Wenn die Schamgrenzen fallen

Als Gestalterin exzessiver Frauenfiguren verkörpert Sunnyi Melles einsames Format. Am Burgtheater sang sie zur Life-Ball-Gala von Gier, echter und käuflicher Liebe. Ein News-Gespräch über Verfallenheit und Tod

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Life Ball - Wenn die Schamgrenzen fallen © Bild: Ernst Kainerstorfer News

Auf den ersten Blick nimmt sich das Projekt Life Ball zusehends realitätsferner aus: Kann man dem Egoismus, der Hoffnungslosigkeit, der wieder gegenwärtigen Angst um das Leben mit einem Fest der Freude, der Liebe, der Lust und der Toleranz begegnen? Zudem scheint die Seuche Aids, deren Bekämpfung sich der Gründer Gery Keszler vor 25 Jahren verschrieben hat, soweit im Griff und jedenfalls nicht das Problem der Stunde. In dieser Situation kehrt die Schauspielerin Sunnyi Melles für einen Abend ans Burgtheater zurück, um im Rahmen der Life-Ball-Gala eines der berühmtesten Lieder von Bert Brecht und Kurt Weill zu singen: Der "Alabama Song" führt in die Netzestadt Mahagonny. Goldgräber, nach unmenschlichen Strapazen in Kälte und Wildnis ausgehungert vom Lebensentzug, sollen hier von der Lust-und Genussindustrie eingefangen werden, bis sie so arm sind wie zuvor. Den "Alabama Song" singen sechs Mädchen auf der Flucht: Kein anderer Weg ist ihnen geblieben, als sich in der Netzestadt zu prostituieren. Als Kontrast spricht Sunnyi Melles auf der hoch besetzten Gala eines der zartesten Liebesgedichte Brechts: Die "Terzinen über die Liebe" besingen einen Kranichzug, eine flüchtige Formation nur, aber im Flug einander ganz verfallen und damit für die kurze Zeit des Beisammenseins eine beinahe unüberwindliche Macht. Und da ist der Life Ball plötzlich zeitlos aktuell.

Heimatlos

Was also liegt näher, als mit der zarten und elementaren, ernsten und exzessiven, exzentrischen und zeitlos schönen Sunnyi Melles über die Liebe zu sprechen, über die Lieblosigkeit und Kälte der Zeit und über das Fremdsein, in dessen Epizentrum sie selbst aufgewachsen ist? "Die größte Kraft des Universums ist die Liebe", zitiert sie Albert Einstein, der seinerseits Kräfte ganz anderer Art freisetzte.

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In ihrer eigenen Kindheit war Liebe ein rares Gut: 1956, zwei Jahre vor der Geburt der Tochter, waren die Eltern aus dem kommunistischen Ungarn geflohen. Der Vater, der namhafte jüdische Dirigent Carl Melles, hatte zuvor schon vor den Nazis die Flucht ergreifen müssen. Die Tochter mit dem ungarischen (und nicht verbal zu amerikanisierenden) Vornamen kam 1958 in Luxemburg zur Welt. Zwei Jahre später trennten sich die Eltern. Sunnyi und ihr Bruder wuchsen bei der Mutter Judith von Rohonczy, einer Schauspielerin aus altem ungarischem Adel, in der Schweiz auf. Die Mutter, durch die Flucht schwer traumatisiert, sprach nie wieder ein Wort Ungarisch und verständigte sich mit den Kindern auf Französisch. Dafür wurden die ohne Muttersprache Aufgewachsenen zu Weltbürgern. "Ich war 15 Jahre staatenlos", sagt Sunnyi Melles. "Ich bin in Luxemburg geboren und habe bis zu meinem 16. Lebensjahr in der Schweiz ohne Pass gelebt."

Zwei Gesichter

Nach ihrer ersten Liebe befragt, nennt sie ohne Nachdenken ihren Ehemann, Peter Prinz zu Sayn-Wittgenstein-Sayn, den jüngeren Bruder des Familienoberhaupts Alexander Sayn-Wittgenstein. Sie hat ihn erst Anfang der Neunzigerjahre in Salzburg kennengelernt, da war sie schon jenseits der dreißig und spielte gerade die Buhlschaft im "Jedermann". "Als ich ihn sah, wollte ich von ihm Kinder", beschreibt sie die lebensverändernde Begegnung mit der deutschen Höchstaristokratie. "Vorher waren Kinder nie infrage gekommen, der Beruf ging immer vor. Aber dann konnte es gar nicht anders sein. Es war nicht zu ändern."

