Vermisst

Amina Diallo war 16 Jahre alt, als sie aus dem Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen spurlos verschwand. Ihr Schicksal steht exemplarisch für Tausende minderjährige Flüchtlinge, die jedes Jahr in Österreich vermisst werden. Eine Spurensuche.

von traiskirchen © Bild: imago images/viennaslide

Auf den Berggipfeln liegt der erste Schnee. Unten, in der Talsohle, liegt ruhig und düster der Fuschlsee. Von seinem sommerlichen Türkis ist nichts mehr übrig. Das Wasser schimmert dunkel, bis es in das Smaragd der Fichtenwälder übergeht. Auf einer Anhöhe, mit Blick auf dieses Panorama, arbeitet der Demi Chef de Partie in der Küche eines Luxushotels. Er schneidet das Gemüse, schält Kartoffeln, richtet die Salate an. Als es Abend wird im Salzkammergut, hat Ibrahim Diallo Dienstschluss. Der 24-Jährige zieht seine orangefarbene Winterjacke über sein Kochgewand und betritt die Kantine des Hotels. An diesem Novemberabend wird er noch nicht in seine Dienstunterkunft zurückkehren. Er trifft zwei News-Reporterinnen, um die Geschichte seiner Schwester zu erzählen. Eine Geschichte über Hoffnung und Angst und völlige Hilflosigkeit. Das ist die Geschichte von Amina Diallo. Spurlos verschwunden vor sechs Jahren aus dem Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen, Niederösterreich.

Jedes Jahr kommen hierzulande Tausende minderjährige Flüchtlinge an. Viele von ihnen überquerten das Meer zwischen Afrika und Europa ohne ihre Eltern, manche von ihnen wagen diese lebensgefährliche Reise ganz ohne irgendeinen Verwandten. Allein in diesem Jahr stellten von Jänner bis September 9.347 unbegleitete minderjährige Fremde, wie diese Kinder im Amtsdeutsch genannt werden, einen Asylantrag. Darunter 158 unter 14 Jahren, die ohne Mutter und Vater in Österreich ankamen. 30 von ihnen Mädchen. Ein Großteil der Kinder verschwand. Das belegen die Zahlen des Innenministeriums. Denn 7.713 dieser Asylverfahren wurden im selben Zeitraum wieder eingestellt. Die Anzahl von Kindern, die nachweislich einmal in Österreich ankamen und dann verschollen sind, steigt seit drei Jahren. Davor wurden diese Daten für Flüchtlingskinder nicht erhoben. Die Gründe für die Verfahrenseinstellungen kennt das Ministerium laut eigenen Angaben im Details nicht.

"Mit Abstand der Hauptgrund ist aber, dass sich Personen dem Asylverfahren entziehen", sagt Harald Sörös vom Innenministerium. Sie würden in andere Länder weiterreisen. Trifft das wirklich auf alle verschollenen Flüchtlingskinder zu und fahndet die österreichische Polizei überhaupt nach ihnen hier und im Ausland?

Die gefährliche Flucht nach Europa

Ibrahim Diallo sitzt auf einer Holzbank, die Ärmel seiner Winterjacke hat er weit über seine Handgelenke gezogen, obwohl es in der Kantine warm ist. Er spricht fließend Deutsch mit einem französischen Akzent. "Amina ist immer noch verschwunden, ich habe keinen Kontakt zu ihr", sagt er mit ruhiger Stimme. Ibrahim und Amina Diallo stammen aus Guinea, einem Staat in Westafrika, der an den Atlantik grenzt und der bis 1958 eine französische Kolonie war. Ibrahim sagt, dass die beiden in der Hauptstadt Conakry gemeinsam mit der Familie lebten. Was dort damals genau vorgefallen ist, will er nicht beantworten. Als Amina 16 Jahre wurde, habe sie die Idee gehabt, nach Europa abzuhauen. Es habe kein konkretes Zielland gegeben. Sie wollte nur so weit wie möglich weg von zu Hause. Ibrahim Diallo wollte seine Schwester begleiten. Im Herbst 2015 brachten Schlepper das Geschwisterpaar erst mit dem Bus nach Mali und von dort aus weiter nach Libyen. Wie eine halbe Million Menschen in dem Jahr 2015 kamen sie mit einem Flüchtlingsboot in Griechenland an. Zu Fuß liefen sie weiter durch Mazedonien, Serbien und Ungarn.

