Wie Putin seine Armee neu baute

Russlands Militär des Jahres 2022 ist nicht mehr jenes Massenheer, das bis vor wenigen Jahren noch tief in Selbstzweifel und Korruptionssumpf steckte. Was ist das für eine Armee, die nun im Auftrag des Präsidenten die Ukraine überfiel?

von Wie Putin seine Armee neu baute © Bild: 2015 Sasha Mordovets/Getty Images

Ungefähr sieben Jahre vor der Invasion russischer Streitkräfte in der Ukraine sitzt Wladimir Wladimirowitsch Putin auf einer Ehrentribüne am Roten Platz in Moskau. Es ist der 9. Mai 2015, ein Feiertag. Zum 70. Mal jährt sich der Sieg über Nazideutschland. Putin sieht eine Parade jener Armee, die er befehligt.

Ein Jahr vorher, 2014, ließ Putin die Schwarzmeerhalbinsel Krim besetzen, unterstützte die Separatistenbewegung in der Ostukraine. Heute, an diesem sonnigen Samstag im Frühling 2015, lässt ihn der Westen deshalb mit seiner Feier allein. Während die meisten Staatsspitzen Europas und der USA das Event boykottieren, nimmt zu seiner Rechten Chinas Präsident Xi Jinping Platz. Was er zu sehen bekommt, ist eine Demonstration der Stärke. Und das Ergebnis eines jahrelangen Umbaus einer Kriegsmaschine. Ganz bewusst lässt Russland über 100 moderne Kampfjets durch den Luftraum Moskaus donnern, zeigt sie aus allen Perspektiven.

Besonders stolz ist Putin an jenem Tag auf einen Stahlkoloss namens T-14 " Armata", den modernsten Kampfpanzer der Welt. Einer Welt, die ein paar Jahre später Zeuge von Putins Überfall auf den ehemaligen Bruderstaat Ukraine wird.

Was ist geschehen, dass Russlands Militär plötzlich auf Klasse statt Masse setzt? Wie durchschlagskräftig ist Putins Streitmacht? Und vor allem: Was bedeutet das für den Krieg in der Ukraine?

Um zu verstehen, wie und warum Putin Russlands Armee von Grund auf umbaute, lohnt sich ein Rückblick in die Zeit des Mauerfalls zwischen Ost-und Westdeutschland, der letztlich in der Auflösung des Warschauer Pakts und dem Ende des Kalten Kriegs zwischen der Sowjetunion und den USA endete. Laut Geschichtsschreibung wurde Michail Gorbatschow in jenen Jahren klar, dass die UdSSR im Wettlauf mit den USA nicht mehr mitkonnte. "Er wusste, dass die Sowjetunion am Limit war und sich zu Tode rüstete", sagt der österreichische Militärhistoriker Wolfgang Etschmann. Die Zahlen dahinter erscheinen heutzutage schier unglaublich.

Mangel als Gesamtzustand

Derzeit operiert Russlands Armee mit 190.000 Soldaten in der Ukraine. Im ganzen Land sind etwa 850.000 Soldaten aktiv. Damals, zur Zeit des Mauerfalls, hielten die Land-, Luft-und Seestreitkräfte der UdSSR bei circa drei Millionen Mann unter Waffen. 400.000 davon waren allein in der "Pufferzone" zum Westen, der DDR, stationiert. 200.000 weitere in Polen, der ČSSR und Ungarn. Während die Wirtschaft am Boden lag, wandten die Sowjets Unsummen für Personal, die sündhaft teuren Nuklearstreitkräfte und die Marine auf. Zum Höhepunkt des Wettrüstens konnte die UdSSR auf ein Arsenal von 45.000 Atombomben zurückgreifen. Allein die kostenintensive U-Boot-Flotte umfasste annähernd 300 Stück.

