Geben Sie Johannes Mario Simmel eine Chance!

Dass ein Schriftsteller, der 70 Millionen Exemplare seiner hochpolitischen Unterhaltungsromane verkauft hat, zum 100. Geburtstag derart vergessen sein kann, ist schwer vorstellbar, aber Tatsache

von Heinz Sichrovsky © Bild: NEWS

So in der Vergessenheit zu versinken: Das hat der kleine, gedrungene, auch in den guten Klamotten rätselhaft schlecht gekleidete Herr nicht verdient. Wenn ihn die Erregung packte, drängte es ihm die Worte in den Mund zurück. Dann versicherte er die Welt stotternd seiner Empörung: über das kalt kalkulierte soziale Elend, die Zerstörung der Natur zur Profitmaximierung, das Wettrüsten zwischen Ost und West, den Missbrauch der Gentechnik, die Gewissenlosigkeit der Hightech-Konzerne und immer die Nazipest, die zu benennen er nicht müde wurde. Oft habe ich während unserer Interviews in den Achtzigern heimlich über seine Bücher gelächelt: Solch eine weltpessimistische Dringlichkeit in den paradiesischen Zeiten nie endenden Wohlstands, Fortschritts und Friedens!

Heute würde ihm der Zustand der Welt wieder die Rede verschlagen. Das mehr als zwei Dutzend Unterhaltungsromane umfassende Werk des österreichischen Schriftstellers Johannes Mario Simmel (1924-2009) müsste nur noch kommentarlos wiederaufgelegt werden, und man würde ihm das zweite Gesicht attestieren wie dem alten Nostradamus. Oder mindestens dem heutigen Bestsellerkollegen Marc Elsberg, der auch viel vorausgesehen hat. Allerdings in wesentlich engeren Zeiträumen als der Altmeister, dessen Welterfolg aus den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren datierte, mit einem erstaunlichen Nachschlag in den Neunzigern, nur um dann rückstandslos zu versinken.

70 Millionen Exemplare seines Werks wurden in vielen Übersetzungen verkauft, dabei wissen die Wenigen, die ihn noch kennen, bis heute nicht, wo sie ihn einordnen sollen. Lang stand er als triviales Pendant zu Böll und Grass für die Literatur der Wiederaufbauzeit. Aber während der nicht minder gelesene und dann womöglich noch vergessenere Kollege Heinz G. Konsalik mit seinen Landserromanen das Kameradschaftsbündlersegment bediente, schrieb Simmel stets auch die eigene Geschichte in seine hoch dramatische Gefühls- und Beziehungsprosa ein. Der aus Preußen zugewanderte Vater war Jude und konnte nach England entkommen, während von den Verwandten kaum einer am Leben blieb. Nach dem Krieg ging der junge Simmel in den Journalismus. Kein Medienerzeugnis der deutschen Nachkriegszeit hat greller geleuchtet als die schnell verglühte Illustrierte „Quick“. In deren Dienste trat Simmel und wurde Teil einer scheinbar großen Welt, die damals, Jahrzehnte vor dem digitalen Zeitalter, eine kleine, sich selbst genügende war.

Und mittendrin der junge Simmel, der 1960 mit der Agentengeschichte „Es muss nicht immer Kaviar sein“ seinen ersten riesigen Erfolg einfuhr. Die Verfilmung mit O. W. Fischer und Senta Berger trug ihn noch höher hinauf, und alsbald befand er sich in einer Spannung, die ihn fast zerrissen hätte: Als antifaschistischer, antikapitalistischer Jet-Setter umgab er sich, nicht zum Besten aller Beteiligten, mit schönen Frauen, bezog die teuersten Hotels der Welt, brachte alles Verdiente durch und erschrieb sich das nächste Vermögen.

Die Kritik ignorierte ihn über die Jahrzehnte als Trivialisten, bis sich sein diesbezügliches Schicksal verblüffend wendete: Eventuell aus Langeweile, vielleicht auch, um ihn gegen andere auszuspielen, begannen ihn die Kritikerpäpste Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser quasi über Nacht jenseits aller Verhältnisse zu loben. Simmels Romane waren Ende der Achtzigerjahre immer umfangreicher geworden, auch die dickleibigen Anmerkungsteile machten die Lektüre nicht einfacher. Er schrieb gegen die Verbrechen der Genforschung („Doch mit den Clowns kamen die Tränen“) und der Umweltzerstörer („Im Frühling singt zum letzten Mal die Lerche“) und verschwand dann zügig aus der Wahrnehmung.

Ein Vermächtnis im Rang eines Schelmenstücks hinterließ er noch: In einem News-Interview bezichtigte er 1996 den FPÖ-Führer Jörg Haider „skrupelloser und mörderischer Hetze“ gegen Ausländer. Haider klagte, und Simmel wurde in einem Fallbeispiel grenzsalomonischer österreichischer Gerechtigkeit freigesprochen: Ihm sei wegen seiner Familiengeschichte berechtigte Erregung zuzubilligen. Aber es sei nichtsdestoweniger weiter untersagt, Haider skrupellose Hetze nachzusagen.

Wenn Sie mehr über den großen, vergessenen Schriftsteller wissen möchten, lesen Sie ihn doch einfach. Oder Sie sehen am 8. April (23.15) das vorzügliche Porträt, das ihm ORF 2 zum 100. Geburtstag zukommen lässt. Ich komme da auch zu Wort, und Sie können auch erfahren, wie das war, als Helmut Qualtinger den bezechten Jungstar im Morgengrauen auf die Pestsäule überredete, um dann gellend nach der Polizei zu verlangen.

Was meinen Sie? Schreiben Sie mir bitte: sichrovsky.heinz <AT> news.at

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