Das vermisste Mädchen Amina Diallo.
© privat Amina Diallo gilt seit 2016 als vermisst

Anfang November 2015 erreichten sie Österreich. "Als wir im Burgenland ankamen, war Amina krank und sie konnte nicht weitergehen", erzählt Ibrahim. Sie habe große Schmerzen gehabt. Deshalb seien die beiden zur Polizei gegangen. Noch in derselben Nacht brachte ein Auto der Exekutive Amina und Ibrahim Diallo ins Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen. Amina sei dort von einer Krankenschwester behandelt worden, habe anschließend öfter einen Arzt aufsuchen müssen. In den folgenden zwei Monaten hätten die beiden zusammen in einem Familiengebäude gelebt. Amina sei damals körperlich schwach gewesen. Ibrahim hätte im Quartier als Hilfskoch gearbeitet. Im Jänner 2016, so schildert es Ibrahim, habe er innerhalb des Zentrums die Unterkunft wechseln müssen. "Ich zog zu den Männern, aber ich habe Amina regelmäßig besucht", sagt er. Ihr Verhältnis beschreibt er als eng. Amina sei gegenüber anderen Menschen schüchtern gewesen. "Aber wir konnten immer über alles reden."

Dann kam der 19. Jänner 2016, der Tag, an dem Amina verschwand. "Ich war in der Küche und musste die Speisen anrichten. Amina besuchte mich, sie sagte, dass wir reden müssen." Ibrahim habe geantwortet, dass er in 20 Minuten mit der Arbeit fertig sei. Ihm sei sie völlig normal vorgekommen. Es habe keine Anzeichen für das gegeben, was dann geschah.

15 Prozent verschwinden spurlos

Am nördlichen Stadtrand von Salzburg befindet sich die Kinder- und Jugendanwaltschaft (kija). Seit knapp 30 Jahren arbeitet hier Andrea Holz-Dahrenstaedt, und in dieser Zeit hat sie vielen in-und ausländischen Kindern im Bundesland geholfen. Auch Ibrahim Diallo hat die Anwältin bei der Suche nach seiner Schwester unterstützt. "Er saß damals in meinem Büro und so, wie er die Geschichte schilderte, lag die Vermutung nahe, dass Amina nicht freiwillig verschwunden ist", sagt Andrea Holz-Dahrenstaedt. Sie kennt die Zahlen des Innenministeriums und weiß, dass viele nur auf der Durchreise in Österreich sind, aber 15 Prozent der verschwundenen Flüchtlingskinder würde man niemals wiederfinden. "Dass Kinder, die verschwinden, Opfer von Menschenhandel oder zur Prostitution gezwungen werden, das weiß man ja. Auch in Österreich. Um diese Kinder machen wir uns Sorgen", sagt Andrea Holz-Dahrenstaedt. Besonders kritisch sieht sie die Arbeit von Journalisten und Polizisten. "Stellen Sie sich vor, dass fünf österreichische Schulklassen verschwinden. Da gäbe es eine helle Aufregung mit Fahndungsfotos und medialer Aufmerksamkeit", sagt die Anwältin. Aber bei geflüchteten Minderjährigen, die abgängig sind, sei die gängige Antwort, dass man nichts machen könne.

Die Geschichte von Amina habe sie damals besonders berührt, weil sie es für unwahrscheinlich gehalten hat, dass sich ein Geschwisterpaar freiwillig trennt, nachdem es die gesamte Flucht gemeinsam gemeistert hatte. Aus diesem Grund postete sie am 23. Mai 2016 das Foto von Amina auf der Facebook-Seite der kija.

Die Suche nach Amina in Österreich

Als Ibrahim Diallo am 19. Jänner 2016 Feierabend in Traiskirchen machte, habe er mehrmals Aminas Handynummer gewählt, aber niemand hob ab. Er sei zum Familiengebäude gelaufen und habe die Betreuer nach seiner Schwester gefragt. Sie hätten geantwortet, dass Amina beim Arzt gewesen und von dort noch nicht zurückgekehrt sei. "Ich weiß aber, dass sie nach diesem Termin bei mir in der Küche war", sagt Ibrahim. Er habe bis zum Abend gewartet, sie immer wieder angerufen. Schließlich sei er zur Polizei gegangen. "Dort versuchte ich, zu beschreiben, was passiert war", sagt Ibrahim. Die Polizisten hätten das zu Protokoll genommen und versprochen, sich zu melden, falls sie Amina finden würden.

