Erstmals gewährt ein Blick in die streng geheimen Chanel-Archive einen so persönlichen Zugang zur Modeschöpferin wie nie zuvor: Unveröffentlichte Dokumente, Fotografien und Texte lassen die Ikone in bislang unbekannter Intimität erscheinen. Den umfassenden Überblick bietet das neue Buch „Chanel intim", eingeleitet durch ein Vorwort von Chanels Nichte
Wenn der Name Chanel fällt, denkt man unweigerlich an schlichte Eleganz, geradlinige Formen und eine gewisse perlenbesetzte Strenge. Die Ursprünge dieses heute weltberühmten Stils liegen – wie inzwischen belegt – in einem Kloster im französischen Aubazine, wo Gabrielle „Coco“ Chanel ihre Kindheit verbrachte. Dorthin brachte sie ihr Vater, nachdem ihre Mutter Jeanne mit nur 32 Jahren an Tuberkulose starb und fünf Kinder zurückließ.
Coco ganz privat
Der Vater verschwand spurlos und kehrte nie zurück – ein Bruch, der die junge Gabrielle zutiefst prägte und in ihr den Entschluss festigte, sich in der Welt zu behaupten und ihr einen unauslöschlichen Stempel aufzudrücken.
Damit begann der außergewöhnliche Aufstieg einer Frau, die es schaffte, aus denkbar bescheidenen Verhältnissen ein Imperium zu formen – in einer Epoche, in der die soziale Herkunft über nahezu alles entschied. Das Buch zeigt bislang unveröffentlichte Fotografien aus den persönlichen Archiven der Modeschöpferin, erklärt ihre komplexe Familiengeschichte und räumt zugleich mit Mythen rund um die Ikone auf – ein Anliegen, das zu Lebzeiten ihrer 2014 verstorbenen Nichte und letzten Nachfahrin Gabrielle Palasse-Labrunie besonders wichtig war.
Diese sprach über ihre Tante wie über eine Mutter oder Großmutter. Entgegen der gängigen Vorstellung, Chanel habe im Wesentlichen ein sehr einsames Leben geführt, schilderte sie das Zusammenleben mit ihr als geprägt von Nähe und Wärme. Sie zeichnete das Bild einer Coco Chanel, die sich nicht nur um ihre Familie, sondern ebenso um Freunde und Angestellte liebevoll kümmerte.


Das Buch
Chanel-Expertin und Autorin Isabelle Fiemeyer führt durch die Chanel-Archive, Francis Hammond hat die Zeitzeugnisse fotografisch festgehalten. „Chanel Intim“ präsentiert private Räumlichkeiten, Korrespondenzen und Habseligkeiten der Modeschöpferin. Callwey, € 45,–
© CallweyDiszipliniertes Kostüm
Im Arbeitsalltag erlebte sie die Modeschöpferin stets als diszipliniert und organisiert: „Sie verließ nie das Haus, ohne perfekt geschminkt zu sein und Schmuck oder einen Hut zu tragen. Übrigens begann sie nach dem Schminken und Parfümieren immer mit ihrem Hut, zog dann ihr „Kostüm“ an, wie sie es nannte. Sie verabscheute nachlässige Kleidung. In den 40 Jahren, in denen ich sie kannte, war sie immer und überall makellos, selbst auf dem Land oder in den Bergen.“

Die von Chanel entworfenen gesteppten Taschen waren ursprünglich aus Stoff gefertigt. Das Futter war häufig in Rot gehalten. Ein Modell aus dem Jahr 1955.

Ich sehe es als meine Aufgabe, Zeugnis abzulegen – ein Bild von Auntie Coco zu zeichnen, wie sie wirklich war
Neben intimen Einblicken in ihren Alltag und ihr Selbstverständnis thematisiert das Buch auch die schillernde wie widersprüchliche Seite Chanels: Details über ihre teilweise skandalträchtigen Affären sowie ihre einzig große Liebe zu einem britischen Unternehmer namens Boy Capel, werden offengelegt.
Dazu treten persönliche Texte und Analysen nahestehender Personen, Geheimdienstdokumente aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs, Auszüge aus offiziellen Akten und Einordnungen ihrer Beziehungen romantischer wie platonischer Natur. All das macht das Buch zu weit mehr als nur zu einem hübschen Bildband: Es ist ein detailreiches Porträt einer Frau, deren Leben von Selbstinszenierung und kompromisslosem Stilwillen geprägt war, und eine der wenigen Chanel-Biografien, die diesen Titel uneingeschränkt verdient. Ein Must-Read für alle, die sich für Mode, Kulturgeschichte und das Phänomen Chanel interessieren.


Links: Ein Matrosenhemd aus elfenbeinfarbenem Seidenjersey der Frühjahr-Sommer-Kollektion 1916. Rechts: Ein Wintermantel mit russischer Stickerei (1922)
© CHANEL _ Photo AntoineDieser Beitrag ist ursprünglich in der News-Printausgabe Nr. 38/2025 erschienen.