All das konnte Moskau irgendwann nicht mehr bezahlen. "Als im Eismeer Teile der Atom-U-Boot-Flotte zu verrotten begannen, bot das Ausland sogar Hilfe an", erzählt Etschmann, der die Entwicklung der Streitkräfte seit vielen Jahren genau verfolgt. Doch die Schmach wurde noch größer. Für die Heimkehrer aus den ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten standen in Russland viel zu wenig Unterkünfte bereit. Deutschland, das Interesse an einem raschen und geordneten Abzug der Armee hatte, sprang mit Geld ein.

Doch das viele Geld reichte nicht. Geringer Sold, desolate Unterkünfte, veraltete Ausrüstung und die Erosion des ideologischen Unterbaus führten dazu, dass sich die Streitkräfte in ein Biotop der Korruption verwandelten. Eine beständig wachsende Zahl an Führungskräften bemerkte, dass sich durch den Ausverkauf von Kriegswaffen gutes Geld verdienen ließ. Unter Präsident Boris Jelzin stiegen die Oligarchen nicht nur zu dem auf, was sie heute sind, sondern versorgten mit Waffen und Munition aus den Magazinen der russischen Armee Warlords und Kriegstreiber aus der ganzen Welt. Im Hollywood-Blockbuster "Lord of War" mit Oscarpreisträger Nicolas Cage in der Hauptrolle wurde genau das zum Thema: Die Zusammenarbeit von kriminellen Armeeangehörigen mit internationalen Waffenschiebern, die sich am Eigentum einer ehemals stolzen Armee bedienten. Und dann kam der ehemalige Geheimdienst-Mann Wladimir Putin.

Im Spätsommer 1999 wird er im Alter von 46 Jahren Ministerpräsident Russlands. Und erkennt früh die Bedeutung des Militärs als Instrument politischer Machtausübung. Davon zeugt heute noch ein Video einer Rede, die er im August 1999 unmittelbar vor Beginn des zweiten Tschetschenien-Kriegs in einem Zelt hielt.

Rede mit Symbolkraft

Alle sitzen, nur Putin steht. Er hält ein Glas in der Hand und gibt einen Toast auf gefallene und verwundete Soldaten. Dann aber stellt er das Glas ab und sagt, dass man auf die Gewürdigten erst trinken werde, wenn die noch kommenden Aufgaben gelöst seien. Ein Bild mit Symbolkraft (siehe folgende Doppelseite).

Die Aufgabe, von der er spricht, ist nicht nur der Krieg in Tschetschenien. Putin startet einen Umbauprozess der maroden Streitkräfte. Zunächst klein und stückweise, dann immer schneller bis hin zu jenem Status, den wir heute beim Krieg in der Ukraine sehen. Ein Status, den einige Experten übrigens für bedeutend besser einschätzen, als er in der medialen Kriegsberichterstattung dargestellt wird. Doch dazu später mehr.

Putins Sicht der Dinge

Warum Putin Teile seines Handelns rund um die Streitkräfte und ihren fundamentalen Um-und Ausbau platziert, dafür hat Markus Reisner eine Theorie. Der gebürtiger Niederösterreicher leitet im Rang eines Oberst die Forschungs-und Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie des Bundesheers in Wiener Neustadt. Als Truppenoffizier absolvierte er mehrere Auslandseinsätze, während seiner anschließenden Forschungstätigkeit führte ihn die Arbeit mehrfach nach Moskau. Dabei hat sich Reisner einiges an Wissen über Putin, seine Streitkräfte und deren Vorgehen angeeignet. Er glaubt, dass der Umbau der Armee seinen Ursprung in einer langfristigen Strategie Putins hat.

Laut Lehrbuch beruht staatliche Machtausübung nach außen auf dem sogenannten DIME-Konzept. Die Abkürzung steht für vier Säulen: Diplomatie, Information im Sinne von Kommunikation, Militär und Wirtschaft (im Englischen Economy). "Putin erkannte früh, dass Russland in den Sphären Diplomatie und Wirtschaft nur über eingeschränkte Fähigkeiten verfügt, und hat sich wohl deshalb dafür entschieden, verstärkt auf die militärische Karte zu setzen", so Reisner.