Im März 2016 erhielt Ibrahim Diallo die sogenannte weiße Karte. Für die Dauer des Asylverfahrens hatte er damit ein Aufenthaltsrecht, deshalb musste er die Unterkunft wechseln. Erst sei er nach Klosterneuburg gebracht worden, dann ins Salzkammergut. Im Frühling 2016 habe er im Deutschkurs einer Betreuerin von Aminas Verschwinden berichtet. Sie vermittelte ihn an die kija in Salzburg, und die organisierte ihm Medienauftritte bei ORF und Puls 4. Er gab Interviews und bat öffentlich um Hilfe. "Ich habe fast alles versucht, aber ich kenne mich nicht aus. Ich kenne hier niemanden und bin ganz alleine. Es ist ein bisschen schwierig für mich, meine Schwester zu finden", sagt Ibrahim Diallo.

Vermisstenfahnder im Einsatz

Im Bundeskriminalamt in Wien sitzt Stefan Mayer vor seinem Computer. Hinter ihm hängt eine Weltkarte, vor ihm auf dem Schreibtisch liegt die Vermisstenmeldung von Interpol, Aktenzeichen: 2016/57135, Status: gelb. Dabei handelt es sich um ein internationales Ersuchen um Unterstützung bei der Suche nach einer vermissten Person. Das interne Dokument gehört zur Vermisstenmeldung von Amina Diallo und ist im Informationssystem bis heute gespeichert. Drei Fotos von ihr und die Fingerabdrücke sind darauf zu sehen. Sie ist ein dunkelhäutiges Mädchen. Die Haare eng zusammengenommen, nur eine Strähne steht ab. Stefan Mayer, der Leiter des Kompetenzzentrums für abgängige Personen, hat ihren Fall nicht persönlich behandelt, aber er kennt die Hintergründe.

Amina sei damals von einer Mitarbeiterin des Erstaufnahmezentrums in Traiskirchen als vermisst gemeldet worden. Dass eine Betreuungsperson einer Organisation die Anzeige stellt, sei häufig der Fall, wenn ein Flüchtlingskind abgängig ist. Aminas Bruder sei befragt worden. Es habe keine Hinweise auf ein kriminelles Delikt oder auf einen Entführungsfall gegeben. Und ihre Kleidung samt Papieren sei nicht mehr in Traiskirchen gefunden worden. Auch den Arzt, bei dem Amina Diallo in Behandlung gewesen sein soll, hätten die Ermittler ausfindig machen können. Aber da sei sie niemals gewesen, bestätigt das Landeskriminalamt Niederösterreich, das für den Fall zuständig ist. Es habe danach verstärkt Kontrollen im Rotlichtbereich gegeben, aber Amina blieb verschwunden.

"Standardmäßig wird die vermisste Person im elektronischen Fahndungssystem gespeichert und ist damit sofort international abrufbar", sagt Stefan Mayer. Dass es von Amina Fotos mit Fingerabdrücken im System gibt, sei nicht selbstverständlich, sagt der Polizist. In diesem Fall liege es daran, dass Amina Diallo noch vor ihrem Verschwinden erkennungsdienstlich behandelt wurde. Ein Problem sei häufig, dass die Ermittler die Identitäten der Flüchtlinge oft nicht eindeutig klären können. Von vielen würden die Angaben nicht stimmen. Stefan Mayer glaubt nicht, dass es daran liege, dass die Geflüchteten absichtlich falsche Namen angeben. Problematisch seien oft Verständigungsschwierigkeiten und verschiedene Schreibweisen. Die Geflüchteten hätten nicht alle Papiere dabei, um sich auszuweisen. Manche könnten weder schreiben noch lesen. Noch ein Problem: Die Polizei darf nicht immer mit den Fotos von Minderjährigen öffentlich fahnden. So wie in Aminas Fall. "Das geht nur, wenn die obsorgeberechtigte Person dem zustimmt", sagt Mayer. Diese Zustimmung liege aber häufig nicht vor.

Wie viele minderjährige Flüchtlinge in Österreich tatsächlich wie Amina verschwunden sind, scheint schwierig zu beantworten zu sein. Offiziell vermisst gemeldet wurden bei der Polizei in diesem Jahr 2.300 minderjährige Fremde. Dass das nicht alle sein können, zeigt die Differenz zu der Zahl der Verfahrenseinstellungen, die das Innenministerium nennt. 1.994 von den offiziell vermissten minderjährigen Fremden habe die Polizei heuer wiedergefunden, weil es - wie bei Amina -Fingerabdrücke im System gab, die abgeglichen werden konnten. Das bedeutet, auch Amina Diallo würde gefunden werden, wenn sie in Europa um Asyl ansucht.

