Das Recht auf den Tod

Janusz Korczak revolutionierte die Pädagogik

von Schlaglichter - Das Recht auf den Tod © Bild: imago images/VWPics

Vor 80 Jahren, im August 1942, entschied die NS-Führung des Warschauer Ghettos im Rahmen der Liquidierung des Lagers, 192 Kinder vom Waisenhaus in das Konzentrationslager Treblinka zu deportieren. Der Leiter des Waisenhauses, Janusz Korczak, Pädagoge, Arzt und Schriftsteller, dessen wissenschaftliche und literarische Werke weltweit bekannt waren, lehnte mehrere Angebote ab, sein Leben zu retten. Noch am Bahnhof erinnerte sich ein Wehrmachtsoffizier an die Kinderbücher von Korczak, die auch in Deutschland beliebt waren, und bot ihm Hilfe an. Korczak entschloss sich jedoch, gemeinsam mit seiner Kollegin Stefania Wilczynska die Kinder in das Konzentrationslager und bis in die Gaskammer zu begleiten.

Sein langjähriger Sekretär Igor Newerly schrieb in der nach dem Krieg erschienenen Biografie: "Bei meinem letzten Besuch im Ghetto hätte er mit mir gehen können, ich hatte noch einen gefälschten Passierschein. Er wollte nicht. Mehr noch, er war überrascht. Er hatte ganz einfach nicht von mir erwartet, dass ich ihm einen so nichtswürdigen Vorschlag unterbreiten würde - die Kinder angesichts des Todes im Stich zu lassen."

Kinderarzt

Unter dem Namen Henryk Goldszmit wurde Korczak 1878 als Sohn eines angesehnen Rechtsanwalts in Warschau geboren, wuchs in einer jüdisch assimilierten Familie auf, in der die Religion keine Rolle spielte, besuchte ein humanistisches Gymnasium und studierte Medizin. In Warschau, Berlin, London und Paris arbeitete er als Kinderarzt.

Seine Leidenschaft während dieser Jahre galt der Literatur. 1896 veröffentlichte er den ersten Roman unter dem Titel "Der Gordische Knoten". 1899 gewann er unter dem Pseudonym Janusz Korczak einen Literaturpreis und behielt diesen Namen. Zwei Jahre später schrieb er ein Buch über das Schicksal von Straßenkindern. Die Arbeit an diesem Buch veränderte sein Leben. Die Denk-und Lebensweise von Kindern faszinierte ihn, er schrieb pädagogische Werke und Beiträge in Zeitschriften, Kinder-und Jugendbücher und wurde weltweit bekannt als "Verteidiger der Rechte der Kinder".

1912 bot ihm die Stadtverwaltung von Warschau die Leitung des jüdischen Waisenhauses "Dom Sierot" an. Er sagte zu und gab den Arztberuf auf. Im Laufe der folgenden Jahre arbeitete Korczak an einem revolutionäres System des Zusammenlebens mit Kindern und motivierte sie, sich aktiv in den Alltag einzubringen. Er entwickelte die Antithese zur weit verbreiteten autoritären Erziehung, die sich auf Gehorsamkeit und Disziplin stützte, und schuf damit die Grundlage der viele Jahrzehnte später entwickelten antiautoritären Erziehungsmodelle. Reformpädagogen aus der ganzen Welt besuchten sein Waisenhaus.

Kinderrepublik

Sein wichtigstes pädagogisches Werk entstand während des Militärdienstes im Ersten Weltkrieg: "Wie man ein Kind lieben soll". Philosophie und Grundlage seiner Theorie steht am Anfang des Buches: "Ein Kind hat das Recht, zu wollen, zu mahnen, zu fordern, es hat das Recht, zu wachsen und zu reifen und wenn es reif geworden ist, Früchte zu bringen." Im Waisenhaus experimentierte er mit dem pädagogischen Modell einer "Kinderrepublik", in der Kinder mit den Erwachsenen gemeinsam regieren, mit einem Parlament, einem Gericht und einer Zeitung.

1918 veröffentlichte er die "Drei Grundrechte" für Kinder und nannte sie "Magna Charta Libertatis". Unter dem ersten, dem "Recht des Kindes auf den heutigen Tag" verstand Janusz Korczak das Recht auf eine eigene Gegenwart, die das Kind nach eigenen Vorstellungen gestalten könnte. Ein Kind sollte vor einer Entscheidung nicht überlegen müssen, ob Erwachsene es als richtig oder falsch bewerten würden.

Eltern müssten versuchen, Ideen und Bedürfnisse von Kindern zu akzeptieren, auch wenn sie nicht plausibel seien. Die Logik der Erwachsenen könne nicht auf Kinder übertragen werden. Sie würden anders denken, hätten andere Motive für Entscheidungen, und der Zwang zu Gehorsam störe ihre Entwicklung.