Der Wandel

Diese Theorie lässt sich mit Fakten nachzeichnen. Und in einem einzigen Satz zusammenfassen. "Putin hat der Armee ihren Stolz zurückgegeben", sagt Oberst Reisner. Wie hat er das gemacht?

Nach dem brutalen und verlustreichen Krieg in Tschetschenien zog er Konsequenzen. Der Personalstand wurde massiv zurückgefahren. Neben der Entlassung korrupter und auf die Wehrpflichtigen übergriffiger Kader erreichte er das auch durch die Reduktion der Wehrpflicht. Anstatt drei Jahren in der Marine und zwei Jahren in den übrigen Streitkräften beträgt sie heute nur noch ein Jahr. Die Ausbildung gestaltete die neue Führung "menschlicher", Unterkünfte und Bekleidung erreichten einen akzeptablen Standard. Das hob die am Boden befindliche Moral genauso wie die Erhöhung des Soldes. Und auch die Organisationsstrukturen ließ Putin verändern.

Krieg als Training

Dennoch blieben genügend Mittel übrig, um in militärische Forschung und Entwicklung zu investieren. Uralttechnologien der Nachkriegszeit wanderten im großen Stil in Magazine und Schrottpressen. Kampfpanzer, deren Grundstrukturen eine lange Lebensdauer haben können, wurden modernisiert. Das betrifft das alte Sowjetmodell T-72 ebenso wie dessen Derivate T-80 und T-90.

Parallel dazu trieb Russland die Entwicklung moderner Präzisionsmunition voran. Gemeint sind Bomben, Raketen und Marschflugkörper, die über aufwendige Zielmechanismen verfügen. Laut der vom österreichischen Bundesheer ausgewerteten Quellen führte Russland im aktuellen Krieg in der Ukraine bis zum 7. März über 800 sogenannte "Präzisionsschläge" durch. Das seien innerhalb kürzester Zeit ein Drittel mehr, als die USA im Golfkrieg 2003 einsetzten.

Das Rüstprogramm Putins manifestierte sich auch im Umbau der Luftwaffe. Georg Mader, Experte für Militärluftfahrt, besucht für seine Recherchen seit vielen Jahren Produktionsstätten, Airshows und Fliegerstaffeln in Russland. Seiner Einschätzung nach hätten es die Streitkräfte in den vergangenen Jahren geschafft, einstrahlige Uraltjets genauso zu ersetzen wie die legendäre MiG-29, die einst sogar Österreich als "Draken"-Ersatz angeboten wurde. Gleichzeitig stellte die Luftwaffe "mehrere Hundert moderne Flieger wie Su-34 und Su-35 in Dienst", sagt Mader. Ziel der Modernisierung waren nicht nur die Jets. Kampfhubschrauber vom Typ Ka-52 "Alligator" sammelten Kriegserfahrung in Syrien und aktuell auch in der Ukraine. Für Laien mag das zynisch klingen. In der nüchternen Analyse des Kriegshandwerks durch Experten sind es jedoch gerade die im Einsatz verbrachten Stunden, die den Kampfwert einer Armee mitbestimmen. Erst im Gefecht zeigt sich nämlich, ob und wie komplexe Waffensysteme und Taktiken funktionieren.

Erprobung neuer Systeme

Deshalb nutzten Putins Generäle die offenen (Syrien) und verdeckten (Afrika) Einsätze gezielt dafür, neue Systeme zu testen. Etwa den Uran-9. Dabei handelt es sich um ein schwer bewaffnetes und gepanzertes Späh-und Gefechtsfahrzeug, das seine Missionen wie eine Drohne unbemannt durchführt. Ebenfalls in Syrien eingesetzt wurde der Kurganez-25, ein Schützenpanzer im Erprobungsstadium. Bei der Infanterie kamen motorunterstützte Exoskelette zum Einsatz, mit deren Hilfe Soldaten weiter marschieren und schwerere Lasten tragen können sollen.