Seither bringt sie zwei für unvereinbar gehaltene Existenzen zur Einheit: Nicht ohne Branchen-interne Schmunzelbegleitung führt Sunnyi Melles, die als Darstellerin exhibitionistischer Hysterikerinnen Maßstäbe setzte, in ihrer Korrespondenz den Namen Judith-Viktoria Prinzessin zu Sayn-Wittgenstein-Sayn. Der Sohn ist 22 und DJ, die 20-jährige Tochter, polyglott wie die Mutter, setzt erste Schritte zur Schauspielkarriere jenseits des Sprachraums. Sie wurden zu Werten erzogen, die Sunnyi Melles' ganzes Leben bestimmten: den anderen zu akzeptieren, aber kein Opportunist zu sein. "Es jedem recht machen zu wollen, ist schlimm. Man muss Haltung zeigen und sich bewusst sein, dass man dafür nicht nur geliebt wird."

Eros als treibende Kraft

"Wenn Sunnyi die Orgel anstellt, werden die wahnsinnigsten Figuren glaubhaft, weil man ihr den Wahnsinn glaubt. Sie ist eine Schauspielerin, die immer alles glauben muss, was sie tut", charakterisiert der frühere Burgtheaterdirektor Matthias Hartmann, der sie für Stücke von Thomas Bernhard, Woody Allen und Jean Racine nach 26 Jahren an die "Burg" zurückholte. Zuletzt war sie dort als Schauspielschülerin in Hans Lietzaus "Othello"-Inszenierung aufgetreten, nun nahm sie das Haus mit beeindruckendem Resultat zum zweiten Mal in Besitz: Das Publikum warf sich der Heimgekehrten förmlich zu Füßen, bis Hartmann im Frühjahr 2014 unfreiwillig demissionierte, worauf der publikumsmagnetische Spätzugang nicht mehr beschäftigt wurde.

"Es ist wie Heimkommen", kommentiert die Schauspielerin, die mit dem großen Theatermann Dieter Dorn an beiden bedeutenden Münchner Sprechbühnen Geschichte schrieb, das aktuelle Kürzestgastspiel. "Ich vermisse das Burgtheater sehr, aber es ist auch gut, wenn man sich bewusst macht, dass es etwas wie Sehnsucht gibt."

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»Man denkt täglich an Liebe und Sex, aber es selbst zu spielen, ist sehr schwer«

Auch beruflich verkörpert sie diese seltsame, nur scheinbar unüberbrückbare Doppelexistenz. Schon als Zehnjährige hatte sie in Basel Theater gespielt, als Zwölfjährige an einer Verfilmung von Hermann Hesses "Steppenwolf" mit Max von Sydow mitgewirkt. Die aktuelle Liste von Kino-und Fernsehauftritten umfasst 68 Posten, nicht zu reden von den Auftritten an einigen der reputierlichsten Bühnen des Sprachraums. "Eros und Humor", sagt sie, seien dabei stets die Haupttriebkräfte. Als sie, fast eine Anfängerin, mit dem gleichfalls jungen Tobias Moretti in München Shakespeares "Troilus und Cressida" spielte, war das Knistern vernehmlich. Sunnyi Melles, die stets in Schwarz (alternativ: Jeansblau) und Rosarot gekleidete Kunstfigur, ist enormer Selbstentäußerung fähig. Was sie in Racines "Phèdre" an rasender Geilheit zu mobilisieren verstand, war ohnegleichen.

Aber sie hat sich dem Publikum noch nie nackt gezeigt, obwohl das heute schon beinahe Standard ist. "Man denkt täglich an Liebe und Sex, aber es selbst zu spielen, ist sehr schwer."

Schamgrenzen fallen

So drehte sie kürzlich, wiewohl kein Teenager mehr, in der Schweiz mit der Regisseurin Güzin Kar den TV-Achtteiler "Seitentriebe". Nicht unähnlich den "Vorstadtweibern", geht es da um eine Frau, gut verheiratet und von keinen bedrängenden Lebensunzukömmlichkeiten heimgesucht, die sich im Café zwecks unverhüllter Triebbefriedigung junge Männer aufreißt. Sie habe sich bei den sehr expliziten Szenen mit allerhand maskentechnischen Hilfsmitteln zugeklebt, sagt sie. "Sonst hätte ich nicht frei sein können. Ich habe da meine Schamgrenze und bewundere und beneide Romy Schneider, Isabelle Adjani oder Isabelle Huppert, die diese Schamgrenze nicht hatten." Nun aber, wenn die sommerlichen Dreharbeiten zur Komödie "Grüner wird's nicht" mit Ulrich Tukur vorbei sind, könnte es ernst werden. Da könnte ein Film anstehen, in dem es ans Existenzielle, ans buchstäblich nackte Überleben geht. Dann, sagt Sunnyi Melles, könnten endlich alle Grenzen fallen.