Das betreffe auch Berufs- und Partnerwunsch, wo Eltern öfters versuchen würden, eigene Fantasien und Wünsche über Kinder zu erleben. Ratschläge und Drohungen könnten Erfahrungen und Erlebnisse der Kinder nichts ersetzen.

Vorschriften

Das zweite Recht aus der "Magna Charta Libertatis" lautet: "Das Recht des Kindes auf seinen Tod". Korczak war Arzt und kannte die Probleme kranker und verletzter Kinder. Er wollte mit dieser provokanten Formulierung aufzeigen, dass ein Kind einen Körper besitze und über diesen frei verfügen könne, ein Recht habe, zu leben mit all den Gefahren des Lebens. Eltern sollten Kinder nicht einschränken, aus Angst, dass ihnen etwas zustoßen könnte. Sie reduzieren eine Kindheit mit Verboten, Vorschriften, oder kontrollierter Überorganisation. Diese Warnung hat eine aktuelle Bedeutung. Eltern bringen heute Kinder mit dem Auto zur Schule und holen sie ab. Immer weniger gehen zu Fuß oder nehmen öffentliche Verkehrsmittel, erleben kaum mehr eine schulfreie, unbeaufsichtigte Zeit. Nachmittage und Wochenende sind mit organisierten Aktivitäten (unter Aufsicht) vollgestopft. Nimmt man dem Kind den freien, unkontrollierten Raum - selbst wenn er mit Risiken verbunden ist -, so stiehlt man ihm die Kindheit, lautet die Theorie von Korczak.

Das dritte Recht lautet: "Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist". Jedes Kind sei ein einmaliges, unverwechselbares Wesen, für seine persönliche Entfaltung und individuelle Entwicklung selbst verantwortlich. Gibt man dem Kind die Möglichkeit, einen Alltags zu gestalten und zu erleben, daraus zu lernen, wird es für sich die richtigen Entscheidungen treffen. Erzieher haben die Aufgabe, Talente und Fähigkeiten zu fördern, und Kinder nicht in eine bestimmte Richtung zu drängen, sondern ihnen Mut machen, den eigenen Weg selbst zu erkennen.

Korczak lehnte allerdings den Laissez-faire-Erziehungsstil ab. Auch wenn er Kinder weitgehend selbstständig wirken ließ, schrieb er, dass es eine Missachtung der Kinder wäre, sie komplett alleine zu lassen. Sein Grundsatz: "Es geht darum, was sein kann, und nicht darum, was sein sollte."

Ghetto

Nach dem Überfall auf Polen richtete die SS ab Oktober 1940 in Warschau das Ghetto für die jüdischen Bewohner ein. Das Waisenhaus "Dom Sierot" musste dorthin umziehen. Korczak wurde verhaftet und kam nach Monaten abgemagert und gebrochen zurück. 1942 begann der planmäßige Abtransport der Ghettobewohner in verschiedene Vernichtungslager. Am Morgen des 5. August 1942 drangen Nationalsozialisten in das Haus in der Śliska-Straße, in dem die Kinder untergebracht waren.

Ein Augenzeuge, der das Ghetto überlebte, erzählte: "Korczak wollte es ihnen leichter machen. Er bat die Kinder, die beste Kleidung anzuziehen, die sie noch hatten, versprach ihnen, sie würden aufs Land fahren, ein Grund zur Freude. Endlich könnten sie die abscheulichen, stickigen Mauern gegen Wiesen eintauschen, auf denen Blumen wüchsen, gegen Bäche, in denen man würde baden können, gegen Wälder, wo es so viele Beeren und Pilze gäbe. Korczak, seine Kollegin und mehrere Soldaten begleiteten die singenden Kinder zum Bahnhof." Ende August erreichten sie Treblinka. Nicht ein einziges Kind des Waisenhauses überlebte.

Friedenspreis

Nach dem Krieg wurde in Deutschland eine Korczak-Gesellschaft gegründet. Agnieszka Maluga von der Universität Hannover und Vorsitzende der Gesellschaft: "Korczak war ein Visionär der dialogischen Gestaltung von Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen, der Kern seiner Pädagogik lasse sich auf eine einfache Formel bringen: Kinder werden nicht erst Menschen, sie sind es schon."

Ihre Kollegin Irit Wyrobnik nannte ihn einen "Wegbereiter der Kinderrechte". Korczak sei einer der ersten gewesen, die die Rechte für Kinder eingefordert hätten, und dies vor mehr als 100 Jahren, lange vor der UN-Kinderrechtskonvention von 1989, lange vor dem Bundeskinderschutzgesetz von 2012 und vor dem Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung von 2000.

Posthum erhielt Korczak 1972 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.