Zu wenig Hilfe für Flüchtlingskinder

Die kija sowie mehrere NGOs schlagen längst Alarm und fordern von der Politik Lösungen. Die Gründe, warum die meisten Kinder seit Jahren freiwillig untertauchten, seien die schlechten Bedingungen, die sie hierzulande vorfinden würden, so lautet die einstimmige Meinung der kija, der Asylkoordination Österreich, von Amnesty International und der Diakonie. "Wir fordern schon lange eine Vier-Punkte-Liste", sagt die Anwältin Andrea Holz-Dahrenstaedt. Zum einen seien die Erstaufnahmezentren nicht kindgerecht. "Es bräuchte in jedem Bundesland mehrere Ankommensstellen, wo ein vertrauensvolles Setting geschaffen werden kann." Nur so könnte man die Kinder erreichen und über ihre Möglichkeiten informieren. Außerdem gäbe es zu wenige Angebote für minderjährige Geflüchtete. Die Tagessätze für diese Kinder würden seit Jahren nicht mal die Hälfte der Sätze ausmachen, die Kinder in der Jugendhilfe bekämen. Die Diakonie musste deshalb in den vergangenen Jahren mehrere Einrichtungen schließen. "Die Tagsätze wurden seit 2016 nicht an die Inflation angepasst", sagt Christoph Riedl, von der Diakonie.

Und dann gäbe es noch das Problem mit der Obsorge. Die ist für geflüchtete Kinder bisher nicht geklärt, obwohl Justizministerin Alma Zadic bereits Anfang Mai dafür einen Gesetzesvorschlag eingebracht hat. Wenn es eine geregelte Obsorge für diese Kinder gäbe, könnte Vermisstenfahnder Stefan Mayer zum Beispiel mit deren Einwilligung nach den Abgängigen offiziell suchen. "Wir fordern schon lange, dass die Kinder-und Jugendhilfe ab dem ersten Tag ihres Ankommens in Österreich zuständig ist, aber das wird immer auf die lange Bank geschoben", sagt Holz-Dahrenstaedt. Auch ein Verfahrensbeistand, wie ihn österreichische Kinder haben, deren Eltern um die Obsorge streiten, würde geflüchteten Kindern beim Asylverfahren helfen. All das passiere derzeit nicht - deswegen würden so viele Kinder allein illegal in Europa umherziehen auf der Suche nach Familie, Freunden und besseren Lebensbedingungen. Das sei fahrlässig, sagt Stephan Handl von Amnesty International. "Der Staat Österreich kommt seiner Schutzpflicht zur Prävention von Menschenhandel nicht nach."

Das Versagen des Asylsystems

An einem Novembermorgen steht Jutta Lang vor dem Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen. Seit 2015 kümmert sie sich ehrenamtlich um minderjährige Geflüchtete. Oft wartet sie hier mit einem Schild in der Hand, darauf macht sie Werbung für den "Garten der Begegnung". Ein Ort, an dem sich jeden Samstag Geflüchtete und Ehrenamtliche treffen, um vor allem geflohenen Kindern ein Stück Zuhause geben zu können. Die Buben und Mädchen dort nennen die 66-Jährige oft "Mama". Sie ist für viele die engste Bezugsperson. Es sei kein Geheimnis, dass einige Kinder auf Schlepper warten, sagt Jutta Lang. "Die meisten geben offen zu, dass sie weiterziehen wollen." Viele hätten Angehörige in anderen Ländern und wüssten nicht, wie sie zu ihnen gelangen sollen. Legal ist das auch meist nicht. Eine Familienzusammenführung gibt es nur für Eltern und deren Kinder. Nicht unter Geschwistern. Jutta Lang erzählt von der Geschichte eines elfjährigen Flüchtlings. Der Bub sei in Österreich angekommen, sein älterer Bruder schaffte es bis Bayern. "Die zuständige Betreuerin hat dem Buben illegal einen Schlepper nach München organisiert." Solche Fälle würden zeigen, dass das Asylsystem in Europa versagt.

Im Salzkammergut am Fuschlsee ist es Nacht geworden. Ibrahim Diallo tritt aus dem Hotel, in dem er seine Ausbildung zum Koch im vergangenen Sommer absolviert hat. Er ist jetzt angestellt und hat aus diesem Grund eine Aufenthaltsgenehmigung für die kommenden zwei Jahre. Er träumt davon, irgendwann ein eigenes Restaurant in Österreich zu eröffnen. Im Gehen dreht er sich ein letztes Mal um und sagt mit fester Stimme: "Irgendwann, da werde ich Amina wiederfinden. Ich weiß das einfach."

Wer Informationen über Amina hat, kann sich auch anonym an folgende Adressen wenden: Bundeskriminalamt: spoc@bmi.gv.at Kinder-und Jugendanwaltschaft Salzburg: kija@salzburg.gv.at

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 48/2022.