Liebe und Tod

Vor einem Jahr brach eine Katastrophe verheerenden Ausmaßes über die Familie herein: Der erfolgreich im Marketing tätige Peter von Wittgenstein wurde nach einem harmlosen Eingriff von einem Krankenhauskeim an den Rand des Todes gebracht. Nach vier Monaten auf der Intensivstation liegt er jetzt, notdürftig rekonvaleszent, zu Hause, ist aber von der Ausübung des Brotberufs weit entfernt.

"Man ist hilflos", sagt Sunnyi Melles. "Das Wichtigste ist: keinen Hass entstehen zu lassen, weder auf den Arzt noch auf das Krankenhaus. Man muss den Schmerz annehmen und Strategien für das Leben finden, und die Kinder haben mir sehr geholfen. Es ist nämlich so", fährt sie schlicht fort, "ich liebe meinen Mann. Wenn es einem so schlecht geht, merkt man erst, wie sehr man liebt. Manches am anderen regt einen auf, aber wieder nur, weil man ihn so liebt. Die Liebe verbraucht viel Energie, und sie ist nicht immer schön. Aber sie gibt auch Kraft, und selbst die Sorgen, die man sich macht, sind Liebe. Ich danke jeden Tag dafür, dass ich meinen Mann noch liebe."

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So sind ihr der Tod und seine Überwindung unerwartet nahegerückt, und der Life Ball wurde zum Anliegen, um dessen willen sie ohne Spesenersatz mehrfach aus München zu den Proben in Wien pendelt. Tochter Leonille musste vor der Matura an einem Münchner Gymnasium von Gesetzes wegen gemeinnützige Arbeit leisten. Sie entschied sich für ein sechs Wochen dauerndes Projekt mit aidskranken Kindern in Tansania und brachte Geschichten mit, die der Mutter nicht mehr aus dem Kopf gingen. Es war klar, dass die Hälfte der Kinder und Jugendlichen die nächsten vier bis fünf Jahre nicht überleben würden. Auch die deutschen Mädchen mussten sich vorsehen, um sich nicht zu verletzen und selbst infiziert zu werden. Aber nach einer Stunde gab es kein gegenseitiges Fremdsein mehr, und die Beklommenheit wich dem überwältigenden Gefühl des Gebrauchtwerdens.

»Wenn jemand ein Kopftuch tragen muss, sollten es zur Abwechslung die Männer sein«

Doch sieht Sunnyi Melles Aids auch als Metapher für ein noch größeres Problemfeld. "Der Tod steckt in uns allen", sagt sie. "Auch bei einem Konzert in Manchester, wo alle glücklich sind, ist er gegenwärtig, weil jemand den Frieden und die Lebenslust junger Menschen auslöscht. So ist es auch mit Aids: Wir sind dazu geboren, zu lieben und Sex zu haben. Aber wenn man am glücklichsten ist, ereilt einen ein Virus. Wir brauchen Liebe und Sex, wir brauchen auch Freudenhäuser und käufliche Liebe, aber über allem steht die Notwendigkeit der Aufklärung. Aufklärung ist der geistige Schutz, ergänzend zum präventiven und medikamentösen Schutz", leitet sie zum wieder unerwartet virulenten Problem der Religionen über. "Der Papst müsste die Verhütung propagieren und nicht verbieten. Und der Terrorismus ist eine andere Art von Virus, die einen befällt. Keiner ist geboren, um zu töten. Weder Gott noch Allah hat verfügt, Leben auszulöschen. Nirgendwo im Koran steht, dass man im Namen Gottes töten soll. Aber der Selbstmordattentäter von Manchester wurde von seinem Vater unterstützt."

Will Gegenüber sehen

Womit sie wieder beim bedrängenden Problem der Aufklärung angelangt ist. Die Qualität einer Religion erkenne man ganz von selbst an ihrem Umgang mit Frauen. "Dass eine Frau studieren darf, selbst entscheiden, welche Religion sie annehmen will, dass sie nach ihrer Fasson lebt und nicht fremdgesteuert ist, dass sie dieselben Rechte hat wie ein Mann. Ich möchte nicht in Form einer Verkleidung darüber informiert werden, welcher Religion jemand angehört. Das gilt ebenso für eine Nonne. Ich bekomme auch Angst, wenn ich die Augen meines Gegenübers nicht mehr genau sehen kann. Wenn schon jemand ein Kopftuch tragen muss, dann sollen es doch zur Abwechslung die Männer sein. Ich fände es den Versuch wert, meinem Mann zu sagen, er möge sich verhüllen, damit ihn keine anderen Frauen ansehen." Das Merkwürdigste ist, dass man es ihr zutraut.