Willkommen in der neuen Wirklichkeit

Die Straßenbahn kommt nur noch alle 15 Minuten. Das ist ärgerlich, aber künftig unser geringstes Problem mit Blick auf den Fach-und Arbeitskräftemangel.

von Kathrin Gulnerits © Bild: News/Matt Observe

Machen wir uns nichts vor. Es ist vorbei. Das bequeme, gut funktionierende Leben, als die Straßenbahn in Wien im Dreiminutentakt vorfuhr, der nächste Arzttermin in greifbarer Nähe lag und das Hotelzimmer am Ferienort schon nach der Rückkehr vom Frühstücksbuffet aufgeräumt war, ist eine Erzählung aus längst vergangenen Zeiten. Jetzt heißt es warten. Auf Zimmermädchen, Bus und Straßenbahn. Und Anstehen um 5.30 Uhr, um etwa einen Termin bei einem (raren) Kassenarzt für das heurige Jahr zu ergattern, wie zuletzt Bilder aus Lienz zeigten. Man sei bemüht, eine Lösung zu finden, heißt es hierzu seitens der Österreichischen Gesundheitskasse. Man sei bemüht, eine Lösung zu finden, heißt es auch bei den Wiener Linien -und man stellt Verbesserungen für den Herbst in Aussicht. Hotel-und Gastronomiebetriebe versprechen hingegen schon lange nichts mehr. Sie waren die Ersten, die personell am Anschlag unterwegs waren.

Viele Berufsgruppen sind ihnen gefolgt. Es werden eher mehr als weniger: Ärzte, Pfleger, Lehrer, Handwerker Eine Lösung ist nicht in Sicht. Schon gar nicht zeitnah. Wer das Gegenteil verspricht, hat den Ernst der Lage nicht erkannt. Denn so groß der Fach-und Arbeitskräftemangel in der Wirtschaft heute schon ist, er wird sich künftig noch verschärfen. Die sogenannten Babyboomer gehen jetzt erst nach und nach in Pension. Ihnen folgen schwächere Jahrgänge auf dem Arbeitsmarkt. Was derzeit hier und da noch ein Ärgernis ist, ist nur das Warm-up für ein dauerhaftes Problem. Die demografische Entwicklung ist festgezurrt, wird in den kommenden zehn Jahren ihre volle Wucht entfalten und an der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen und dem Wohlstand des Landes kratzen. Wir hätten es sehen können. Wir wollten es in Zeiten eines Überangebots am Arbeitskräftemarkt, als man sich um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht viel scherte, nicht sehen. Die Rechnung bekommen wir gerade präsentiert. Dass viele zu all dem flexibler, vielleicht auch weniger, jedenfalls anders arbeiten wollen, erschwert die Sache obendrein.

»Die demografische Entwicklung wird ihre volle Wucht erst entfalten«

Lösungen zur Aufrechterhaltung des Arbeitskräftepotenzials muss die Politik liefern. Sie liegen längst auf dem Tisch. Doch wer traut sich, etwa den großen Hebel in Hinblick auf Zuwanderung umzulegen? Wer dreht an der Stellschraube Pensionseintrittsalter, wohl wissend, dass in Österreich die Erwerbsbeteiligung Älterer schon vor dem gesetzlichen Pensionsantrittsalter deutlich sinkt? "Die ganze Mentalität, dass man über 60-Jährige zum alten Eisen packt, die können wir uns ökonomisch nicht mehr leisten", erkannte gerade der deutsche Arbeitsminister. Hierzulande überwiegt das Schweigen. Immerhin soll in Hinblick auf die Erwerbsbeteiligung von Frauen jetzt (und einmal mehr) der "Turbo" beim Ausbau der Kinderbetreuung angeworfen werden. Das verspricht nicht die Politik, aber es forderten gerade die Sozialpartner bei einem eigens einberufenen Kinderbetreuungsgipfel. Doch die Antwort, woher das dafür erforderliche Kindergartenpersonal kommen soll, blieben auch sie schuldig.

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