenfällt, finden sich die Figuren in Aslı Kışlals Bühnenadaption von Elias Hirschls 2024 erschienenem Roman mit ihrer Seelenleere und Nutzlosigkeit ab.

Fünf Gründe, warum ein Besuch im Schauspielhaus alles andere als sinnlos ist:

1. Skurrilität und Ironie

Eine neue Mitarbeiterin startet bei der Contentfarm Smile Smile Inc.: Das Publikum sammelt zusammen mit der namenlosen Erzählerin erste Eindrücke: Die Firma steht auf dem ausgehöhlten Areal eines ehemaligen Kohleabbaugebiets, inspiriert von Hirschls Zeit als Stadtschreiber in Dortmund. Was sich im Keller befindet, weiß keiner so wirklich, Spekulationen gibt es reichlich. Vielleicht Atommüll. In den Obergeschossen schrotten Mitarbeiter:innen eine Neuauflage von Nokia 3310 Telefonen in Mikrowellen und Hydraulikpressen. Freilich wird das gefilmt – guter Content.

Alles ist ein wenig verschroben, zweckentfremdet, überspitzt. Die Gestikulation der Darsteller:innen genauso wie die Kostüme von Nadine Abena Cobbina – Schwimmbrille am Kopf, Krawatten ums Bein gewickelt, Putzmittel an den Gürtel geschnallt. Aber man gewöhnt sich an all die Eigenheiten, auch an die Erdbeben, versichert Mitarbeiterin Karin.

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 © Ines Bacher

2. Dramatischer Kern

Dabei gewöhnt sich just Karin nicht an die Zustände. Sie hält ihre Hand in die Hydraulikpresse und wird in die Psychiatrie gebracht. Diagnose „Seelenleere“: Karin versucht, in ihrer Arbeit einen tieferen Sinn zu finden und geht daran kaputt. Wann immer die Erzählerin Karin in der Psychiatrie besucht, wird es im Publikum unangenehm still. Zu nachvollziehbar ist ihr mentaler und körperlicher Verfall. Und doch belohnt Hirschl sie schließlich als Einzige mit einem Happy End, auf das es sich zu warten lohnt.

3. Künstliche Intelligenz als Teil des Stücks

Während die Angestellten der Contentfarm befürchten, durch Künstliche Intelligenz ersetzt zu werden, wählt die Erzählerin einen anderen Zugang. Sie macht sich die Entwicklung zunutze, trainiert die KI, ihre Listicles zu schreiben, und bleibt fortan zuhause. Und auch in die Gestaltung des Stücks fließt KI ein. Gleich zu Beginn erklärt die KI-generierte Stimme der deutschen Altkanzlerin Angela Merkel, was Listicles sind. Hirschl selbst experimentierte bereits früh mit künstlicher Intelligenz. So auch für sein Werk „Content“, von dem ein Ausschnitt 2022 mit dem Publikumspreis des Bachmannpreises ausgezeichnet wurde.

4. Reflexion von Social Media

Im Laufe der knapp zweistündigen Vorstellung bekommt die Protagonistin plötzlich eine Doppelgängerin auf Social Media. Eine ihr optisch gleichende Person übernimmt sämtliche Online-Kanäle, postet an ihrer Stelle perfekte Inhalte. Ausgelagert ist das eigene Sozialleben. Während die digitale Version ihrer Selbst also heiratet und eine Kreuzfahrt unternimmt, erlebt die Offline-Erzählerin den Zerfall der ehemaligen Kohle-Zeche und den bedrohlichen Anstieg des Grundwasserspiegels.

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 © Ines Bacher

5. Appell gegen Vereinsamung der Gesellschaft

Und anstatt in der Not zusammenzurücken, reden sämtliche Figuren vehement aneinander vorbei – vom Start-Up-Unternehmer bis hin zum Investigativjournalist, der die Missstände der Contentfarm aufdecken will. Letzterer ist viel zu sehr in seinen Theorien verheddert, um zu merken, dass er sein Gegenüber für die Falsche hält. Aber Identität ist in „Content“ – in der Bühnenfassung wie im Buch – ohnehin fließend. Nach und nach werden auf der Bühne neben der Doppelgängerin auch die übrigen Schauspieler:innen zur Erzählerin. Kışlal verbildlicht, wie ununterscheidbar ähnlich unsere Miseren sind. Bleibt nur noch zu hoffen, dass wir einander doch noch rechtzeitig unterstützen, bevor die Welt in Trümmern liegt.

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