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Während AD(H)S bei Buben und Männern häufig schon im Kindesalter erkannt wird, bleibt die neurobiologische Störung bei Mädchen und Frauen mit der Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität (ADHS) oder ADS, der Aufmerksamkeitsdefizitstörung, oft lange unbeachtet. Ein Grund dafür ist, dass sich die Symptome bei ihnen anders zeigen und zudem stärker schwanken – etwa im Verlauf des Zyklus, während einer Schwangerschaft oder in den Wechseljahren.
Auffällig ist: Bei Frauen mit AD(H)S können bereits vergleichsweise kleine hormonelle Veränderungen größere Auswirkungen haben als bei Frauen ohne Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Fachleute sprechen von stärkeren "Ausschlägen" – etwa bei Stimmung, Konzentration oder Stressverarbeitung.
Ein zentraler Faktor sind dabei weibliche Sexualhormone, vor allem Östrogen. Dieses Hormon beeinflusst nicht nur den Körper, sondern auch spezielle Botenstoffe im Gehirn – darunter Dopamin und Serotonin. Diese Stoffe sind unter anderem wichtig für Konzentration, Motivation, Stimmung und emotionale Stabilität.
Sinkt der Östrogenspiegel – etwa in der zweiten Zyklushälfte, nach einer Geburt oder in der Menopause –, kann dieses fein austarierte Gleichgewicht gestört werden. Viele Frauen reagieren dann empfindlicher auf Stress oder emotionale Belastungen.
Für Frauen mit AD(H)S können sich die Symptome in solchen Phasen deutlich verstärken, sagt die schwedische Psychiaterin Lotta Borg Skoglund. Betroffene berichten dann häufiger von erhöhter Ablenkbarkeit, geringerer Stressresistenz, starker Emotionalität und vermehrten Schlafproblemen. Borg Skoglund ist auf die Behandlung von ADHS und ADS bei Mädchen und Frauen spezialisiert und hat dem Thema ein Buch gewidmet.
Damit verständlich wird, warum Hormone wie Östrogen AD(H)S-Symptome beeinflussen können, lohnt sich ein Blick auf Dopamin. Dieser Neurotransmitter hilft dabei, Aufmerksamkeit zu steuern, Motivation aufrechtzuerhalten und Gefühle zu regulieren. Steht zu wenig Dopamin zur Verfügung, fällt es schwerer, sich zu konzentrieren, innere Anspannung zu kontrollieren oder Aufgaben bis zum Ende durchzuhalten.
Bei Menschen mit ADHS ist dieses Dopamin-System verändert. Fachleute gehen davon aus, dass Dopamin im Gehirn weniger wirksam zur Verfügung steht – nicht unbedingt, weil es gar nicht vorhanden ist, sondern weil es schneller wieder abgebaut oder nicht ausreichend genutzt wird. Das kann erklären, warum Betroffene oft impulsiv reagieren, sich leicht ablenken lassen oder emotional stärker schwanken.
Um diesen Mangel auszugleichen, erhalten ADHS-Patientinnen häufig Medikamente. Sie erhöhen die Verfügbarkeit der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin im Gehirn und können so Konzentration, Antrieb und emotionale Stabilität verbessern. "Dopamin trägt dazu bei, viele unserer alltäglichen Verhaltensweisen, aber auch einige der problematischeren zu steuern. Durch die Ausschüttung von Dopamin erleben wir Gefühle von Energie und Freude", erklärt Borg Skoglund. Es wirkt motivierend und sorgt dafür, dass Menschen Aufgaben beginnen und auch dabeibleiben.
An dieser Stelle kommen die Hormone ins Spiel: Östrogen beeinflusst den Dopamin-Haushalt im Gehirn auf mehreren Ebenen. Es kann die Produktion des Neurotransmitters anregen, dessen Freisetzung fördern und den Abbau verlangsamen. "Östrogen ist ein wahrer Dopamin-Booster", sagt Matthias Rudolph, Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie mit Praxis im rheinland-pfälzischen Boppard. Sinkt der Östrogenspiegel, steht entsprechend oft weniger Dopamin zur Verfügung – was sich bei Frauen mit AD(H)S besonders deutlich bemerkbar machen kann.
Das zeigt sich besonders im monatlichen Zyklus. In der ersten Zyklushälfte dominiert Östrogen und unterstützt unter anderem die Dopaminproduktion im Gehirn. In der zweiten Zyklushälfte sinkt der Östrogenspiegel, während Progesteron ansteigt – das hormonelle Gleichgewicht verändert sich, und dem Gehirn steht häufig weniger Dopamin zur Verfügung. Viele Frauen reagieren in dieser Phase empfindlicher und haben mehr Schwierigkeiten, ihren Alltag zu strukturieren.
Und es begünstigt das Prämenstruelle Syndrom (PMS), zu dessen Symptomen Reizbarkeit, Angstzustände, depressive Verstimmungen, Brustspannen und -schmerzen sowie Kopfschmerzen gehören. Studien zeigen, dass Frauen mit AD(H)S deutlich häufiger unter PMS leiden als Frauen ohne die Störung – je nach Untersuchung ist fast jede zweite betroffen. Die Ärztin Astrid Neuy-Lobkowicz beschreibt es als "eine kleine Depression, die sich hormonbedingt jeden Monat wiederholt".