Und dennoch: Die jüngste Eskalation in der Ukraine zeigte auch, dass Putins Streitkräfte auch mit erheblichen Problemen zu kämpfen haben. Dies gar nicht so sehr auf taktischer Ebene. Die bisherigen Verluste und die Verzögerungen beim Nachschub blieben für einige Experten durchaus in jenem Rahmen, der für einen Angriff wie den jetzigen üblich sei. Es ist jedoch zu beobachten, dass Russland militärische Spitzenprodukte bis heute nicht in großer Stückzahl fertigen kann. Auffällig ist das nicht nur bei Raketen und Präzisionsmunition. Dies betrifft insbesondere Systeme wie Kampfjets und Panzer. So wurde der 2015 von Putin vorgestellte T-14 "Armata" bis heute nicht in der Ukraine gesichtet. Der Grund: Die Auf-und Umrüstung der deutlich älteren T-72-, T-80-und T-90-Panzer verschlang derart viele Fertigungskapazitäten, dass das Vorzeigeprojekt bisher nicht in Serie ging. Bis heute gibt es vom T-14 nur eine Handvoll Prototypen. Doch Russlands Militär hat weitere Schwächen.

Luftfahrexperte Mader glaubt, dass einer der Gründe für den bisher sehr zurückhaltenden Einsatz moderner Kampfflugzeuge auch auf den Mangel hochentwickelter Elektronik -sprich Mikrochips - zurückzuführen ist. Auf diesem Sektor scheinen die jahrelangen Sanktionen tatsächlich militärische Wirkung zu entfalten, denn: "Bis heute", sagt Mader, "sind dort Chips verbaut, die in Taiwan oder Südkorea gefertigt und womöglich in einem anderen westlichen Land entwickelt wurden." Das führe dazu, dass Russlands Rüstungsindustrie Spitzenprodukte wie den neuen Tarnkappenjet S-75 "Checkmate" zwar der Öffentlichkeit zeige, bei deren Weiterentwicklung aber viel langsamer vorankomme, als man das in der westlichen Hemisphäre gewohnt sei.

Alte Fehler

Was bedeutet das nun für den Krieg in der Ukraine? Die meisten Experten sehen Russland militärisch eindeutig überlegen. Und dennoch: Einen entscheidenden Fehler hätte man bereits zu Beginn der Invasion begangen. "Was wir sehen, das ist eine hocheffektive Streitmacht, die von der Politik jedoch die falschen Vorgaben bekam", sagt Franz-Stefan Gady. Der gebürtige Steirer ist Analyst beim Londoner Institute for International Strategic Studies (IISS). Er benennt -aus russischer Perspektive - das Problem, dass trotz der langen Aufmarschvorbereitungen entlang der Grenze zu Belarus die Truppe selbst vom Einsatzbefehl offenbar überrascht wurde. Erst wenige Stunden vorher sei man präzise über den Plan aufgeklärt worden.

Düstere Aussichten

"Das ist ein Muster, das wir in der langen Geschichte sowjetischer und russischer Armeen schon mehrfach erlebten", sagt Gady. In den napoleonischen Kriegen und dem Krim-Krieg genauso wie in den Weltkriegen eins und zwei sowie im sowjetisch-finnischen Krieg. Der Modus Operandi sei stets der gleiche: "Die Politik bringt die Armee überraschend in eine Situation, die ihr vor allem zu Beginn Verluste und Schwierigkeiten bereitet." Gady warnt aber davor, die Fähigkeiten Russlands deshalb zu unterschätzen. Diese Armee verfüge neben modernem Gerät nämlich auch über enorme Fähigkeiten der Anpassung. "Russlands Streitkräfte lernen rascher als manch andere", sagt der Militäranalyst.

Für Armee und Bevölkerung der Ukraine bedeutet das vor allem eines: nichts Gutes.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich im News-Magazin Nr. 10/2022.