Die letzten Wochen vor dem Zentralfriedhof

Mit Verwünschungen gegen das Nazi-durchseuchte Wien verlässt Martin Kusej die „Burg“. Ein neues Leben winkt im Menschenrechtsparadies Shanghai. Ein Aktionist wütete zuletzt noch vor leerem Haus

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

Jetzt ist es auch schon wieder fast vorbei mit der Burgtheaterdirektion Kusej und ihren rundum geglückten Anstrengungen, keine Ära zu werden. Der Kärntner demissioniert am 30. Juni, nach nur einer Amtszeit von fünf Jahren. Nur noch dem Direktor Gerhard Klingenberg (1971 bis 1976) wurde in der Zweiten Republik politischerseits ein solcher Blitzabgang zugemutet. Dem aber unverdient, wie sich mittlerweile herausgestellt hat. Wohingegen der Schmerz über Kusejs Verlust hochrechenbar keine 48 Jahre vorhalten wird.

Die letzte Produktion am großen Haus ist, mit Premierendatum 19. April, dem formidablen bayrischen Theateranarchisten Herbert Fritsch anvertraut und trägt den Titel „Zentralfriedhof“. Nun wollen wir so arg auch wieder nicht übertreiben: Zugegeben, das Haus ist leer. Zuletzt wurden 63,8 Prozent Auslastung errechnet, während die „Josefstadt“ öffentlich wehklagt, als Spätfolge der Pandemie nur noch 80 statt der vorherigen 90 Prozent zu erreichen. Aber erstens ist Publikumsakzeptanz nicht alles (wenn auch nicht nichts). Und zweitens übernimmt im September eine Art theatraler Notfallmediziner das Primariat: Der Schweizer Stefan Bachmann muss den Bühnenbetrieb in Köln seit Jahr und Tag in der Pampa improvisieren, weil sich die Renovierung des Theaters endlos verzögert. Aber das Publikum strömt ins entlegene Depot Mülheim. Da wollen wir es leichten Herzens unter den Zufällen ablegen, dass der Einundsiebziger im Gefolge einer Fahrplankorrektur jetzt auch direkt vor dem Burgtheater hält.

Was in den fünf Jahren Kusej herausragend gelungen ist, werde ich bis Juni recherchiert haben (wir lesen einander dann wieder, versprochen). Quantensprünge in welche Richtung immer konnte ich nicht ausmachen. Eigentlich erstmals seit Klingenberg, der Peymann, Strehler und Barrault verpflichtete; seit Benning mit Dieter Dorn, Hans Neuenfels, Elias Canetti und Vaclav Havel; seit dem keiner Elogen bedürftigen Epochemacher Peymann; dem klugen Bachler mit Luc Bondy und Andrea Breth; dem idealformatigen Publikumsfänger Matthias Hartmann mit Schimmelpfennig, Hermanis und Habjan; endlich Karin Bergmann, die Peymann und Breth zurückholte und bei Ferdinand Schmalz eine derart treffsichere „Jedermann“-Paraphrase in Auftrag gab, dass sich der Regisseur Stefan Bachmann nach Jahren der Abwesenheit mit den nunmehr geläufigen Konsequenzen in Erinnerung rufen konnte.

Bei Kusej fielen mir auf Anhieb vor allem seine wiederkehrenden Protestkundgebungen ein, wobei nicht immer zu ermitteln war, wogegen sie sich richteten. Eben hat der Direktor beim tüchtigen Vorarlberger Aktionskünstler Flatz eine (wenn ich Zeugen glauben darf) intellektuell etwas schlichte Installation in Auftrag gegeben. Wir haben da sinngemäß erfahren, dass sich die Nazi-Quote Wiens seit 1938 nur im Promillebereich verändert hat (eine undurchsichtige Rolle spielen hier offenbar die 40 Prozent Hauptstadtbewohner, die gar nicht in Österreich geboren wurden). Wir wollen Dominik Nepp doch nicht überschätzen, er reicht schon bei realistischer Einschätzung. Entsprechend verhalten gestaltete sich die Erbitterung im leeren Haus. Wenn ich mir da vergegenwärtige, wie Peymann und Bachler mit Aktionen von Muehl und Nitsch fundamentale Kunstdebatten aufgeworfen haben!

So hat mich in der Ära Kusej am vielleicht nachhaltigsten das aktuelle Spielzeitmotto „Aufwachen, bevor es wieder finster wird“ beschäftigt. Es ermöglicht doch einige Rückschlüsse. Ich zum Beispiel wache, wie auch meine Familie, in der kalten Jahreszeit auf, SOLANGE es NOCH finster IST. Die Töchter müssen in die Schule bzw. die Uni, meine Frau und ich arbeiten.

Auch bin ich im Kreise zahlreicher Burgtheaterbesucher mehrfach erst eingeschlafen, NACHDEM es im Zuschauerraum finster GEWORDEN WAR. Wie, so frage ich mich jetzt, ist es um den Kusej’schen Tagesablauf bestellt? Wann ist er z. B. während der Corona-Zeit aufgestanden? Ist er überhaupt? Damals, als er auf seinem Kärntner Ruheansitz ein Selbstbelobigungsbuch verfasste, während der Kollege von der Oper in Kooperation mit dem ORF Hunderttausende Zuseher an das Haus band? Mit seinen eigenen Abschiedsinszenierungen hat uns der Direktor schon Bescheid gestoßen. Auf Molières „Menschenfeind“ folgte „Orpheus steigt herab“, die Tragödie eines betörend singenden Heldenjünglings, Rächers der Enterbten und Trösters aller Frauen, den ein reaktionäres Südstaatenkaff mit Todesfolge stampert.

Jetzt nimmt der Heldenjüngling einen Lehrauftrag in Shanghai an, und wie betörend er dort auch immer zu singen gedenkt: Zu laut sollte es nicht sein, sonst haben wir ihn gleich am ersten Tag wieder, bevor es noch finster geworden ist.

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