Bei einem Teil der Betroffenen fallen die Beschwerden jedoch deutlich stärker aus. Dann sprechen Fachleute von der Prämenstruellen dysphorischen Störung (PMDS), bei der besonders die psychischen Symptome die Lebensqualität und den Alltag beeinträchtigen. In der weiblichen Allgemeinbevölkerung sind drei bis acht Prozent betroffen; es gibt Hinweise darauf, dass ADHS-Betroffene auch hier ein höheres Risiko haben.
Um PMS oder PMDS zu behandeln, gibt es verschiedene Möglichkeiten. So empfiehlt Matthias Rudolph das Naturheilmittel Mönchspfeffer, das Symptome abmildern kann. Mediziner können aber auch etwa niedrig dosierte Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRI), also Medikamente, die man auch bei Depressionen oder Angststörungen nehmen würde, verordnen. Die Betroffenen nehmen das Mittel nur an den Tagen vor der Periode. Eine andere Option sei, das ADHS-Medikament in dieser Zeit um fünf bis zehn Milligramm höher zu dosieren.
Bei Frauen, die es vertragen, kommen auch hormonelle Präparate in Betracht. Etwa eine Verhütungspille, die durchgehend genommen wird, sodass es gar nicht zur Periode kommt und die zyklischen Schwankungen unterdrückt werden. Auch die Gabe eines Östrogen-Gels kann stabilisierend wirken.
Wichtig ist in jedem Fall, dass Behandler sich eng abstimmen.
In der Schwangerschaft steigen die Östrogenspiegel stark an. Für Frauen mit AD(H)S kann das zu einer Veränderung ihrer Symptome führen. Ob ADHS-Medikamente reduziert oder pausiert werden können, sollte individuell nach Nutzen-Risiko-Abwägung mit der behandelnden Ärztin oder dem Arzt entschieden werden.
Gleichzeitig, so schreibt Borg Skoglund, berichteten schwangere Frauen mit AD(H)S häufig, dass sie sich in ihrem Körper unwohl fühlen, sich Sorgen über die Geburt machen und von Selbstzweifeln angesichts der Mutterschaft geplagt werden.
Fachleute raten deshalb dazu, Frauen mit AD(H)S während Schwangerschaft und Wochenbett besonders eng zu begleiten – etwa durch frühzeitiges Screening, eine engere Betreuung durch Hebammen und eine gute Vernetzung mit ärztlichen Ansprechpersonen.
Mit der Geburt sinkt das Östrogen dann stark ab, depressive Stimmungen nehmen zu. Studien legen nahe, dass auch die Rate an postpartalen Depressionen unter Frauen mit ADHS erhöht ist. Matthias Rudolph zufolge liegt sie für Frauen in der Allgemeinbevölkerung bei 10 bis 20 Prozent, bei Frauen mit AD(H)S in einigen Studien bei 60 Prozent.
Hinzu kommt: Untersuchungen haben gezeigt, dass ADHS familiär gehäuft auftritt. Sie kann demnach von Eltern vererbt werden. Das kann unter Umständen bedeuten, dass stresssensible Eltern ein Baby haben, das Regulationsstörungen zeigt und zum Beispiel viel schreit. Facharzt Matthias Rudolph rät dazu, sich in solchen Fällen zum Beispiel an Pro Familia zu wenden und mit der Hebamme und der Krankenkasse zu sprechen, damit die Eltern länger betreut werden und Hilfe erhalten.
Bei vielen Frauen wird AD(H)S erst mit der (Peri-)Menopause diagnostiziert, also rund um die sogenannten Wechseljahre. Mit der Perimenopause verändert sich das Zusammenspiel der Hormone: Progesteron wird weniger oder gar nicht mehr produziert, gleichzeitig schwankt auch der Östrogenspiegel stark. Das wirkt sich unter anderem darauf aus, wie viel Serotonin und Dopamin im Gehirn verfügbar sind – also Botenstoffe, die für Stimmung, Motivation und emotionale Stabilität wichtig sind.
Der unstete Hormonspiegel kann dadurch stärkere Stimmungsschwankungen sowie Probleme bei emotionaler Regulierung und Stresstoleranz begünstigen. Einige Frauen berichten Borg Skoglund zufolge in der Menopause von AD(H)S-Symptomen, die sie zuvor noch nie erlebt hatten.
"Bei ihnen gilt es, unter Abwägung möglicher Kontraindikationen, die Einleitung einer Hormonersatztherapie besonders gründlich zu prüfen", sagt Rudolph. Wichtig für Frauen mit AD(H)S ist dem Mediziner zufolge eine intensive Zusammenarbeit zwischen behandelnden Fachpersonen, also etwa Gynäkologin, Therapeut und Hausarzt. Neben Medikamenten kann Bewegung helfen oder Sportarten, die mit Entspannungsverfahren kombiniert werden wie Tai Chi, Yoga und Qigong.
"Strategien im Alltag wie feste Routinen, ausreichend Schlaf, regelmäßige Bewegung, gesunde Ernährung und strukturierte Planung, sind in hormonell turbulenten Phasen besonders wichtig", sagt Borg Skoglund. Auch Selbsthilfegruppen und Psychoedukation könnten hilfreich sein.
BERLIN - DEUTSCHLAND: FOTO: APA/APA/dpa/gms/Zacharie Scheurer/Zacharie Scheurer
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